Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.298/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_298/2009

Urteil vom 5. November 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Raselli,
Gerichtsschreiber Dold.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Jean-Christophe
Schai,

gegen

Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Gewaltdelikte, Molkenstrasse 15/17,
Postfach,
8026 Zürich.

Gegenstand
Haftentlassung/Fortsetzung Untersuchungshaft,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 23. September 2009 des Bezirksgerichts
Zürich, Haftrichter.
Sachverhalt:

A.
X.________ wurde am 18. Juni 2009 von der Kantonspolizei Zürich festgenommen
und mit Verfügung vom 19. Juni 2009 des Haftrichters des Bezirksgerichts Zürich
in Untersuchungshaft gesetzt. Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich
verdächtigt X.________ der schweren Körperverletzung (Art. 122 StGB). Sie wirft
ihm vor, am 17. Juni 2009 im Hauptbahnhof Zürich versucht zu haben, Y.________
in den Kopf zu treten, während sein Bruder diesen festhielt. X.________ habe
Y.________ in der Folge seinerseits festgehalten und zweimal mit dem Fuss in
Richtung von dessen Kopf getreten, jedoch ohne zu treffen. Gleichzeitig habe
sein Bruder zweimal mit einem ca. 4.3 kg schweren Eisenrohr auf Y.________
eingeschlagen und ihn dabei einmal in der Nähe des Kopfes und einmal im Bereich
von Nacken und Schulter getroffen.
Mit Eingabe vom 16. September 2009 beantragte die Staatsanwaltschaft die
Fortsetzung der Untersuchungshaft. Der Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich
folgte dem Antrag und verfügte am 23. September 2009, die Untersuchungshaft sei
bis zum 19. Dezember 2009 fortzusetzen. Zur Begründung führte er an, es bestehe
neben dringendem Tatverdacht sowohl Kollusions- als auch Wiederholungsgefahr im
Sinne von § 58 Abs. 1 Ziff. 2 und 3 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich
vom 4. Mai 1919 (StPO/ZH; LS 321).

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht vom 15. Oktober 2009
beantragt X.________ im Wesentlichen, die Verfügung des Haftrichters vom 23.
September 2009 sei aufzuheben und er selbst sei aus der Haft zu entlassen. Er
bestreitet den dringenden Tatverdacht der Körperverletzung wie auch das
Vorliegen von Kollusions- und Wiederholungsgefahr.
Der Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Die Staatsanwaltschaft schliesst in ihrer Stellungnahme auf Abweisung der
Beschwerde. Sie legt dar, neben dem Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäss §
58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH sei auch jener der qualifizierten Wiederholungsgefahr
gemäss Ziff. 4 dieser Bestimmung gegeben. Der Beschwerdeführer hält in seiner
Stellungnahme dazu an seinen Anträgen und Rechtsauffassungen fest. Er hält das
Abstellen auf den Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr für
verfahrensrechtlich unzulässig und inhaltlich verfehlt.
Erwägungen:

1.
Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen
Entscheide in Strafsachen. Ein kantonales Rechtsmittel gegen den angefochtenen
Entscheid steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach Art. 80 i.V.m.
Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer nahm vor der Vorinstanz am
Verfahren teil und hat ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des
angefochtenen Entscheids. Er ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde
berechtigt. Das Bundesgericht kann nach Art. 107 Abs. 2 BGG bei Gutheissung der
Beschwerde in der Sache selbst entscheiden. Deshalb ist der Antrag auf
Haftentlassung zulässig. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt
sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.

