Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.194/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_194/2009

Urteil vom 8. Dezember 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Fonjallaz, Eusebio,
Gerichtsschreiber Störi.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Felix Thommen,

gegen

Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, Hirschengraben 13/15, Postfach
2401, 8021 Zürich.

Gegenstand
Ehrverletzung; unentgeltliche Rechtspflege und Kautionierung,

Beschwerde gegen den Beschluss vom 11. Juni 2009 des Obergerichts des Kantons
Zürich, I. Strafkammer.
Sachverhalt:

A.
Mit Eingabe vom 27. Januar 2008 ans Bezirksgericht Bülach verlangte X.________,
Y.________ wegen übler Nachrede, eventualiter wegen Verleumdung, zu bestrafen.
Zur Begründung führte er an, es sei am 20. September 2007 in Dietlikon zwischen
ihm und Y.________ zu einem Unfall gekommen. Er sei dabei verletzt worden und
habe gegen sie Strafanzeige wegen fahrlässiger Körperverletzung erhoben. In
diesem Zusammenhang sei Y.________ am 15. Oktober 2007 polizeilich befragt
worden. Dabei habe sie Folgendes zu Protokoll gegeben:
"Mir wurde durch einen Gast telefonisch mitgeteilt, dass es sich bei X.________
um einen Betrüger handelt, ich solle vorsichtig sein. X.________ schulde einem
weiteren Kollegen Geld. Ich könne ihn gerne als Zeugen nehmen, falls X.________
mich unter Druck setzen möchte, damit er von mir Schmerzensgeld erwirken kann.
(..) Es passt jedoch zum Umstand, dass X.________ nun gegen mich Strafantrag
stellt."
Am 6. Februar 2009 sprach das Bezirksgericht Bülach die von X.________
angeklagte Y.________ vollumfänglich frei. Es auferlegte die Verfahrenskosten
dem Ankläger und verpflichtete ihn zudem, der Freigesprochenen eine
Parteientschädigung zu bezahlen.

B.
X.________ erhob gegen dieses Urteil Berufung beim Obergericht des Kantons
Zürich. Dieses erwog, als Ankläger im Ehrverletzungsprozess sei X.________
grundsätzlich zur Sicherstellung der Kosten des Rechtsmittelverfahrens und der
Prozessentschädigung verpflichtet, da er zahlungsunfähig sei. Er habe zwar ein
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt, welches
indessen abzuweisen sei, da die Berufung aussichtslos sei. Es setzte X.________
mit Beschluss vom 11. Juni 2009 eine Frist von 20 Tagen zur Leistung einer
Prozesskaution, mit der Androhung, dass bei Säumnis auf die Berufung nicht
eingetreten werde.

C.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, diesen Beschluss aufzuheben
und seiner Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Ausserdem ersucht er
um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

D.
Am 22. Juli 2009 erkannte das präsidierende Mitglied der I.
öffentlich-rechtlichen Abteilung der Beschwerde aufschiebende Wirkung zu.

E.
Das Obergericht verzichtet auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Der angefochtene Entscheid schliesst das vom Beschwerdeführer angestrengte
Strafverfahren nicht ab, es handelt sich somit um einen Zwischenentscheid in
Strafsachen. Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen zulässig sofern er einen
nicht wieder gutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur bewirken kann (Art. 78
Abs. 1, Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Das ist hier ohne Weiteres gegeben, droht
doch dem bedürftigen Beschwerdeführer der Prozessverlust, wenn das Eintreten
auf seine Berufung von einer Prozesskaution abhängig gemacht wird, die er nicht
aufbringen kann. Der Beschwerdeführer hat im kantonalen Verfahren die Anklage
alleine vertreten und ist damit zur Beschwerde befugt (Art. 81 Abs. 1 Ziff. 4
BGG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen
Anlass, sodass auf die Beschwerde einzutreten ist.

2.
Das Obergericht hat erwogen, es gebe in der Zürcher Strafprozessordnung keine
Bestimmungen über die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und der
unentgeltlichen Rechtsvertretung. Hingegen habe der bedürftige Ankläger, dessen
Rechtsbegehren nicht aussichtslos sei, gestützt auf Art. 29 Abs. 3 BV Anspruch
auf unentgeltliche Rechtspflege, soweit es für die Wahrung seiner Rechte
notwendig sei. Vorliegend sei die Mittellosigkeit des Beschwerdeführers
erstellt. Hingegen sei die von ihm erhobene Berufung aussichtslos.

2.1 Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege ergibt sich, soweit das
kantonale Recht keine weitergehenden Ansprüche gewährt, als Minimalgarantie aus
Art. 29 Abs. 3 BV. Nach dieser Verfassungsbestimmung hat jede Person, die nicht
über die erforderlichen Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche
Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es
zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf
unentgeltlichen Rechtsbeistand (vgl. BGE 127 I 202 E. 3 S. 204 f.). Mit dem
verfassungsrechtlichen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege soll verhindert
werden, dass dem bedürftigen Rechtsuchenden der Zugang zu Gerichts- und
Verwaltungsinstanzen in nicht zum Vornherein aussichtslosen Verfahren wegen
seiner wirtschaftlichen Verhältnisse verwehrt oder erschwert wird (vgl. BGE 110
Ia 87 E. 4 S. 90). Dieses Recht gewährleistet der bedürftigen Person, dass die
entsprechende Gerichts- oder Verwaltungsinstanz ohne vorherige Hinterlegung
oder Sicherstellung von Kosten tätig wird. Indessen garantiert der Anspruch auf
unentgeltliche Rechtspflege keine definitive Übernahme der Kosten durch den
Staat. Gelangt die bedürftige Person im Laufe des Verfahrens oder aufgrund des
Prozessausgangs in den Besitz ausreichender Mittel, kann ihr die unentgeltliche
Rechtspflege verweigert oder wieder entzogen werden. Aufgrund der Rechtswohltat
ausbezahlte Beträge können ferner selbst nach Erledigung des Prozesses
zurückverlangt werden, wenn sich die wirtschaftliche Situation des Begünstigten
ausreichend verbessert hat (BGE 122 I 322 E. 2c S. 324; 110 Ia 87 E. 4 S. 90;
99 Ia 437 E. 2 S. 439; je mit Hinweisen).

