Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.244/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_244/2009

Urteil vom 22. September 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Kappeler.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Hanspeter Kümin,

gegen

Bezirksamt Brugg, Neumarkt 2, 5201 Brugg.

Gegenstand
Haftentlassung,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 31. Juli 2009 des Obergerichts des Kantons
Aargau, Präsidium der Beschwerdekammer.
Sachverhalt:

A.
X.________ wurde 1987 geboren und ist brasilianischer Staatsbürger. Er befindet
sich seit dem 4. Februar 2009 in Untersuchungshaft; das Bezirksamt Brugg führt
gegen ihn eine Strafuntersuchung wegen bandenmässig begangenen Raubs. Am 4. Mai
2009 stellte X.________ ein Haftentlassungsgesuch, das vom zuständigen
Haftrichter am 8. Mai 2009 abgewiesen wurde. Am 27. Juli 2009 stellte er erneut
ein Haftentlassungsgesuch. Dieses wurde vom Präsidium der Beschwerdekammer des
Obergerichts des Kantons Aargau mit Entscheid vom 31. Juli 2009 abgewiesen. Das
Präsidium bejahte das Vorliegen des Haftgrunds der Fluchtgefahr.

B.
Gegen diesen Entscheid erhebt X.________ mit Eingabe vom 2. September 2009 beim
Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt die Aufhebung des
angefochtenen Entscheids und die sofortige Haftentlassung. Für das
bundesgerichtliche Verfahren ersucht er um Bewilligung der unentgeltlichen
Rechtspflege und Verbeiständung. Er hält die Fortsetzung der Haft mangels
Fluchtgefahr für ungerechtfertigt.

C.
Das Bezirksamt verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das Obergericht schliesst
auf Abweisung der Beschwerde, ohne dass es sich inhaltlich nochmals zur
Angelegenheit äussert.

D.
Mit verspäteter Eingabe vom 5. September 2009 stellte der Beschwerdeführer dem
Bundesgericht diverse Dokumente zu.

Erwägungen:

1.
Beim angefochtenen Urteil handelt es sich um einen Entscheid in Strafsachen
einer letzten kantonalen Instanz. Die Beschwerde in Strafsachen (Art. 78 ff.
BGG) steht daher grundsätzlich zur Verfügung. Die übrigen
Eintretenserfordernisse geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde
ist einzutreten.

2.
2.1 Untersuchungshaft muss als schwerwiegender Eingriff in das Grundrecht der
persönlichen Freiheit auf einer klaren gesetzlichen Grundlage in einem Gesetz
beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein (Art. 10
Abs. 2 i.V.m. Art. 31 Abs. 1 und Art. 36 BV).
Im Kanton Aargau kann gegen einen Beschuldigten Untersuchungshaft unter anderem
dann angeordnet und fortgesetzt werden, wenn er einer mit einer Freiheitsstrafe
bedrohten Handlung dringend verdächtigt wird und Fluchtgefahr besteht (§ 67
Abs. 1 Ziff. 1 des Gesetzes des Kantons Aargau vom 11. November 1958 über die
Strafrechtspflege [Strafprozessordnung, StPO/AG; SAR 251.100]).
Im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs prüft das Bundesgericht die Auslegung
und Anwendung des massgeblichen kantonalen Rechts frei. Soweit jedoch reine
Sachverhaltsfragen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind,
greift das Bundesgericht nach Art. 97 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 105 Abs. 2
BGG nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz
offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung beruhen (BGE 135
I 71 E. 2.5 S. 73).

