Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.372/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_372/2009

Urteil vom 12. Januar 2010
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Raselli,
Gerichtsschreiber Dold.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Martin Tobler,

gegen

Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Gewaltdelikte, Molkenstrasse 15/17,
Postfach,
8026 Zürich.

Gegenstand
Sicherheitshaft,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 2. Dezember 2009 des Geschworenengerichts
des Kantons Zürich, Präsident.
Sachverhalt:

A.
Das Geschworenengericht des Kantons Zürich verurteilte X.________ am 2.
Dezember 2009 wegen versuchter schwerer Körperverletzung (Art. 122 Abs. 3
i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB), mehrfachen gewerbsmässigen Betrugs (Art. 146 Abs.
1 i.V.m. Abs. 2 StGB), Sachbeschädigung (Art. 144 Abs. 1 StGB), Vergehen gegen
das Waffengesetz (Art. 33 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 4 Abs. 1 lit. a und Art. 27
des Bundesgesetzes vom 20. Juni 1997 über Waffen, Waffenzubehör und Munition
[WG; SR 514.54]) sowie Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz (Art. 19 Ziff.
1 Abs. 5 BetmG; SR 812.121) zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren und 3 Monaten
unter Anrechnung von 936 Tagen Polizeiverhaft, Untersuchungshaft und
Sicherheitshaft. Mit Verfügung desselben Datums ordnete der Präsident des
Geschworenengerichts an, X.________ habe in Sicherheitshaft zu bleiben. Am 10.
Dezember 2009 versah der Präsident des Geschworenengerichts die Verfügung mit
einer Begründung.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht vom 18. Dezember 2009
beantragt X.________, die Verfügung des Präsidenten des Geschworenengerichts
sei aufzuheben und er selbst sei unverzüglich aus der Sicherheitshaft zu
entlassen. Eventualiter sei die Angelegenheit zur Prüfung von Ersatzmassnahmen
im Sinne von §§ 72 ff. der Strafprozessordnung des Kantons Zürich vom 4. Mai
1919 (StPO/ZH; LS 321) an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Der Präsident des Geschworenengerichts verzichtete auf eine Vernehmlassung. Die
Staatsanwaltschaft beantragt die Abweisung der Beschwerde. Der Beschwerdeführer
hält in seiner Stellungnahme dazu im Wesentlichen an seinen Anträgen und
Rechtsauffassungen fest.

Erwägungen:

1.
Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen
Entscheide in Strafsachen. Ein kantonales Rechtsmittel gegen den angefochtenen
Entscheid steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach Art. 80 i.V.m.
Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer nahm vor der Vorinstanz am
Verfahren teil und hat ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des
angefochtenen Entscheids. Er ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde
berechtigt. Das Bundesgericht kann nach Art. 107 Abs. 2 BGG bei Gutheissung der
Beschwerde in der Sache selbst entscheiden. Deshalb ist der Antrag auf
Haftentlassung zulässig. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt
sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.