2.
2.1 Die Untersuchungshaft schränkt die persönliche Freiheit des
Beschwerdeführers ein (Art. 10 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 BV, Art. 5 EMRK). Eine
Einschränkung dieses Grundrechts ist zulässig, wenn sie auf einer gesetzlichen
Grundlage beruht, im öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist;
zudem darf sie den Kerngehalt des Grundrechts nicht beeinträchtigen (Art. 36
BV). Im vorliegenden Fall steht ein Freiheitsentzug und damit eine
schwerwiegende Einschränkung der persönlichen Freiheit in Frage. Es bedarf
deshalb sowohl nach Art. 36 Abs. 1 Satz 2 BV als auch nach Art. 31 Abs. 1 BV
einer Grundlage im Gesetz selbst.
Bei Beschwerden, die gestützt auf das Recht der persönlichen Freiheit wegen der
Ablehnung eines Haftentlassungsgesuchs erhoben werden, prüft das Bundesgericht
im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs die Auslegung und Anwendung des
kantonalen Prozessrechts frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfragen und damit
Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur
ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz offensichtlich
unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen
(Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 135 I 71 E. 2.5 S. 73 f. mit
Hinweis).
Die Untersuchungshaft darf nach Zürcher Strafprozessrecht nur angeordnet bzw.
fortgesetzt werden, wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens
dringend verdächtigt wird und ausserdem ein besonderer Haftgrund vorliegt (§ 58
Abs. 1 StPO/ZH). Der Beschwerdeführer bestreitet sowohl den dringenden
Tatverdacht wie auch das Vorliegen eines besonderen Haftgrunds.
2.2
2.2.1 Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, von einem dringenden Tatverdacht
könne allenfalls in Bezug auf eine Tätlichkeit (Art. 126 StGB) gesprochen
werden, keinesfalls aber in Bezug auf eine schwere Körperverletzung. Es könne
ausgeschlossen werden, dass der Geschädigte schwer verletzt worden wäre, selbst
wenn ihn der Fusstritt am Kopf getroffen hätte. Dafür sei der Tritt viel zu
dilettantisch gewesen. Zudem treffe nicht zu, dass er den Geschädigten
festgehalten habe, während sein Bruder diesen mit einer Eisenstange schlug.
2.2.2 Im Gegensatz zum erkennenden Sachrichter hat das Bundesgericht bei der
Überprüfung des allgemeinen Haftgrunds des dringenden Tatverdachts keine
erschöpfende Abwägung sämtlicher belastender und entlastender Beweisergebnisse
vorzunehmen. Macht ein Inhaftierter geltend, er befinde sich ohne ausreichenden
Tatverdacht in strafprozessualer Haft, ist vielmehr zu prüfen, ob aufgrund der
bisherigen Untersuchungsergebnisse genügend konkrete Anhaltspunkte für eine
Straftat und eine Beteiligung des Beschwerdeführers an dieser Tat vorliegen,
die Justizbehörden somit das Bestehen eines dringenden Tatverdachts mit
vertretbaren Gründen bejahen durften. Im Haftprüfungsverfahren genügt dabei der
Nachweis von konkreten Verdachtsmomenten, wonach das inkriminierte Verhalten
mit erheblicher Wahrscheinlichkeit die fraglichen Tatbestandsmerkmale erfüllen
könnte (vgl. BGE 116 Ia 143 E. 3c S. 146). Das Beschleunigungsgebot in
Haftsachen lässt dabei nur wenig Raum für ausgedehnte Beweismassnahmen. Zur
Frage des dringenden Tatverdachts hat der Haftrichter weder ein eigentliches
Beweisverfahren durchzuführen, noch dem erkennenden Strafrichter vorzugreifen.
Vorbehalten bleibt allenfalls die Abnahme eines liquiden Alibibeweises (vgl.
BGE 124 I 208 E. 3 S. 210 mit Hinweisen).
2.2.3 Die dem Beschwerdeführer vorgeworfene Tat wurde von einer
Überwachungskamera erfasst. Die Aufnahme zeigt - nach den für das Bundesgericht
verbindlichen Ausführungen - unter anderem, wie der Bruder des
Beschwerdeführers das fliehende Opfer festhält. Der Beschwerdeführer rennt
hinzu und tritt noch in der Bewegung mit Schwung gegen den vornüber gebeugten
Kopf des Opfers, ohne jedoch zu treffen. Von einem dilettantisch ausgeführten
Tritt, welcher von vornherein nicht geeignet gewesen wäre, den Geschädigten
ernsthaft zu verletzen, kann indessen keine Rede sein. Vielmehr scheint schon
aufgrund dieser Einzelhandlung der Verdacht vertretbar, dass der
Beschwerdeführer eine schwere Körperverletzung zumindest in Kauf genommen hat.
Ob dies auch in Bezug auf die weitere Auseinandersetzung zutrifft, kann offen
bleiben.
2.3
2.3.1 Der besondere Haftgrund der Wiederholungsgefahr wird im Kanton Zürich von
§ 58 Abs. 1 Ziff. 3 und 4 StPO/ZH erfasst. Ziff. 3 dieser Bestimmung ist
anwendbar, wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens dringend
verdächtig ist und ausserdem aufgrund bestimmter Anhaltspunkte ernsthaft
befürchtet werden muss, der Angeschuldigte werde, "nachdem er bereits
zahlreiche Verbrechen oder erhebliche Vergehen verübt hat, erneut solche
Straftaten begehen". Der besondere Haftgrund von Ziff. 4 liegt vor, wenn
aufgrund bestimmter Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet werden muss, der