2.2 Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass gegen ihn der allgemeine
Haftgrund des dringenden Tatverdachts gegeben ist. Zu prüfen bleibt daher, ob
auch ein besonderer Haftgrund vorliegt.
2.3
2.3.1 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts braucht es für die Annahme von
Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich die angeschuldigte
Person, wenn sie in Freiheit wäre, der Strafverfolgung oder dem zu erwartenden
Strafvollzug entziehen würde. Die Schwere der drohenden Strafe darf als ein
Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden. Sie genügt jedoch für sich allein
nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Vielmehr müssen die konkreten Umstände des
betreffenden Falls, insbesondere die gesamten Lebensverhältnisse der
angeschuldigten Person, in Betracht gezogen werden (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62;
117 Ia 69 E. 4a S. 70; je mit Hinweisen). Zu berücksichtigen sind
beispielsweise die familiären und sozialen Bindungen des Häftlings, dessen
berufliche, finanzielle und gesundheitliche Situation sowie Kontakte ins
Ausland und Ähnliches.
2.3.2 Die Vorinstanz erwägt, aufgrund der Schwere der Delinquenz des
Beschwerdeführers und der zu erwartenden hohen Freiheitsstrafe bestehe beim
Beschwerdeführer eine hohe Fluchtgefahr. Er lebe seit sieben Jahren mit
Niederlassungsbewilligung C in der Schweiz und spreche akzentfrei
Schweizerdeutsch, könne sich aber auch mit seiner Muttersprache Portugiesisch
in seiner Heimat problemlos verständigen. Die nächsten Bezugspersonen des
Beschwerdeführers, insbesondere dessen Mutter und Schwester, lebten zwar in der
Schweiz und das Verhältnis zu ihnen sei angeblich eng, während in Brasilien nur
noch entferntere Verwandte (Tante, Onkel, Grossmutter) leben würden. Zudem habe
der Beschwerdeführer in der Schweiz eine Freundin, wobei das Verhältnis zu ihr
als zweifelhaft erscheine, jedenfalls habe sie ihn in der Untersuchungshaft
noch nie besucht. Diese familiären und sozialen Bindungen des Beschwerdeführers
vermöchten die grosse Fluchtgefahr indes nicht entscheidend herabzumindern.
Weshalb die religiöse Einstellung des Beschwerdeführers diesen an einer Flucht
hindern sollte, sei nicht ersichtlich, da diese ihn auch nicht an der Begehung
von drei Raubüberfällen hinderte. Weiter erscheine die Prognose des im
Zeitpunkt der Raubüberfälle arbeitslosen Beschwerdeführers, er würde nach der
Freilassung aus der Untersuchungshaft umgehend eine Arbeit finden, als zu
optimistisch. Vielmehr sei damit zu rechnen, dass er angesichts des in nicht
allzu weiter Ferne liegenden Strafantritts in der Schweiz keine Stelle finden
würde, was wiederum die Fluchtgefahr weiter erhöhe. Andererseits könne nicht
gesagt werden, dass der Beschwerdeführer in wirtschaftlicher Hinsicht in
Brasilien keine Zukunft hätte. Jedenfalls werde die bestehende Fluchtgefahr
durch allfällige Schwierigkeiten wirtschaftlicher Natur bei einem Aufenthalt in
Brasilien nicht ausgeschlossen.
2.3.3 Der Beschwerdeführer bringt vor, die Beziehung zu seiner Freundin sei
sehr eng. Der Grund dafür, dass sie ihn in der Untersuchungshaft bisher nicht
besucht habe, liege in ihrem sehr sensiblen Charakter, der ihr einen
Gefängnisbesuch bisher verunmöglicht habe. Als Beleg dafür, dass die Beziehung
zu seiner Freundin sehr tief und intensiv sei, verweise er auf die über 20
Briefe, die er seit Antritt der Untersuchungshaft von ihr erhalten habe. Der
Beschwerdeführer bringt weiter vor, in Brasilien habe er nur noch entfernte
Verwandte, die er nicht kenne. Seine Tante und sein Onkel lebten inzwischen in
Grossbritannien, wobei er zu ihnen keinen Kontakt habe. Seine kranke und
angeschlagene Grossmutter in Brasilien habe er das letzte Mal mit acht Jahren
gesehen. Sein Vater sei bereits verstorben. In Brasilien kenne er weder den
Arbeitsmarkt noch das Arbeitssystem, weshalb eine Flucht dorthin keinen Sinn
mache, zumal er dann mit einem Einreiseverbot in die Schweiz auf unbestimmte
Zeit rechnen müsste. Wegen der engen Beziehung zu seinen Angehörigen, d.h. vor
allem zu seiner Mutter und zu seiner Schwester, würde dies für ihn einen sehr
viel grösseren Einschnitt bedeuten, als die voraussichtlich in der Schweiz zu
verbüssende Strafe. Dass er nach einer Freilassung aus der Untersuchungshaft
keine Stelle finden würde, treffe nicht zu. Er habe eine Offerte, dass er ab
sofort in einem Privathaushalt eine bezahlte, temporäre Praktikumsstelle
(50%-Stelle) als Kinderbetreuer zu einem Monatslohn von Fr. 500.-- übernehmen
könne. Zu seiner religiösen Einstellung führt der Beschwerdeführer aus, er sei
seit seinem 14. Lebensjahr gläubiger Evangelik. Nachdem er durch die
Arbeitslosigkeit und vor allem durch den Einfluss eines Mitangeschuldigten
zeitweise von seinem Glauben abgekommen sei, habe ihn die Erfahrung der
Verhaftung und des Gefängnisses wieder zum Glauben zurückgeführt. Dieser
bestärke ihn darin, aus den gemachten Fehlern zu lernen und für das Getane
Verantwortung zu tragen.
2.3.4 Was der Beschwerdeführer gegen den angefochtenen Entscheid einwendet,
lässt die Annahme von Fluchtgefahr angesichts der empfindlichen
Freiheitsstrafe, die er im Falle einer Verurteilung zu gewärtigen hätte, nicht
als verfassungswidrig erscheinen. Seine familiären und sozialen Bindungen in
der Schweiz sind insgesamt nicht von einer derartigen Intensität, als dass sie
die Fluchtgefahr entscheidend zu vermindern vermöchten. Zudem ist der
mittellose Beschwerdeführer in der Schweiz beruflich nicht verwurzelt. Daran
ändert auch die ihm offerierte Praktikumstelle nichts, zumal diese zeitlich
befristet wäre und ihm kein Einkommen ermöglichen würde, mit dem er seinen
Lebensunterhalt sichern könnte. Weiter sind die Verhältnisse in Brasilien dem
Beschwerdeführer nicht unvertraut. Er lebte dort, bis er 15 Jahre alt war,
besuchte dort die Schulen und er spricht Portugiesisch. Dies lässt die Annahme
der Vorinstanz, die bestehende Fluchtgefahr werde durch allfällige
Schwierigkeiten wirtschaftlicher Natur bei einem Aufenthalt in Brasilien nicht
ausgeschlossen, nicht als unhaltbar erscheinen. Schliesslich ist auch die
Erwägung der Vorinstanz nicht zu beanstanden, die religiöse Einstellung des
Beschwerdeführers habe ihn nicht an der Begehung von drei Raubüberfällen zu
hindern vermocht, sodass nicht ersichtlich sei, weshalb ihn diese an einer
Flucht hindern sollte. Diese Erwägung erscheint auch dann nicht als unhaltbar,
wenn der Beschwerdeführer geltend macht, zwischenzeitlich wieder zum Glauben
zurückgefunden zu haben.

