Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.195/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_195/2009

Urteil vom 6. November 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Forster.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Stephan A. Buchli,

gegen

Staatsanwaltschaft II des Kantons Zürich, Selnaustrasse 28, Postfach, 8027
Zürich.

Gegenstand
Vorzeitiger Strafantritt,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 25. Juni 2009
des Bezirksgerichtes Zürich, Haftrichterin.
Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft II des Kantons Zürich erhob am 26. Mai 2009 beim
Bezirksgericht Zürich Anklage gegen X.________ wegen qualifizierten
Drogendelikten. Sie beantragt die Ausfällung einer Freiheitsstrafe von 7 ½
Jahren. Am 21. Juni 2009 stellte der in Sicherheitshaft befindliche Angeklagte
ein Gesuch um Bewilligung des vorzeitigen Strafantrittes, welches die
Haftrichterin des Bezirksgerichtes Zürich mit Verfügung vom 25. Juni 2009
abwies.

B.
Gegen den haftrichterlichen Entscheid vom 25. Juni 2009 gelangte X.________ mit
Beschwerde vom 9. Juli 2009 an das Bundesgericht. Er beantragt die Gewährung
des vorzeitigen Strafantrittes.
Die Staatsanwaltschaft liess sich am 31. August 2009 vernehmen, während die
Haftrichterin auf eine Stellungnahme ausdrücklich verzichtet hat. Auf eine
Replik verzichtete am 7. September 2009 auch der Beschwerdeführer.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist die Abweisung eines Gesuches um Bewilligung des vorzeitigen
Strafantrittes. Die Sachurteilsvoraussetzungen von Art. 78 ff. BGG geben zu
keinen Bemerkungen Anlass.

2.
Im angefochtenen Entscheid wird Folgendes erwogen: Das Gesetz sehe den
vorzeitigen Strafantritt für Angeklagte vor, die ein lückenloses Geständnis
abgelegt haben und nur noch auf ihr Urteil bzw. den Strafvollzug warten. Der
Beschwerdeführer sei jedoch nur in einem Anklagepunkt geständig, wonach er mit
einem Mitbeteiligten Kokain verarbeitet und gestreckt habe. Ansonsten habe er
die ihn belastenden Personen in den Konfrontationseinvernahmen der Lüge
bezichtigt bzw. von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Es sei
nach wie vor Kollusionsgefahr gegeben, da nicht ausgeschlosssen werden könne,
dass der Beschwerdeführer die ihn belastenden Personen zu seinen Gunsten
beeinflussen könnte. Im vorzeitigen Strafvollzug könnten "Aussenkontakte nicht
hinreichend kontrolliert werden". Es sei daher nicht auszuschliessen, dass "das
Strafverfahren gefährdet würde, insbesondere die unbekannten Drogenlieferanten
und weitere Beteiligte gewarnt werden könnten". Die Fortdauer der
strafprozessualen Haft in Form von Sicherheitshaft sei auch angesichts der von
der Staatsanwaltschaft beantragten Freiheitsstrafe von 7 ½ Jahren
verhältnismässig.

3.
Der Beschwerdeführer macht geltend, weder das Gesetz, noch die Weisungen der
Staatsanwaltschaft für die Untersuchungsführung, noch die einschlägige
Literatur sähen als Voraussetzung für den vorzeitigen Strafantritt nach Zürcher
Strafprozessrecht die lückenlose Geständigkeit des Angeklagten vor. Er befinde
sich seit mehr als einem Jahr in strafprozessualer Haft, nach dem die
vorbestehende Untersuchungshaft am 2. Juni 2009 in Sicherheitshaft umgewandelt
worden sei. Die Strafuntersuchung und das Anklageverfahren seien in allen
Punkten abgeschlossen. Die Untersuchungsbehörde habe alle relevanten
Gewährspersonen befragt und mit ihm konfrontiert. Die im angefochtenen
Entscheid angesprochene Möglichkeit, dass er, der Beschwerdeführer, im
vorzeitigen Strafvollzug Personen beeinflussen könnte, sei theoretischer Natur.
Konkrete Anhaltspunkte dafür würden von den kantonalen Behörden nicht genannt.
Dass er von seinem prozessualen Recht (teilweise) Gebrauch mache, sich nicht
selber zu belasten oder Aussagen zu verweigern, rechtfertige keine Verweigerung
des vorzeitigen Strafantrittes. Auch einer möglichen Fluchtgefahr könne im
vorzeitigen Strafvollzug ebenso effizient begegnet werden wie durch
Sicherheitshaft. Der Zweck des Strafverfahrens werde durch die beantragte
Änderung des Haftregimes nicht gefährdet. Die Verweigerung des vorzeitigen
Strafantrittes beruhe auf einer willkürlichen Anwendung des kantonalen
Strafprozessrechtes. Ausserdem verletze der angefochtene Entscheid die
persönliche Freiheit des Beschwerdeführers sowie die richterliche
Begründungspflicht.

