Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.230/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_230/2009

Urteil vom 31. August 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Haag.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bernhard
Isenring,

gegen

Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl,
Stauffacherstrasse 55, Postfach, 8026 Zürich.

Gegenstand
Haftentlassung,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 25. Juli 2009
des Bezirksgerichts Zürich, Haftrichter.

Sachverhalt:

A.
X.________ wurde mit Verfügung des Haftrichters am Bezirksgericht Zürich vom
22. Juni 2009 in Untersuchungshaft versetzt. Ihm wird unter anderem
vorgeworfen, am 19. Juni 2009 zusammen mit drei weiteren Beteiligten einen
Raubversuch unternommen und mehrere Personen verletzt zu haben.

Am 21. Juli 2009 ersuchte X.________ um Entlassung aus der Untersuchungshaft.
Die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl beantragte am 22. Juli 2009 die Fortsetzung
der Untersuchungshaft. Mit Verfügung vom 25. Juli 2009 wies der Haftrichter am
Bezirksgericht Zürich das Haftentlassungsgesuch ab. Nach dieser Verfügung
dauert die Untersuchungshaft einstweilen bis zum 22. September 2009 fort.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 19. August 2009 beantragt X.________ im
Wesentlichen, die Verfügung des Haftrichters vom 25. Juli 2009 sei aufzuheben
und er sei aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Eventualiter sei die
Angelegenheit an den Haftrichter zurückzuweisen, damit dieser die Verfügung vom
25. Juli 2009 hinreichend begründe, und der Beschwerdeführer sei aus der
Untersuchungshaft zu entlassen. Zudem stellt der Beschwerdeführer den Antrag,
die Staatsanwaltschaft sei anzuweisen, eine Kopie der Strafakten anzufertigen,
damit während der Zeit, in welcher die Akten beim Bundesgericht liegen, das
kantonale Strafverfahren ohne Verzögerungen weitergeführt werden könne.

Der Haftrichter und die Staatsanwaltschaft haben auf eine Stellungnahme zur
Beschwerde verzichtet. Die kantonalen Strafakten wurden dem Bundesgericht nicht
eingereicht.

Erwägungen:

1.
Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen
Entscheide in Strafsachen. Ein kantonales Rechtsmittel gegen den angefochtenen
Entscheid steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach Art. 80 i.V.m.
Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer nahm vor der Vorinstanz am
Verfahren teil und hat ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des
angefochtenen Entscheids. Er ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde
berechtigt. Das Bundesgericht kann nach Art. 107 Abs. 2 BGG bei Gutheissung der
Beschwerde in der Sache selbst entscheiden. Der Antrag auf Haftentlassung ist
somit zulässig (vgl. BGE 133 I 270 E. 1.1 S. 272 f. mit Hinweisen). Da auch die
übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde
einzutreten.

2.
Die Untersuchungshaft schränkt die persönliche Freiheit des Beschwerdeführers
ein (Art. 10 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 BV, Art. 5 EMRK). Eine Einschränkung dieses
Grundrechts ist zulässig, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, im
öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist; zudem darf sie den
Kerngehalt des Grundrechts nicht beeinträchtigen (Art. 36 BV). Im vorliegenden
Fall steht ein Freiheitsentzug und damit eine schwerwiegende Einschränkung der
persönlichen Freiheit in Frage. Es bedarf deshalb sowohl nach Art. 36 Abs. 1
Satz 2 BV als auch nach Art. 31 Abs. 1 BV einer Grundlage im Gesetz selbst.

2.1 Im Hinblick auf die Schwere der Einschränkung prüft das Bundesgericht die
Auslegung und Anwendung der kantonalen Rechtsgrundlage frei. Soweit reine
Sachverhaltsfeststellungen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen
sind, greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen
der kantonalen Instanz willkürlich sind (BGE 128 I 184 E. 2.1 S. 186 mit
Hinweisen).

2.2 Nach § 58 Abs. 1 Ziff. 2 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich vom 4.
Mai 1919 (StPO/ZH) darf Untersuchungshaft angeordnet werden, wenn der
Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt wird und
ausserdem aufgrund bestimmter Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet werden muss,
er werde Spuren und Beweismittel beseitigen, Dritte zu falschen Aussagen zu
verleiten versuchen oder die Abklärung des Sachverhalts auf andere Weise
gefährden (Kollusionsgefahr).

