Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.23/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_23/2009

Urteil vom 16. Februar 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Reeb, Eusebio,
Gerichtsschreiberin Schoder.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Marcel Bosonnet,

gegen

Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl, Stauffacherstrasse 55, Postfach, 8026 Zürich.

Gegenstand
Anordnung Untersuchungshaft,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 23. Januar 2009 des Bezirksgerichts Zürich,
Haftrichter.
Sachverhalt:

A.
X.________ wird dringend verdächtigt, beabsichtigt zu haben, an unbekannten
Orten in der Schweiz politisch motivierte Brandanschläge zu verüben. Zudem wird
er dringend verdächtigt, in den Jahren 2007 und 2008 diverse Brandanschläge,
allenfalls zusammen mit weiteren Tätern, bereits verübt zu haben.

Am 20. Januar 2009 wurde X.________ festgenommen und am 22. Januar 2009 fand
vor der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl die Hafteinvernahme statt. Am 23. Januar
2009 ordnete der Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich die Untersuchungshaft
an. In der Haftverfügung wurde vermerkt, dass der Beschwerdeführer auf eine
persönliche Anhörung vor dem Haftrichter ausdrücklich verzichtet und auch sein
Verteidiger bei der Hafteinvernahme keine solche verlangt habe.

B.
X.________ hat gegen die haftrichterliche Verfügung beim Bundesgericht
Verfassungsbeschwerde eingelegt. Er beantragt, der angefochtene Entscheid sei
aufzuheben, es sei festzustellen, dass Art. 31 Abs. 2 und 3 und Art. 32 Abs. 2
BV sowie Art. 5 Ziff. 2 und 3 und Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt worden seien,
und er sei unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Ferner ersucht der
Beschwerdeführer um unentgeltliche Prozessführung im bundesgerichtlichen
Verfahren.

C.
Der Haftrichter hat auf Vernehmlassung verzichtet. Die zuständige
Staatsanwältin der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl beantragt die Abweisung der
Beschwerde, soweit sie die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl betreffe. Dem
Beschwerdeführer ist die Frist zur Replik abgenommen worden.

Erwägungen:

1.
Die Sachurteilsvoraussetzungen der Beschwerde in Strafsachen (Art. 78 ff. BGG)
sind vorliegend grundsätzlich erfüllt. Das Rechtsmittel ist deshalb nicht als
Verfassungsbeschwerde (vgl. Art. 113 BGG), sondern als Beschwerde in
Strafsachen entgegenzunehmen und zu behandeln.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer rügt unter anderem eine Verletzung des rechtlichen
Gehörs. Er macht geltend, vor Erlass der Haftverfügung vom 23. Januar 2009 habe
er in Verletzung von Art. 29 Abs. 2 und Art. 31 Abs. 3 BV, Art. 5 Ziff. 3 EMRK
sowie § 61 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich vom 4. Mai 1919 (StPO; LS
321) keine Gelegenheit gehabt, sich zum Haftantrag der Staatsanwältin zu
äussern und Einsicht in die Akten zu nehmen.

2.2 Jede Person, die in Untersuchungshaft genommen wird, hat gestützt auf Art.
31 Abs. 3 BV Anspruch darauf, unverzüglich einer Richterin oder einem Richter
vorgeführt zu werden; die Richterin oder der Richter entscheidet, ob die Person
weiterhin in Haft gehalten oder freigelassen wird. Aus Art. 31 Abs. 3 BV (Art.
5 Ziff. 3 EMRK) fliesst das Recht des Beschuldigten auf persönlichen Anhörung
im Haftanordnungsverfahren. A maiore minus ergibt sich daraus auch ein Anspruch
auf schriftliche Stellungnahme vor dem Haftrichter. Ein Anspruch auf
schriftliche Stellungnahme vor dem Haftrichter und Einsicht in die Haftakten
ergibt sich überdies aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2
BV). Das kantonale Recht kann über diese verfassungsrechtlichen
Minimalgarantien hinausgehen (BGE 134 I 159 E. 2.1.1 S. 161).

Nach Zürcher Strafprozessrecht gibt der Haftrichter dem Angeschuldigten und
seinem Verteidiger Gelegenheit, sich zu den Vorbringen der Untersuchungsbehörde
zu äussern. Er gewährt ihnen Einsicht in die vom Untersuchungsbeamten
unterbreiteten Akten. Der Angeschuldigte ist auf sein Verlangen persönlich
anzuhören (§ 61 Abs. 1 StPO). Diese Vorschrift beinhaltet somit ebenfalls drei
Teilgehalte: das Recht auf schriftliche Stellungnahme, das Recht auf
Akteneinsicht und das Recht auf persönliche Anhörung (vgl. ANDREAS DONATSCH,
in: Donatsch/Schmid (Hrsg.), Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons
Zürich, 1996, N. 7 zu § 61). Der Angeschuldigte kann auf diese Rechte
verzichten (vgl. DONATSCH, a.a.O., N. 9 zu § 61 StPO). Jedoch bedeutet der
Verzicht auf einen Teilgehalt von § 61 StPO, etwa der Verzicht auf persönliche
Anhörung vor dem Haftrichter, nicht notwendigerweise auch ein Verzicht auf
Einsicht in die Haftakten und auf schriftliche Stellungnahme zum Haftantrag der
Staatsanwaltschaft.