4.
Nach Zürcher Strafprozessrecht wird der vorzeitige Strafantritt bewilligt, wenn
die Anordnung einer unbedingten Strafe zu erwarten ist und der Zweck des
Strafverfahrens nicht gefährdet wird (§ 71a Abs. 3 StPO/ZH). Mit dem Eintritt
in die Vollzugsanstalt tritt die beschuldigte Person ihre Strafe an; sie
untersteht von diesem Zeitpunkt an dem Vollzugsregime, wenn der
strafprozessuale Haftzweck dem nicht entgegensteht (vgl. Art. 84 Abs. 2 StGB).

5.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes stellt der vorzeitige Strafantritt
seiner Natur nach eine strafprozessuale Zwangsmassnahme auf der Schwelle
zwischen Strafverfolgung und Strafvollzug dar. Er soll ermöglichen, dass dem
Angeschuldigten bereits vor einer rechtskräftigen Urteilsfällung verbesserte
Chancen auf Resozialisierung im Rahmen des Strafvollzuges geboten werden können
(BGE 133 I 270 E. 3.2.1 S. 277). Für eine Fortdauer der strafprozessualen Haft
in den Modalitäten des vorzeitigen Strafvollzuges müssen weiterhin Haftgründe
gegeben sein. Alle strafprozessualen Häftlinge können sich auf die
Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV) berufen und gestützt auf Art. 31 Abs. 4
BV jederzeit ein Haftentlassungsgesuch stellen (BGE 133 I 270 E. 2 S. 275 f.;
126 I 172 E. 3a-b S. 174 f.; je mit Hinweisen).
Haftbedingungen müssen vor dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf persönlichen
Freiheit standhalten und verhältnismässig sein (Art. 10 Abs. 2 und Art. 31 Abs.
1 i.V.m. Art. 36 Abs. 3 BV). Das Haftregime darf nicht strenger ausfallen, als
der jeweilige Haftzweck es sachlich erfordert (BGE 123 I 221 E. I/4c S. 228;
118 Ia 64 E. 2d S. 73 f.; je mit Hinweisen). Für den vorzeitigen Strafvollzug
ist, auch wenn er in einer Strafanstalt erfolgt, grundsätzlich das Haftregime
der Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft massgebend. Die für den ordentlichen
Strafvollzug geltenden Vollzugserleichterungen können nach Massgabe der
Erfordernisse des Verfahrenszweckes und gemäss den Notwendigkeiten, die sich
aus dem jeweils bestehenden besonderen Haftgrund (etwa Kollusionsgefahr)
ergeben, beschränkt werden (BGE 133 I 270 E. 3.2.1 S. 278; 123 I 221 E. I/4c S.
228; 118 Ia 64 E. 2d S. 73 f.; 117 Ia 257 E. 3c S. 259 f.; je mit Hinweisen).