In der angefochtenen Verfügung wird der dringende Verdacht des versuchten Raubs
(Art. 140 i.V.m. Art. 22 StGB) und Kollusionsgefahr bejaht. Der
Beschwerdeführer bestreitet den dringenden Tatverdacht nicht. Er macht jedoch
geltend, es fehle am besonderen Haftgrund der Kollusionsgefahr. Der Haftrichter
habe die Kollusionsgefahr unter Missachtung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
bejaht und damit Art. 29 Abs. 2 BV verletzt.

2.3 Kollusion bedeutet insbesondere, dass sich der Angeschuldigte mit Zeugen,
Auskunftspersonen, Sachverständigen oder Mitangeschuldigten ins Einvernehmen
setzt oder sie zu wahrheitswidrigen Aussagen veranlasst, oder dass er Spuren
und Beweismittel beseitigt. Die strafprozessuale Haft wegen Kollusionsgefahr
soll verhindern, dass der Angeschuldigte die Freiheit dazu missbraucht, die
wahrheitsgetreue Abklärung des Sachverhalts zu vereiteln oder zu gefährden.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts genügt indessen die theoretische
Möglichkeit, dass der Angeschuldigte in Freiheit kolludieren könnte, nicht, um
die Fortsetzung der Haft oder die Nichtgewährung von Urlauben unter diesem
Titel zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr konkrete Indizien für die Annahme
von Verdunkelungsgefahr sprechen (BGE 123 I 31 E. 3c S. 35; 117 Ia 257 E. 4c S.
261).

Der Beschwerdeführer macht geltend, die angefochtene Verfügung enthalte
lediglich allgemeine Ausführungen zur Kollusionsgefahr bei einer Mehrheit von
Tatbeteiligten und Zeugen. Eine Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen
der vorliegenden Angelegenheit und mit seinen Vorbringen, die gegen
Kollusionsgefahr sprächen, habe der Haftrichter unterlassen. Damit seien sein
Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) und insbesondere die daraus
abgeleitete Begründungspflicht verletzt worden.

2.4 Gemäss Art. 29 Abs. 2 BV haben die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör.
Der Betroffene hat das Recht, sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung
eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern. Dazu gehört insbesondere das
Recht, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört
zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder
sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn es geeignet ist, den
Entscheid zu beeinflussen. Wesentlicher Bestandteil des Anspruchs auf
rechtliches Gehör ist die Begründungspflicht. Die Begründung soll verhindern,
dass sich die Behörde von unsachlichen Motiven leiten lässt, und dem
Betroffenen ermöglichen, die Verfügung gegebenenfalls sachgerecht anzufechten.
Dies ist nur möglich, wenn sowohl er wie auch die Rechtsmittelinstanz sich über
die Tragweite des Entscheids ein Bild machen können. In diesem Sinn müssen
wenigstens kurz die Überlegungen genannt werden, von denen sich die Behörde hat
leiten lassen und auf welche sich ihr Entscheid stützt. Dies bedeutet indessen
nicht, dass sie sich ausdrücklich mit jeder tatbeständlichen Behauptung und
jedem rechtlichen Einwand auseinandersetzen muss. Vielmehr kann sie sich auf
die für den Entscheid wesentlichen Gesichtspunkte beschränken (BGE 133 I 270 E.
3.1 S. 277; 129 I 232 E. 3.2 S. 236; 126 I 97 E. 2b S. 102 f. mit Hinweisen).
Nach ausdrücklicher Vorschrift in Art. 112 Abs. 1 BGG muss der kantonale
Entscheid insbesondere die Begehren, die Begründung, die Beweisvorbringen und
Prozesserklärungen der Parteien enthalten, soweit sie nicht aus den Akten
hervorgehen (lit. a). Ausserdem sind im angefochtenen Entscheid die
massgebenden Gründe tatsächlicher und rechtlicher Art sowie namentlich die
angewendeten Gesetzesbestimmungen zu nennen (lit. b).

