Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.382/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_382/2009

Urteil vom 12. Januar 2010
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Eusebio,
Gerichtsschreiber Störi.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Eduard Müller,

gegen

Untersuchungsrichteramt IV Berner Oberland, Untersuchungsrichter 4,
Scheibenstrasse 11,
3600 Thun,
Prokurator der Staatsanwaltschaft IV Berner Oberland, Scheibenstrasse 11, 3600
Thun.

Gegenstand
Haftentlassung,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 8. Dezember 2009 des Haftgerichts IV Berner
Oberland, Haftrichter 1.
Sachverhalt:

A.
Der Untersuchungsrichter 4 des Untersuchungsrichteramtes IV Berner Oberland
liess X.________ am 12. November 2009 verhaften. Er verdächtigt ihn, im Herbst
2008 an den Brüdern A.C.________ (Jg. 1997) und B.C.________ (Jg. 1998) an
deren Wohnort in D.________ mehrfach sexuelle Handlungen vollzogen zu haben.
Der Haftrichter 1 des Haftgerichts IV Berner Oberland versetzte X.________ am
16. November 2009 in Untersuchungshaft.
Am 26. November 2009 stellte X.________ ein Haftentlassungsgesuch. Es bestehe
weder dringender Tatverdacht noch Fluchtgefahr.
Der Haftrichter 1 des Haftgerichts IV Berner Oberland wies das
Haftentlassungsgesuch am 8. Dezember 2009 ab.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, diesen Haftrichterentscheid
aufzuheben und ihn sofort aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Eventuell sei
er unter Anordnung einer angemessenen Ersatz- bzw. Sicherungsmassnahme aus der
Haft zu entlassen, oder die Sache sei zur Neubeurteilung an den Haftrichter
zurückzuweisen. Ausserdem ersucht X.________ um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung.

C.
Der Haftrichter, der Prokurator der Staatsanwaltschaft und der
Untersuchungsrichter verzichten auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in Strafsachen nach den Art. 78 ff. BGG ist gegeben. Der Antrag
auf Aufhebung des angefochtenen Entscheids und Haftentlassung ist zulässig (BGE
132 I 21 E. 1). Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen
Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde eingetreten werden kann, soweit
sie in einer den gesetzlichen Anforderungen genügenden Weise (BGE 134 II 244 E.
2; 133 IV 286 E. 1.4) in der Beschwerdeschrift selber (Art. 42 Abs. 2 BGG;
Urteile 4A_56/2009 vom 11. August 2009 E. 4.1; 6B_975/2008 vom 4. Juni 2009 E.
1.4; 5A_39/2009 vom 17. April 2009, nicht veröffentlichte E. 1.3; zur
Verfassungsbeschwerde: BGE 133 II 396 E. 3.2) begründet ist. Dies ist nicht der
Fall, soweit der Beschwerdeführer den dringenden Tatverdacht bestreitet und
dies allein durch Verweise auf sein Haftentlassungsgesuch und seine
Vernehmlassung im Haftentlassungsverfahren begründet. In der Beschwerdeschrift
führt er dazu lediglich aus, die Ausführungen des Haftgerichts und des
Untersuchungsrichters würden bestritten, soweit er ihnen nicht ausdrücklich
zugestimmt habe. Eine Auseinandersetzung mit den Gründen, die den Haftrichter
zur Bejahung des dringenden Tatverdachts geführt haben, fehlt gänzlich. Die
Bestreitung des dringenden Tatverdachts ist damit unbeachtlich.

2.
Untersuchungshaft kann im Kanton Bern nach Art. 176 Abs. 2 des Gesetzes über
das Strafverfahren vom 15. März 1995 (StrV) unter anderem angeordnet werden,
wenn der Beschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist
und Fluchtgefahr besteht. Liegt ausser dem allgemeinen Haftgrund des dringenden
Tatverdachts Fluchtgefahr vor, steht einer Inhaftierung auch unter dem
Gesichtspunkt der persönlichen Freiheit von Art. 10 Abs. 2 BV grundsätzlich
nichts entgegen. Nach den oben stehenden Ausführungen ist einzig zu prüfen, ob
Fluchtgefahr besteht, die nur durch Untersuchungshaft und nicht durch eine
mildere Ersatzmassnahme gebannt werden kann.

2.1 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts genügt die Höhe der zu
erwartenden Freiheitsstrafe für sich allein nicht für die Annahme von
Fluchtgefahr. Eine solche darf nicht schon angenommen werden, wenn die
Möglichkeit der Flucht in abstrakter Weise besteht. Vielmehr müssen konkrete
Gründe dargetan werden, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als
wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe
kann immer nur neben anderen, eine Flucht begünstigende Tatsachen herangezogen
werden (BGE 125 I 60 E. 3a; 117 Ia 69 E. 4a; 108 Ia 64 E. 3; 107 Ia 3 E. 6).
Die Möglichkeit, dass die drohende Strafe bedingt ausgesprochen werden könnte,
ist bei der Beurteilung der Untersuchungshaft auf ihre Verhältnismässigkeit hin
grundsätzlich nicht zu berücksichtigen (BGE 133 I 270 E. 3.4.2; 125 I 60 E. 3d;
124 I 208 E. 6).