2.
2.1 Die Sicherheitshaft schränkt die persönliche Freiheit des Beschwerdeführers
ein (Art. 10 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 BV, Art. 5 EMRK). Eine Einschränkung dieses
Grundrechts ist zulässig, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, im
öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist; zudem darf sie den
Kerngehalt des Grundrechts nicht beeinträchtigen (Art. 36 BV). Im vorliegenden
Fall steht ein Freiheitsentzug und damit eine schwerwiegende Einschränkung der
persönlichen Freiheit in Frage. Es bedarf deshalb sowohl nach Art. 36 Abs. 1
Satz 2 BV als auch nach Art. 31 Abs. 1 BV einer Grundlage im Gesetz selbst.
Bei Beschwerden, die gestützt auf das Recht der persönlichen Freiheit wegen der
Anordnung von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft erhoben werden, prüft das
Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs die Auslegung und
Anwendung des kantonalen Prozessrechts frei. Soweit jedoch reine
Sachverhaltsfragen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind,
greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der
Vorinstanz offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im
Sinne von Art. 95 BGG beruhen (Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE
135 I 71 E. 2.5 S. 73 f. mit Hinweis).
Für die Anordnung bzw. Fortsetzung von Sicherheitshaft ist nach zürcherischem
Strafprozessrecht erforderlich, dass der Angeschuldigte eines Verbrechens oder
Vergehens dringend verdächtigt wird und ausserdem ein besonderer Haftgrund
vorliegt (§ 67 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 58 Abs. 1 StPO/ZH). Die Untersuchungshaft
ist durch mildere Massnahmen zu ersetzen, sofern sich der Haftzweck auch auf
diese Weise erreichen lässt (§ 58 Abs. 4 i.V.m. § 72 f. StPO/ZH).
2.2
2.2.1 Die Vorinstanz begründet die Fortsetzung der Sicherheitshaft mit dem
besonderen Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 58 Abs. 1 Ziff. 1 StPO/ZH). Sie
verweist in erster Linie auf sicherlich enge, aber nach wie vor undurchsichtige
Beziehungen des Beschwerdeführers zu Ungarn. Die Ehefrau und die Freundin des
Beschwerdeführers seien ungarische Staatsangehörige. Er selbst habe früher das
Land häufig besucht und die Absicht geäussert, nach Erhalt der IV-Rente dort zu
leben. Nach wie vor pflege er ein undurchsichtiges Verhältnis zu seiner in
Ungarn lebenden Ehefrau. Deren Aufenthaltsort sei ihm angeblich während der
Untersuchung nicht bekannt gewesen, doch habe er plötzlich eine Adresse in
Budapest ausfindig machen können. Zudem beabsichtige die Staatsanwaltschaft die
Anfechtung des Urteils des Geschworenengerichts. Dem Beschwerdeführer drohe
deshalb nach wie vor eine Verurteilung wegen versuchter vorsätzlicher Tötung
mit entsprechend hohem Strafmass.
2.2.2 Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen von Fluchtgefahr. Aufgrund
der bereits erstandenen Haft und der Möglichkeit der bedingten Entlassung habe
er eine Reststrafe von lediglich 18 Monaten und ein paar Tagen zu erwarten. Er
habe gegen das Urteil des Geschworenengerichts ein Rechtsmittel ergriffen und
mache sich berechtigte Hoffnungen auf ein milderes Urteil. Es gelte auch zu
verhindern, dass durch eine weitere Inhaftierung das Rechtsmittelverfahren
präjudiziert werde.
Wie er bereits zum Ausdruck gebracht habe, möchte er in der Schweiz mit seiner
Freundin eine Familie gründen. Anderslautende Aussagen, welche Jahre zurück
lägen, träfen nicht mehr zu. Seine Freundin habe vor Geschworenengericht
ausgesagt, dass sie seit längerem daran sei, sich mit einem Nagelstudio eine
Existenz aufzubauen, was zeige, dass sie ebenfalls in der Schweiz bleiben
