Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.86/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_86/2009

Urteil vom 30. Juni 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Eusebio,
Gerichtsschreiber Härri.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Markus Raess,

gegen

Christian Bötschi, Staatsanwalt, Staatsanwaltschaft
des Kantons Appenzell Ausserrhoden, Rathaus,
9043 Trogen,
Verhöramt des Kantons Appenzell Ausserrhoden, Rathaus, 9043 Trogen.

Gegenstand
Ausstand,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 13. März 2009 des Departements Sicherheit
und Justiz des Kantons Appenzell Ausserrhoden.
Sachverhalt:

A.
Das Kantonsgericht Appenzell Ausserrhoden verurteilte X.________ am 28. August
2006 insbesondere wegen vorsätzlicher Tötung zu 9 Jahren Zuchthaus und
widerrief den bedingten Vollzug für eine Vorstrafe von 5 Tagen Gefängnis. Es
erachtete es als erwiesen, dass X.________ am 28. Februar 2005 jemanden
erschossen hatte.

Auf Appellation von X.________ und Anschlussappellation der Staatsanwaltschaft
hin bestätigte das Obergericht des Kantons Appenzell Ausserrhoden am 10. Juli
2007 das kantonsgerichtliche Urteil im Schuldpunkt, passte die Strafe an das
neue Recht an, erhöhte diese um ein Jahr auf 10 Jahre Freiheitsstrafe und
verhängte zusätzlich eine Busse von 400 Franken.

Die von X.________ dagegen erhobene Beschwerde in Strafsachen hiess das
Bundesgericht am 14. Juli 2008 gut. Es hob den Entscheid des Obergerichts auf
und wies die Sache an dieses zurück (Urteil 6B_219/2008). Das Bundesgericht
befand, das Obergericht habe sich in willkürlicher Weise über seine in Art. 21
des Gesetzes vom 30. April 1978 des Kantons Appenzell Ausserrhoden über den
Strafprozess (Strafprozessordnung, StPO; bGS 321.1) festgelegte Pflicht zur
Erforschung der materiellen Wahrheit hinweggesetzt. Die kantonalen Behörden
hätten einen Mann, der sich bei der Polizei gemeldet und das Tatgeschehen
verfolgt habe, als Zeugen einvernehmen müssen (E. 2.5 f.).

Mit Beschluss vom 22. September 2008 wies das Obergericht die Akten zur
Durchführung eines korrekten Verfahrens und Neubeurteilung im Sinne der
Erwägungen an die Staatsanwaltschaft zurück.

B.
Am 9. März 2009 verlangte X.________ den Ausstand von Staatsanwalt Christian
Bötschi wegen Befangenheit. X.________ stützte dieses Begehren auf einen
Artikel in der Online-Ausgabe des "St. Galler Tagblatt" vom 14. Februar 2009.
Dieser trägt die Überschrift "Neue Untersuchungen in Tötungsfall" und enthält
folgende Passage:
"Staatsanwalt Christian Bötschi sagt, das Urteil liege im Ermessensspielraum
der Richter, aber an den Ergebnissen des Beweisverfahrens und am Tathergang
werde der Zeuge nichts ändern."
Mit Stellungnahme vom 11. März 2009 beantragte Staatsanwalt Bötschi die
Ablehnung des Ausstandsbegehrens.
Am 13. März 2009 wies das Departement Sicherheit und Justiz des Kantons
Appenzell Ausserrhoden (im Folgenden: Departement) das Ausstandsbegehren ab.

C.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, der Entscheid des
Departements sei aufzuheben und Staatsanwalt Bötschi als befangen zu erklären.

D.
Das Departement und Staatsanwalt Bötschi haben Vernehmlassungen eingereicht je
mit dem Antrag, die Beschwerde abzuweisen.

X.________ hat dazu Stellung genommen. Er hält an seinen Anträgen fest.

E.
Mit Verfügung vom 8. April 2009 hat der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen
Abteilung das Gesuch um Erlass einer vorsorglichen Massnahme abgewiesen.

Erwägungen:

1.
1.1 Der angefochtene Entscheid betrifft ein Strafverfahren und stützt sich auf
kantonales Strafprozessrecht. Damit ist gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG die
Beschwerde in Strafsachen gegeben.