2.5 Der Haftrichter hält die Kollusionsgefahr für konkret, weil mehrere
Angeschuldigte in die Taten involviert seien und jeder der Angeschuldigten ein
erkennbares Interesse bekunde, sein Verhalten in ein möglichst günstiges Licht
zu rücken und die Taten zu bagatellisieren. Inwiefern jedoch in Bezug auf den
Beschwerdeführer selbst konkrete Indizien für Kollusionsgefahr sprechen, legt
der Haftrichter nicht dar. Die angefochtene Verfügung enthält vielmehr
allgemeine Ausführungen zur Kollusionsgefahr, wenn mehrere Beteiligte und
Zeugen einzuvernehmen sind. Daraus wird nicht ersichtlich, inwiefern beim
Beschwerdeführer konkrete Indizien für die Bejahung der Kollusionsgefahr
vorliegen könnten und auf welche Tatsachen sich der Haftrichter bei seiner
Beurteilung stützt. Der angefochtene Entscheid ist somit nicht mit Art. 29 Abs.
2 BV vereinbar. Auch hat sich der Haftrichter mit den vom Beschwerdeführer
erhobenen Einwänden gegen die Kollusionsgefahr nicht in einer den Anforderungen
von Art. 29 Abs. 2 BV genügenden Weise auseinandergesetzt. Im Lichte des
Beschleunigungsgebots in Haftsachen (Art. 31 Abs. 4 BV) müsste der Haftrichter
zudem einleuchtend erklären, weshalb die Untersuchungsbehörde die angeblich
notwendige Wiederholung von Zeugeneinvernahmen bisher noch nicht angeordnet hat
(vgl. BGE 133 I 168 E. 4.1 S. 170 f., 270 E. 3.4.2 S. 281 f.; 132 I 21 E. 4.1
S. 27 f.; je mit Hinweisen). Eine sorgfältige Haftprüfung und
Entscheidmotivation ist auch deshalb geboten, weil es sich beim Haftrichter im
einstufigen Zürcher System um die einzige kantonale richterliche
Prüfungsinstanz im Sinne von Art. 31 Abs. 4 BV handelt. Diese wichtige Aufgabe
der kantonalen Strafjustiz kann nicht an das Bundesgericht delegiert werden
(BGE 133 I 270 E. 3.5.1 S. 283 mit Hinweisen).

3.
Es ergibt sich, dass die Beschwerde wegen Verletzung von Art. 29 Abs. 2 BV
gutzuheissen ist, ohne dass eine Einsicht in die kantonalen Strafakten durch
das Bundesgericht erforderlich wäre. Es kann somit ausnahmsweise auf deren
Beizug verzichtet werden. Die entgegen Art. 102 Abs. 2 BGG unterbliebene
Einsendung der Strafakten führt im bundesgerichtlichen Verfahren zu keinen
Nachteilen, da unter den gegebenen Umständen die weiteren Rügen des
Beschwerdeführers nicht mehr geprüft werden müssen. Die Vorinstanz wird jedoch
darauf hingewiesen, dass zu den Vorakten im Sinne von Art. 102 Abs. 2 BGG in
Haftfällen auch die Akten der Strafuntersuchung gehören, welche für die
Beurteilung der Voraussetzungen der Untersuchungshaft (wie dringender
Tatverdacht, besondere Haftgründe, Haftdauer etc.) erheblich sind. Werden diese
dem Bundesgericht nicht in Anwendung von Art. 102 Abs. 2 BGG innert der
Vernehmlassungsfrist zugestellt, besteht die Gefahr von Verzögerungen, die mit
dem besonderen Beschleunigungsgebot gemäss Art. 31 Abs. 4 BV nicht vereinbar
sind. Zur beförderlichen Weiterführung der Strafuntersuchung während der
Hängigkeit einer Beschwerde gegen die Untersuchungshaft kann es sich je nach
den konkreten Umständen aufdrängen, Kopien der Strafakten anzufertigen.

Nach dem Gesagten ist der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur
Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an den kantonalen Haftrichter
zurückzuweisen (vgl. BGE 133 I 270 E. 4 S. 285). Eine sofortige Haftentlassung
durch das Bundesgericht (gestützt auf Art. 107 Abs. 2 BGG) kann jedoch nicht
angeordnet werden, da der Haftrichter zunächst unverzüglich zu beurteilen hat,
ob in Bezug auf den Beschwerdeführer konkrete Indizien bestehen, die für
Kollusionsgefahr sprechen.
Gerichtskosten sind bei diesem Verfahrensausgang nicht zu erheben (Art. 66 Abs.
4 BGG). Hingegen hat der Kanton Zürich dem anwaltlich vertretenen
Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68
BGG). Damit wird sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen, die Verfügung vom 25. Juli 2009 des
Haftrichters am Bezirksgericht Zürich wird aufgehoben, und die Streitsache wird
zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die
Beschwerde abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Zürich hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr.
3'000.-- zu entrichten.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl und
dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 31. August 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Haag