wolle. Zu seiner Ehefrau habe er dagegen keine Beziehung mehr. Sie habe seit
seiner Inhaftierung weder geschrieben noch ihn besucht und habe zudem ein
mittlerweile 3-jähriges Kind von einem anderen Mann. Nur weil sein
Rechtsvertreter mit Hilfe der in den Akten befindlichen Adresse ihrer Eltern
nach ihr geforscht habe, kenne er nun auch ihre aktuelle Adresse. Er selbst
habe in Ungarn kein gesichertes Aufenthaltsrecht und spreche auch kein
Ungarisch. Überhaupt verfüge er über kein Beziehungsnetz im Ausland. Er sei
Schweizer Bürger und habe immer in der Schweiz gelebt. Zu seiner Mutter und
seiner Schwester habe er dagegen eine enge Beziehung, wie die häufigen Besuche
und der intensive Briefverkehr zeigten. Beide seien - wie auch seine Freundin -
in der Schweiz beruflich und sozial fest verankert.
Die IV-Rente und die Ergänzungsleistungen, welche er erhalte, sprächen
ebenfalls gegen Fluchtgefahr. In den letzten Jahren habe er für seinen
Lebensunterhalt nicht selber aufkommen können und über eigene Ersparnisse
verfüge er nicht. Vor Geschworenengericht habe er anhand einer Bestätigung
darlegen können, dass er im Falle einer Haftentlassung bei der Firma Y.________
eine Teilzeitstelle antreten könne.
2.2.3 Die Staatsanwaltschaft hält dem in ihrer Vernehmlassung entgegen, der
Beschwerdeführer habe gemäss seinen eigenen Angaben und denjenigen seiner
Partnerin bereits konkrete Vorkehrungen getroffen, um in Ungarn eine
Liegenschaft zu erwerben, welche die Basis für eine neue Zukunft in Ungarn
bilden solle. Er sei hoffnungslos überschuldet und es sei davon auszugehen,
dass er auch flüchten würde, um sich seinen Schulden zu entziehen. Seine
Freundin habe an der Hauptverhandlung vor dem Geschworenengericht ausgeführt,
innert recht kurzer Zeit im Ausland als Tänzerin rund Fr. 100'000.-- verdient
zu haben, während sie in der Schweiz lediglich ein unbedeutendes Einkommen
erzielen konnte. Die IV-Rente, welche der Beschwerdeführer beziehe, sei
unbedeutend und es sei ungewiss, ob er sie überhaupt künftig noch erhalten
werde. Der Fluchtgefahr könne schliesslich mit Ersatzmassnahmen nicht begegnet
werden.
2.2.4 Der Beschwerdeführer wurde erstinstanzlich zu einer Freiheitsstrafe von 6
Jahren und 3 Monaten verurteilt. Auf dieses Urteil ist grundsätzlich
abzustellen. Auch im Falle einer bedingten Entlassung hat der Beschwerdeführer
mit einer Reststrafe von etwa eineinhalb Jahren Freiheitsentzug zu rechnen.
Dies stellt durchaus einen Anreiz zur Flucht dar. Von einer grossen zeitlichen
Nähe der zu erwartenden Freiheitsstrafe und damit einer möglichen
Präjudizierung des Rechtsmittelverfahrens ist entgegen der Ansicht des
Beschwerdeführers nicht auszugehen (BGE 133 I 168 E. 4.1 S. 170, 270 E. 3.4.2
S. 281; je mit Hinweisen). Im Rahmen der Beurteilung der Fluchtgefahr ist zudem
nicht ausser Acht zu lassen, dass die Staatsanwaltschaft beabsichtigt, im
Rechtsmittelverfahren einen Antrag auf 11 Jahre Freiheitsstrafe zu stellen
(vgl. das Urteil 1B_51/2008 vom 19. März 2008 E. 5, wo das Bundesgericht die
Fluchtgefahr verneinte und erwog, dass dem Beschwerdeführer nur noch einige
Monate Freiheitsentzug verblieben, selbst wenn die Strafe gemäss dem Antrag der
Staatsanwaltschaft um ein Jahr verlängert würde).
Die wirtschaftlichen Folgen einer möglichen Flucht erscheinen nicht als
eindeutig. Auf der einen Seite stellen die vom Beschwerdeführer geltend
gemachten Sozialversicherungsleistungen einen gewissen Anreiz dar, nicht zu
fliehen. Die Aussage der Staatsanwaltschaft, die IV-Rente werde ihres Wissens
gerichtlich überprüft, stützt sich dagegen nicht auf die Akten. Ihre Vermutung
wird vom Beschwerdeführer denn auch als falsch bezeichnet. Auf der anderen
Seite ist der Beschwerdeführer gemäss den unbestritten gebliebenen Angaben der