2.3 Der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers schildert den Verfahrensablauf wie
folgt: Anlässlich der staatsanwaltschaftlichen Einvernahme vom 22. Januar 2009
habe die für den Fall zuständige Staatsanwältin angekündigt, dass sie einen
Antrag auf Anordnung der Untersuchungshaft beim Haftrichter des Bezirksgerichts
Zürich einreichen werde. Als Anwalt des Beschwerdeführers sei er bei der
Einvernahme ebenfalls anwesend gewesen. Dabei sei ihm in Aussicht gestellt
worden, dass er beim Haftrichter Akteneinsicht nehmen könne. Der
Beschwerdeführer habe zuerst beantragt, durch den Haftrichter angehört zu
werden. Als ihm jedoch erklärt worden sei, dass sein Rechtsanwalt beim
Haftrichter schriftlich zum Haftantrag Stellung nehmen könne, habe der
Beschwerdeführer auf eine persönliche Anhörung verzichtet. Sowohl der
Beschwerdeführer als auch er als sein Rechtsanwalt hätten angekündigt, dass er
bei Vorliegen des staatsanwaltschaftlichen Haftantrags und nach Einsicht in die
Akten zum betreffenden Antrag Stellung nehmen würde.

Noch am gleichen Tag habe er als Rechtsvertreter des Beschwerdeführers das
Haftrichteramt angerufen und erklärt, dass er Einsicht in die Akten wünsche. Da
die zuständige juristische Sekretärin abwesend gewesen sei, habe man ihm
versprochen, Abklärungen zu treffen und ihn telefonisch zu unterrichten. Eine
solche Information sei am 22. Januar 2009 aber nicht erfolgt.

Am folgenden Tag, dem 23. Januar 2009, habe er sich beim Haftrichteramt erneut
telefonisch erkundigt, ob er als Verteidiger Akteneinsicht nehmen könne. Die
zuständige juristische Sekretärin habe ihm daraufhin erklärt, der Haftrichter
habe den Entscheid bereits gefällt, er könne keine Akteneinsicht mehr nehmen
und solle sich für die Akteneinsicht an die zuständige Staatsanwältin wenden.
Erst am 26. Januar 2009 sei ihm die Möglichkeit zur Akteneinsicht eingeräumt
worden.

Diese Sachverhaltsdarstellung wird weder von der Staatsanwaltschaft noch vom
Haftrichter in Frage gestellt. Aktenwidrig ist aber die Behauptung des
Rechtsvertreters, er habe erst nach dem 26. Januar 2009 vom schriftlich
begründeten Antrag auf Anordnung der Untersuchungshaft Kenntnis nehmen können
(vgl. Beschwerde S. 9). Der vom 22. Januar 2009 datierende, schriftlich
begründete Haftantrag enthält auf Seite 3 die Unterschrift des
Beschwerdeführers, womit dieser einerseits auf persönliche Anhörung vor dem
Haftrichter verzichtete und andererseits bestätigte, ein gleichlautendes Doppel
des Haftantrags erhalten zu haben. Die Unterschrift des Beschwerdeführers
datiert ebenfalls vom 22. Januar 2009. Der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers
war, wie oben erwähnt, an der Hafteinvernahme vom 22. Januar 2009 anwesend.

2.4 Dem Gesagten zufolge verzichtete der Beschwerdeführer unterschriftlich auf
persönliche Anhörung vor dem Haftrichter. Dieser Verzicht beinhaltete aber
nicht auch den Verzicht auf schriftliche Stellungnahme und Einsicht in die
Haftakten durch den Rechtsverteidiger des Beschwerdeführers. Ein solcher
Verzicht liesse sich aus der Formulierung des Verzichts auf Seite 3 des
Haftantrags ("Ich verzichte ausdrücklich auf eine Anhörung durch den
Haftrichter.") jedenfalls nicht ableiten. Im Gegenteil äusserte sich der
Rechtsanwalt des Beschwerdeführers gemäss unbestritten gebliebenen Behauptungen
mehrmals dahingehend, zum Haftantrag schriftlich Stellung nehmen und vorgängig
Akteneinsicht nehmen zu wollen. Der Haftrichter hätte den Entscheid über die
Anordnung der Untersuchungshaft deshalb nicht treffen dürfen, ohne dem
Beschwerdeführer resp. seinem Rechtsvertreter vorgängig die Gelegenheit
eingeräumt zu haben, sich zum Haftantrag der Staatsanwaltschaft schriftlich zu
äussern und Einsicht in die Haftakten zu nehmen. Aufgrund dieser Unterlassung
hat der Haftrichter die Rechte des Angeschuldigten aus § 61 Abs. 1 StPO resp.
dessen Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 31 Abs. 3 und Art. 29 Abs. 2 BV)
verletzt. Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als begründet. Die
Prüfung der weiteren Rügen erübrigt sich.

3.
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen, die angefochtene Verfügung aufzuheben
und die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das Gesuch
um sofortige Haftentlassung ist abzuweisen. Ausgangsgemäss werden keine
Gerichtskosten erhoben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Zürich hat den
Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu
entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche
Prozessführung wird gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird als Beschwerde in Strafsachen entgegengenommen.

2.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, die Verfügung vom 23. Januar 2009 des
Haftrichters des Bezirksgerichts Zürich aufgehoben und die Sache zu neuem
Entscheid an den Haftrichter zurückgewiesen.

3.
Das Haftentlassungsgesuch wird abgewiesen.

4.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

5.
Der Kanton Zürich hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren
mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen.

6.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl und
dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 16. Februar 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Féraud Schoder