6.
Dass die Bewilligung des vorzeitigen Strafantrittes nach Zürcher
Strafverfahrensrecht zwangsläufig von einem "lückenlosen Geständnis" des
Angeklagten abhängig sein sollte, findet im kantonalen Strafprozessgesetz keine
Stütze (vgl. Benjamin F. Brägger, Basler Kommentar StGB, Bd. I, 2. Aufl., Basel
2007, Art. 75 N. 16; Niklaus Schmid, Strafprozessrecht, 4. Aufl., Zürich 2004,
Rz. 693; derselbe, in: Donatsch/ Schmid, Kommentar zur Strafprozessordnung des
Kantons Zürich, Zürich 1999, § 36 N. 4-6). Eine solche Voraussetzung wäre denn
auch sachlich nur schwer zu rechtfertigen. Sie stünde im Spannungsverhältnis zu
fundamentalen Verteidigungsrechten, namentlich dem Recht des Angeschuldigten,
sich nicht selbst zu belasten oder die Aussage zu verweigern (§ 11 und § 154
StPO/ZH).
Im vorliegenden Fall erscheint die von den kantonalen Behörden dargelegte
Kollusionsgefahr nicht derart ausgeprägt, dass eine Bewilligung des vorzeitigen
Strafvollzuges den Haftzweck und die Ziele des Strafverfahrens gefährden würde.
Dabei ist namentlich zu berücksichtigen, dass die Strafuntersuchung
abgeschlossen ist und die notwendigen Konfrontationen unbestrittenermassen
erfolgt sind. Ausserdem hat der Angeklagte ein Teilgeständnis abgelegt und die
gerichtliche Hauptverhandlung steht kurz bevor. Der Beschwerdeführer befindet
sich seit mehr als einem Jahr im strengen Haftregime der Untersuchungs- und
Sicherheitshaft. Die kantonalen Behörden behaupten nicht, dass er als besonders
gefährlich oder undiszipliniert einzustufen wäre bzw. dass er Fluchtversuche
unternommen hätte. Ebenso wenig werden konkrete Verdunkelungshandlungen oder
Kollusionsversuche dargelegt.
Für den vorzeitigen Strafantritt ist grundsätzlich das Haftregime der
Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft massgebend (BGE 133 I 270 E. 3.2.1 S. 277).
Auch im vorzeitigen Strafvollzug muss daher ein Mindestmass an Sicherheit,
darunter auch eine gewisse Beschränkung und Kontrolle von Aussenkontakten,
gewährleistet sein. Eine entsprechende differenzierte Behandlung von
strafprozessualen Häftlingen und Gefangenen im ordentlichen Strafvollzug (etwa
hinsichtlich Urlaubs- und Besuchsregelung oder Kontrolle des Brief- und
Telefonverkehrs usw.) hält vor der Verfassung stand (vgl. BGE 133 I 270 E.
3.2.1 S. 278; 123 I 221 E. I/4c S. 228; 118 Ia 64 E. 2d S. 73 f., E. 3n-q S.
88; 117 Ia 257 E. 3c S. 259 f.; je mit Hinweisen). Art. 84 Abs. 2 Satz 1 StGB
bestimmt (selbst für den ordentlichen Strafvollzug), dass Aussenkontakte
kontrolliert und zum Schutz der Ordnung und Sicherheit der Strafanstalt
beschränkt oder untersagt werden können. Zwar wäre eine Überwachung von
Besuchen (ohne Wissen der Beteiligten) im ordentlichen Strafvollzug in der
Regel nicht zulässig (Art. 84 Abs. 2 Satz 2 StGB). Zur Sicherstellung einer
Strafverfolgung behält das Gesetz jedoch "strafprozessuale Massnahmen"
ausdrücklich vor (Art. 84 Abs. 2 Satz 3 StGB).
Bei Berücksichtigung sämtlicher Umstände erscheint die Verweigerung des
vorzeitigen Strafantrittes im vorliegenden konkreten Fall unverhältnismässig.

7.
Die Beschwerde ist gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben, und dem
Beschwerdeführer ist antragsgemäss der vorzeitige Strafantritt zu bewilligen
(vgl. Art. 107 Abs. 2 BGG).
Gerichtskosten sind nicht zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Dem anwaltlich
vertretenen Beschwerdeführer ist für das Verfahren vor Bundesgericht eine
angemessene (pauschale) Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 68 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der angefochtene Entscheid vom 25. Juni 2009
des Bezirksgerichtes Zürich, Haftrichterin, wird aufgehoben, und dem
Beschwerdeführer wird der vorzeitige Strafantritt bewilligt.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Zürich (Kasse des Bezirksgerichtes Zürich) hat dem Beschwerdeführer
eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- zu entrichten.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft II des Kantons
Zürich und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichterin, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 6. November 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Forster