Staatsanwaltschaft stark überschuldet. Durch eine Flucht könnte er sich seinen
Gläubigern entziehen. Trotz der im bundesgerichtlichen Verfahren eingereichten
Bestätigung, welche dem Beschwerdeführer eine Teilzeitarbeitsstelle (ca. 40 %
zu einem Bruttolohn von Fr. 1'300.--, exkl. Verkaufsprovisionen) in Aussicht
stellt, scheint seine berufliche Zukunft in der Schweiz ähnlich wie im Ausland
unsicher. Laut der Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft soll zudem seine
Freundin lediglich ein unbedeutendes Einkommen erzielen, was der
Beschwerdeführer nicht in Abrede stellt.
Gegen eine Fluchtgefahr sprechen die schweizerische Staatsbürgerschaft des
Beschwerdeführers und seine unbestritten engen Beziehungen zu Mutter und
Schwester. Insgesamt überwiegen jedoch aufgrund der zu erwartenden
Freiheitsstrafe und den wirtschaftlichen Verhältnissen des Beschwerdeführers
die Indizien, welche auf eine Fluchtgefahr hindeuten.
2.3
2.3.1 Der Beschwerdeführer rügt weiter, der Haftrichter habe keine
Ersatzmassnahmen für die Haft angeordnet.
2.3.2 Die Haft als Eingriff in die persönliche Freiheit darf nur als "ultima
ratio" angeordnet oder aufrecht erhalten werden. Wo sie durch mildere
Massnahmen ersetzt werden kann, muss von der Anordnung oder Fortdauer der Haft
abgesehen und an ihrer Stelle eine dieser Ersatzmassnahmen verfügt werden (BGE
135 I 71 E. 2.3 S. 73 mit Hinweisen). Dementsprechend wird gemäss § 58 Abs. 4
StPO/ZH die Haft durch Massnahmen nach §§ 72-73 StPO/ZH ersetzt, wenn und
solange sich der Haftzweck auch auf diese Weise erreichen lässt. Der
Haftrichter hat grundsätzlich von Amtes wegen zu prüfen, ob eine Entlassung aus
der strafprozessualen Haft gestützt auf ausreichende Ersatzmassnahmen möglich
bzw. geboten erscheint (BGE 133 I 27 E. 3.2 S. 30 mit Hinweis, 270 E. 3.3 S.
279 f.).
Der Haftrichter hat die Frage von allfälligen Ersatzmassnahmen im
Haftanordnungsentscheid nicht geprüft. Dies scheint umso weniger verständlich,
als die Fluchtgefahr nach dem Gesagten im vorliegenden Fall nicht mehr gross
ist. Diese Prüfung ist Aufgabe der kantonalen Strafjustiz und kann nicht an das
Bundesgericht delegiert werden (BGE 133 I 270 E. 3.5.1 S. 283 mit Hinweisen).

3.
Zusammenfassend ergibt sich, dass der angefochtene Entscheid die persönliche
Freiheit des Beschwerdeführers verletzt. Die Beschwerde ist deshalb teilweise
gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Angelegenheit zur
Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen (vgl. BGE 133 I 270 E. 4 S.
285). Eine sofortige Haftentlassung durch das Bundesgericht (gestützt auf Art.
107 Abs. 2 BGG) ist jedoch nicht anzuordnen.
Gerichtskosten sind bei diesem Verfahrensausgang nicht zu erheben (Art. 66 Abs.
1 und 4 BGG). Der Kanton Zürich hat dem anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer
eine angemessene Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 2 BGG). Damit
erweist sich dessen Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege als gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und die Präsidialverfügung vom 2.
Dezember 2009 des Geschworenengerichts des Kantons Zürich aufgehoben. Die Sache
wird zur neuen Beurteilung im Sinne der Erwägungen an den Haftrichter
zurückgewiesen.

2.
Das Haftentlassungsgesuch wird abgewiesen.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.
Der Kanton Zürich hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren
mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft IV und dem
Geschworenengericht des Kantons Zürich, Präsident, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 12. Januar 2010
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Dold