2.4 Da Untersuchungshaft bereits beim Vorliegen eines Haftgrunds zulässig ist,
muss nicht geprüft werden, ob vorliegend auch weitere besondere Haftgründe
(Kollusions- oder Wiederholungsgefahr) erfüllt sind.

3.
Bei der Untersuchungshaft gilt - wie bei den übrigen Haftarten -, dass sie nur
als ultima ratio angeordnet oder aufrechterhalten werden darf. An ihrer Stelle
sind daher nach dem Verhältnismässigkeitsprinzip eine oder mehrere
Ersatzmassnahmen zu verfügen, wenn und solange sich der Haftzweck auch auf
diese Weise erreichen lässt (BGE 133 I 270 E. 3.3.1 S. 279 f.). Als
Ersatzmassnahmen sind namentlich Sicherheitsleistung, Schriftensperre,
regelmässige persönliche Meldung bei einer Amtsstelle sowie Weisungen zum
Aufenthaltsort oder zu therapeutischer Begleitung vorgesehen (§ 78 ff. StPO/
AG).

3.1 Die Vorinstanz erwägt, angesichts der Schwere der Delinquenz des
Beschwerdeführers und der hohen Fluchtgefahr seien Massnahmen wie
Schriftensperre oder Meldepflicht ungenügend. Dieser Gefahr könne wegen der
Mittellosigkeit des Beschwerdeführers auch nicht mit einer von ihm zu
erbringenden Sicherheitsleistung begegnet werden. Dass ihn eine von
Drittpersonen geleistete Kaution hinreichend von einer Flucht abzuhalten
vermöchte, sei nicht anzunehmen.

3.2 Der Beschwerdeführer bringt vor, eine Sicherheitsleistung stelle vorliegend
ein geeignetes Mittel dar. Da er zu seiner Familie ein vertrautes, enges
Verhältnis habe, würde er den entsprechenden Betrag seinen Angehörigen wieder
zurückbezahlen.

3.3 Mit seiner rudimentären Entgegnung vermag der Beschwerdeführer die
Auffassung der Vorinstanz, dass Ersatzmassnahmen vorliegend ungenügend seien,
nicht zu entkräften. Massgebend ist zudem nicht, ob der Beschwerdeführer den
Angehörigen eine von ihnen geleistete Kaution wieder zurückbezahlen würde,
sondern ob ihn eine solche Leistung wirksam von einer Flucht abhalten würde.

4.
Die Beschwerde ist daher abzuweisen.
Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Da die
gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG), ist dem
Begehren stattzugeben. Es sind daher keine Gerichtskosten zu erheben und dem
Rechtsvertreter ist für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene
Entschädigung auszurichten.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen.

2.1 Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

2.2 Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Hanspeter Kümin, wird aus
der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'000.-- ausgerichtet.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Bezirksamt Brugg und dem
Obergericht des Kantons Aargau, Präsidium der Beschwerdekammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 22. September 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Kappeler