1.2 Gemäss Art. 17 Abs. 1 Ziff. 1 i.V.m. Art. 9 und Art. 203 StPO steht kein
kantonales Rechtsmittel zur Verfügung. Die Beschwerde ist daher nach Art. 80
i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig.

1.3 Der Beschwerdeführer hat am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und ist
als Beschuldigter gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde
befugt.

1.4 Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich um einen nach Art. 92 BGG
anfechtbaren Zwischenentscheid.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer rügt (Beschwerde S. 4 ff.), die Vorinstanz habe die
Bestimmungen der Strafprozessordnung über den Ausstand willkürlich angewandt
und damit gegen Art. 9 BV verstossen. Überdies habe sie seinen Anspruch auf
unparteiische und unvoreingenommene Behandlung nach Art. 29 Abs. 1 und Art. 30
Abs. 1 BV sowie Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt.

2.2 Gemäss Art. 15 Ziff. 3 StPO kann jeder Beamte oder Richter von einem
Verfahrensbeteiligten abgelehnt werden, wenn er infolge besonderer Tatsachen
als befangen erscheint.

Nach der in Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK enthaltenen Garantie des
verfassungsmässigen Richters hat der Einzelne Anspruch darauf, dass seine Sache
von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richter ohne
Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Liegen bei objektiver
Betrachtungsweise Gegebenheiten vor, die den Anschein der Befangenheit und die
Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen, so ist die Garantie
verletzt (BGE 134 I 238 E. 2.1, mit Hinweisen).

Staatsanwalt Bötschi ist hier unstreitig nicht in richterlicher Funktion,
sondern als Ankläger tätig. Die Ausstandspflicht beurteilt sich daher nach der
Rechtsprechung gemäss Art. 29 Abs. 1 BV (BGE 127 I 196 E. 2b S. 198).

Der Gehalt von Art. 30 Abs. 1 BV darf nicht unbesehen auf nicht richterliche
Behörden bzw. auf Art. 29 Abs. 1 BV übertragen werden (BGE 127 I 196 E. 2b S.
198). Auch nach Art. 29 Abs. 1 BV gelten für einen Staatsanwalt gewisse
Mindestanforderungen an die Unabhängigkeit, die allerdings nicht so weit
reichen wie die Garantien nach Art. 30 Abs. 1 BV. Bei einem Staatsanwalt bildet
der Umstand, dass er im Prozess einen demjenigen des Angeklagten
entgegengesetzen Standpunkt einnimmt und die Beweismittel anders würdigt,
keinen Grund, der den Schluss auf Befangenheit zuliesse (BGE 112 Ia 142 E. 2d
S. 147 f.). Der Staatsanwalt ist zwar zu einer sachlichen und objektiven
Amtsführung verpflichtet. Er nimmt jedoch als Partei am Verfahren teil. Er kann
und muss damit seinen Parteistandpunkt als Ankläger vertreten. Dementsprechend
ist er in seinen Äusserungen gegenüber der Presse freier als ein Richter oder
ein Untersuchungsrichter (jedenfalls vor Abschluss der Untersuchung), die zu
strikter Unparteilichkeit verpflichtet sind (Urteil 1P.528/2002 vom 3. Februar
2003 E. 4.2).

2.3 Staatsanwalt Bötschi bringt vor, der Journalist habe seine Äusserungen
ungenau und verkürzt wiedergegeben (Vernehmlassung S. 3; Stellungnahme vom 11.
März 2009 S. 1). Er - Staatsanwalt Bötschi - habe gesagt, die bisher erhobenen
Beweise (Erkenntnisse des Instituts für Rechtsmedizin etc.) behielten ihre
Beweiskraft und entfielen unabhängig von dem, was der Zeuge aussagen werde,
nicht.

Im fraglichen Zeitungsartikel schreibt der Journalist, was Staatsanwalt Bötschi
gesagt habe. Es geht somit um eine mündliche Auskunft. Bei einer solchen kann
es leicht vorkommen, dass sie der Journalist nicht wörtlich und deshalb ungenau
oder verkürzt wiedergibt. Es erübrigt sich jedoch, ein Beweisverfahren (Art. 55
f. BGG) darüber durchzuführen, was Staatsanwalt Bötschi genau gesagt hat.
Selbst wenn er sich wörtlich so ausgedrückt haben sollte, wie es im
Zeitungsartikel steht, wäre aus den folgenden Erwägungen kein Ausstandsgrund
gegeben.