2.2 Der Haftrichter hat im angefochtenen Entscheid nicht verkannt, dass der
Beschwerdeführer offenbar regelmässig als Seelsorger in der Schweiz tätig ist
und der mit ihm freundschaftlich verbundene, im Kanton Solothurn wohnhafte
E.F.________ bereit wäre, ihm bei sich Kost und Logis zu gewähren. Er
bezweifelt indessen, dass zwischen E.F.________ und dem Beschwerdeführer eine
"familienähnliche Beziehung" besteht und ist angesichts der weiteren Umstände -
der Beschwerdeführer habe keinen Wohnsitz in der Schweiz, es drohe ihm
insbesondere wegen seiner einschlägigen Vorstrafe eine empfindliche, unbedingte
Freiheitsstrafe, und seine in Berlin wohnenden, gebrechlichen Eltern seien auf
ihn angewiesen - zum Schluss gekommen, dass Fluchtgefahr besteht.

2.3 Der Beschwerdeführer wirft dem Haftgericht vor, die verfassungsmässige
Begründungspflicht (Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK) verletzt zu
haben, weil es sich darauf beschränkt habe, seine Vorbringen in Zweifel zu
ziehen, anstatt auf seine von Beweismitteln untermauerte Argumentation
einzugehen. Sein Antrag in der Eingabe vom 4. Dezember 2009 sei weder materiell
berücksichtigt noch formell behandelt worden. Mit seinen Ausführungen, er könne
jederzeit in der Schweiz bei Herrn E.F.________ Wohnsitz nehmen und für die
Dauer des Prozesses dort bleiben, habe sich das Haftgericht nicht
auseinandergesetzt.
Bereits aus den Ausführungen des Beschwerdeführers selber ergibt sich indessen,
dass sich das Haftgericht durchaus mit seinen Vorbringen auseinandersetzte, nur
nicht in der von ihnen gewünschten Weise. In seiner Eingabe vom 4. Dezember
2009 stellte er "für den Fall, dass das Haftgericht Fragen betreffend
Aufenthalt bei Herrn E.F.________ bzw. betreffend Sicherheitsleistung,
Electronic Monitoring usw." habe, den Antrag, ihm Zeit für eine ergänzende
Eingabe zu geben. Da das Haftgericht offensichtlich keine derartigen Fragen
hatte, konnte es ohne Verfassungsverletzung stillschweigend über diesen Antrag
hinweggehen. Ob die Erwägungen des Haftgerichts zur Fluchtgefahr zutreffen oder
nicht, ist eine Frage der materiellen Beurteilung, nicht des rechtlichen
Gehörs. Die Gehörsverweigerungsrüge ist unbegründet.

2.4 In materieller Hinsicht konnte das Haftgericht ohne Verfassungsverletzung
Fluchtgefahr bejahen. Der einschlägig vorbestrafte Beschwerdeführer hat für den
Fall einer Verurteilung mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen,
wobei es unerheblich ist, ob diese ganz oder teilweise bedingt auszufällen wäre
(oben E. 2.1 letzter Satz). Er ist nach eigenen Angaben sporadisch als
Seelsorger bzw. Priester tätig, wobei er kein Einkommen erziele, aber manchmal
Spenden erhalte. Er halte sich eine Woche pro Monat in der Schweiz auf, wobei
er bei der Familie F.________ in Erschwil wohne. Verwandte habe er nicht in der
Schweiz. Seinen Wohnsitz hat der Beschwerdeführer bei seinen Eltern in Berlin,
welche nach seinen eigenen Angaben gebrechlich sind und seine Hilfe benötigen.
Die Bindungen des Beschwerdeführer an die Schweiz erscheinen nach der
zutreffenden Einschätzung des Haftgerichts als zu schwach, um Gewähr zu bieten,
dass er sich dem Zugriff der schweizerischen Behörden nicht durch eine Flucht
nach Deutschland entziehen und so die Strafverfolgung zumindest erschweren
könnte. Daran würde sich nichts ändern, wenn er in der Schweiz Wohnsitz nähme.
Die Frage, ob er dies überhaupt könnte, ist unter diesen Umständen müssig.

2.5 Nicht zu beanstanden ist auch die Auffassung des Haftgerichts, mildere
Ersatzmassnahmen seien nicht geeignet, eine allfällige Flucht des
Beschwerdeführers wirksam zu verhindern. Mit einer sogenannten elektronischen
Fussfessel könnte nach der unbestrittenen Feststellung des Haftgerichts nur
sichergestellt werden, dass beim Verlassen des Wohnortes ein Alarm ausgelöst
würde, eine Ortung des Flüchtenden wäre nicht möglich. Eine elektronische
Fussfessel wäre somit kein geeignetes Mittel, den Beschwerdeführer an einer
Flucht nach Deutschland zu hindern, zumal der von ihm vorgesehene Wohnsitz in
Erschwil nur wenige Kilometer bzw. Autominuten von der deutschen Grenze
entfernt liegt.
Der Beschwerdeführer verfügt weder über ein regelmässiges Einkommen noch
nennenswertes Vermögen. Insofern erscheint die Einschätzung des Haftgerichts,
der Verlust einer von seinen Eltern gestellten Kaution könnte ihn nicht von
einer Flucht abhalten, ohne Weiteres nachvollziehbar. Es konnte unter diesen
Umständen ohne Verfassungsverletzung auf die Abnahme von Beweismitteln zu den
Vermögensverhältnissen der Eltern verzichten. Die Untersuchungshaft ist damit
auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit nicht zu beanstanden.

3.
Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem
Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art. 66 Abs. 1
BGG). Er hat zwar ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung
gestellt, welches indessen abzuweisen ist, da die Beschwerde aussichtslos war
(Art. 64 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
2.1 Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird
abgewiesen.

2.2 Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Untersuchungsrichteramt IV Berner
Oberland, Untersuchungsrichter 4, sowie dem Prokurator der Staatsanwaltschaft
IV Berner Oberland und dem Haftgericht IV Berner Oberland, Haftrichter 1,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 12. Januar 2010
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Störi