Angeschuldigte werde eines der in dieser Vorschrift genannten Delikte,
insbesondere ein Verbrechen gegen Leib und Leben (Art. 111 ff. StGB) begehen,
sofern das Verfahren ein gleichartiges Verbrechen oder Vergehen betrifft
(Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr ohne Vortaterfordernis; vgl.
NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht, 4. Aufl. 2004, S. 248 f. Rz. 701c).
Nach der Praxis des Bundesgerichts kann die Anordnung von Haft wegen
Fortsetzungsgefahr dem strafprozessualen Ziel der Beschleunigung dienen, indem
verhindert wird, dass sich das Verfahren durch immer neue Delikte kompliziert
und in die Länge zieht. Auch die Wahrung des Interesses an der Verhütung
weiterer Delikte ist nicht verfassungs- oder konventionswidrig. Vielmehr
anerkennt Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK ausdrücklich die Notwendigkeit,
Angeschuldigte an der Begehung strafbarer Handlungen zu hindern, somit
Spezialprävention, als Haftgrund (BGE 135 I 71 E. 2.2 S. 72 mit Hinweisen).
Bei der Annahme, dass der Angeschuldigte weitere Verbrechen oder erhebliche
Vergehen begehen könnte, ist allerdings Zurückhaltung geboten. Die
Aufrechterhaltung von strafprozessualer Haft wegen Fortsetzungsgefahr ist nur
dann verhältnismässig, wenn einerseits die Rückfallprognose sehr ungünstig und
anderseits die zu befürchtenden Delikte von schwerer Natur sind. Schliesslich
gilt auch bei der Präventivhaft - wie bei den übrigen Haftarten - dass sie nur
als ultima ratio angeordnet oder aufrechterhalten werden darf. Wo sie durch
mildere Massnahmen ersetzt werden kann, muss von der Anordnung oder Fortdauer
der Haft abgesehen und an ihrer Stelle eine dieser Ersatzmassnahmen verfügt
werden (BGE 135 I 71 E. 2.3 S. 73 mit Hinweisen).
2.3.2 Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers ist das Abstellen auf den von
der Staatsanwaltschaft in ihrer Vernehmlassung erwähn-ten Haftgrund der
qualifizierten Wiederholungsgefahr prozessual nicht unzulässig. Gemäss der
Rechtsprechung des Bundesgerichts kann von einer Aufhebung des angefochtenen
Entscheids dann abgesehen werden, wenn sein Ergebnis mit einer substituierten
anderen Begründung ohne Weiteres gerechtfertigt werden könnte, sofern diese
nicht von der kantonalen Behörde ausdrücklich verworfen worden ist (BGE 122 I
257 E. 5 S. 262; Urteil 2P.172/2005 vom 25. Oktober 2005 E. 2; je mit
Hinweisen).
2.3.3 Der Haftrichter begründet die Annahme von Wiederholungsgefahr mit einem
noch nicht rechtskräftigen Urteil vom 28. April 2008 des Obergerichts des
Kantons Zürich, worin der Beschwerdeführer der schweren Körperverletzung und
des Raufhandels schuldig gesprochen wurde. Zudem habe der Beschwerdeführer
bestätigt, dass das Bezirksgericht Bülach am 11. Januar 2008 ein Urteil wegen
Körperverletzung und am 25. Februar 2008 ein weiteres wegen Raufhandel gefällt
habe.
Der Beschwerdeführer bestreitet diese vorinstanzliche Erwägung insofern nicht,
als sie das Urteil des Obergerichts betrifft. Indessen macht er geltend, das
Bezirksgericht Bülach habe lediglich ein einziges ihn persönlich betreffendes
Urteil gefällt. Dieses sei am 28. Juni 2007 ergangen und am 11. Januar 2008
rechtskräftig geworden. Das Gericht sei damals auf die Anklage nicht
eingetreten.
2.3.4 Die Einwände des Beschwerdeführers sind nicht stichhaltig, zumal es auf
die erwähnten Urteile des Bezirksgerichts Bülach nicht ankommt. Der
Beschwerdeführer rannte im Zuge der ihm vorgeworfenen Gewalttat auf das Opfer
zu und trat noch in der Bewegung mit Schwung gegen dessen vornüber gebeugten
Kopf, derweil der Bruder des Beschwerdeführers das Opfer festhielt. Allein
dieses rücksichtslose Vorgehen des Beschwerdeführers und die Verurteilung durch
das Obergericht des Kantons Zürich wegen schwerer Körperverletzung und
Raufhandel lassen ernsthaft befürchten, der Beschwerdeführer werde erneut ein
Verbrechen gegen Leib und Leben (Art. 111 ff. StGB) begehen, wenn er aus der
Untersuchungshaft entlassen würde. Damit ist der besondere Haftgrund der
qualifizierten Wiederholungsgefahr nach § 58 Abs. 1 Ziff. 4 gegeben.

3.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Beschwerde abzuweisen ist. Da der
besondere Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr zu bejahen ist,
erübrigt es sich, auf die Ausführungen des Beschwerdeführers zur
Kollusionsgefahr einzugehen.
Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche
Prozessführung. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, kann dem
Gesuch entsprochen werden (Art. 64 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen.

2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Jean-Christophe Schai wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand
ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse
mit Fr. 1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft IV des Kantons
Zürich und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 5. November 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Dold