2.4 Gemäss Art. 7 Abs. 2 StPO führt das Verhöramt die Strafuntersuchung, also
nicht der Staatsanwalt. Dieser ist nach Art. 8 Abs. 3 StPO öffentlicher
Ankläger und hat damit Parteistellung. Dem ist nach der dargelegten
Rechtsprechung bei der Beurteilung der Ausstandsfrage Rechnung zu tragen.

Als öffentlicher Ankläger durfte und musste sich Staatsanwalt Bötschi Gedanken
darüber machen, wie die Beweise aus seiner Sicht zu würdigen seien. Nach dem
Zeitungsartikel sagte er, an den Ergebnissen des Beweisverfahrens und am
Tathergang werde der Zeuge - der einen Tag nach der Tat polizeilich befragt
worden war - nichts ändern. Darin liegt eine antizipierte Beweiswürdigung.
Diese stellt keinen Ausstandsgrund dar. Wie dargelegt, ist nach der
Rechtsprechung nicht auf Befangenheit zu schliessen, wenn der Staatsanwalt
einen vom Angeklagten abweichenden Standpunkt einnimmt und die Beweise anders
würdigt als dieser. Nach dem Zeitungsartikel äusserte Staatsanwalt Bötschi im
Übrigen seine persönliche Erwartung vor der Zeugeneinvernahme. Dass er auch
dann nicht gewillt wäre, auf seine Position zurückzukommen, falls sich aufgrund
der Zeugeneinvernahme neue, unvorhergesehene Gesichtspunkte ergäben, sagte
Staatsanwalt Bötschi nicht.

Wesentlich ist sodann Folgendes: Wie sich aus dem Urteil des Bundesgerichts vom
14. Juli 2008 ergibt (S. 5 f. E. 2.6), belastete der Augenzeuge bei der
polizeilichen Befragung den Beschwerdeführer stärker, als das Obergericht in
der Folge annahm. Staatsanwalt Bötschi legte in der Vernehmlassung des
damaligen bundesgerichtlichen Verfahrens denn auch dar, der Augenzeuge belaste
den Beschwerdeführer schwer. Ging somit Staatsanwalt Bötschi (nachvollziehbar)
davon aus, beim Augenzeugen handle es sich um einen Belastungszeugen, wirkte es
sich zugunsten des Beschwerdeführers aus, wenn Staatsanwalt Bötschi gesagt
haben sollte, die Einvernahme des Augenzeugen werde am Beweisergebnis nichts
ändern. Damit hätte Staatsanwalt Bötschi zum Ausdruck gebracht, dass es nach
seiner Auffassung bei der für den Beschwerdeführer günstigeren
obergerichtlichen Sachverhaltsannahme bleiben und der Beschwerdeführer nicht
schwerer belastet werde. Ging demnach die im Zeitungsartikel wiedergegebene
Aussage von Staatsanwalt Bötschi gar nicht zulasten des Beschwerdeführers,
hatte die Vorinstanz erst recht keinen Anlass, dessen Ausstandsbegehren
stattzugeben. Die Vorinstanz legt das (angefochtener Entscheid S. 3 E. 2.c)
zutreffend dar.

3.
Die Beschwerde ist danach abzuweisen.

Da sie aussichtslos war, kann die unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung gemäss Art. 64 BGG nicht bewilligt werden.

Der Beschwerdeführer befindet sich seit über vier Jahren in Untersuchungshaft
bzw. im vorzeitigen Strafvollzug. Von seiner Bedürftigkeit ist deshalb
auszugehen. Mit Blick darauf wird auf die Erhebung von Kosten verzichtet (Art.
66 Abs. 1 Satz 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, Staatsanwalt Bötschi, dem Verhöramt
des Kantons Appenzell Ausserrhoden und dem Departement Sicherheit und Justiz
des Kantons Appenzell Ausserrhoden schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 30. Juni 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Härri