2.2 Als aussichtslos sind nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung Begehren
anzusehen, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die
Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können.
Dagegen gilt ein Begehren nicht als aussichtslos, wenn sich Gewinnaussichten
und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten oder die Gewinnaussichten nur
wenig geringer sind als die Verlustgefahren. Massgebend ist, ob eine Partei,
die über die nötigen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zu einem
Prozess entschliessen würde. Eine Partei soll einen Prozess, den sie auf eigene
Rechnung und Gefahr nicht führen würde, nicht auf Kosten des Gemeinwesens
anstrengen können. Die Prozesschancen sind in vorläufiger und summarischer
Prüfung des Prozessstoffes abzuschätzen. Ob ein Begehren aussichtslos
erscheint, beurteilt sich aufgrund der Verhältnisse im Zeitpunkt des Gesuchs
(BGE 133 III 614 E. 5 S. 616; 129 I 129 E. 2.3.1 S. 135 f.; je mit Hinweisen).

3.
3.1 Das Obergericht hat im angefochtenen Entscheid ohne nähere Begründung
angenommen, das Bezirksgericht habe das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers
verletzt, indem es die ihm am 4. Februar 2009 zugestellten Eingaben der
Angeklagten - ein Sistierungsgesuch für den Fall, dass das
Ehrverletzungsverfahren gegen sie nicht ohnehin eingestellt werde und eine
Kopie der von ihr gegen den Beschwerdeführer wegen Betrugs, Irreführung der
Rechtspflege und falscher Anschuldigung eingereichten Strafanzeige - dem
Beschwerdeführer nicht zur Stellungnahme zugestellt habe. Das würde indessen
nicht zur Aufhebung des bezirksgerichtlichen Urteils führen.

3.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Berufung müsste schon aus
prozessualen Gründen gutgeheissen werden, da das Bezirksgericht seinen Anspruch
auf rechtliches Gehör verletzt habe, indem es ihm eine Eingabe der Angeklagten
welche es zwischen der Hauptverhandlung und der Urteilsfällung erhalten habe,
nicht zur Stellungnahme zugestellt habe. Das Obergericht habe anerkannt, dass
darin eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liege. Eine Verletzung des
Gehörsanspruchs führe nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts in der Regel
zur Aufhebung des mit diesem Mangel behafteten Entscheids. Dennoch sei das
Obergericht auch in diesem Punkt zum überraschenden Schluss gekommen, die
Erfolgsaussichten seiner Berufung wären schlecht.

3.3 Die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch ein Gericht führt
wegen dessen formeller Natur in der Regel zur Aufhebung des mit diesem Mangel
behafteten Entscheids; eine Heilung ist nur ausnahmsweise zulässig (BGE 126 I
68 E. 2 mit Hinweisen; zur Veröffentlichung bestimmter Entscheid des
Bundesgerichts 8C_321/2009 9. September 2009, E. 2.3). Das Obergericht hätte
somit wenigstens kurz begründen müssen, weshalb die Berufung des
Beschwerdeführers trotz der von ihm festgestellten Gehörsverletzung
aussichtslos war.
Von einer Gehörsverletzung kann indessen keine Rede sein. Das Bezirksgericht
hat das Beweisverfahren mit dem Abschluss der Hauptverhandlung vom 13. Januar
2009 beendet. Sein Urteil vom 6. Februar 2009 stützt sich ausschliesslich auf
die an der Hauptverhandlung gewonnene Überzeugung, die Berücksichtigung neuer,
nach Abschluss der Hauptverhandlung eingegangener Beweismittel ist
ausgeschlossen (Gérard Piquerez, Précis de procédure pénale suisse, Lausanne
1994, N. 2081 S. 393). Die dem Bezirksgericht nach der Hauptverhandlung
zugestellten Eingaben waren daher von vornherein nicht geeignet, das
bezirksgerichtliche Urteil zu beeinflussen. Dieses war daher verfassungsmässig
nicht verpflichtet, sie vor der Urteilsfällung der Gegenpartei zur Kenntnis-
oder Stellungnahme zuzustellen. Die Gehörsverweigerungsrüge war somit, entgegen
der Auffassung des Obergerichts, unbegründet. Seine Folgerung, die Rüge sei
aussichtslos, ist demgegenüber im Ergebnis zutreffend.

4.
4.1 Wer gegenüber einem Dritten zum Ausdruck bringt oder den Verdacht äussert,
jemand habe eine strafbare Handlung begangen, macht sich im Prinzip der üblen
Nachrede im Sinn von Art. 173 Ziff. 1 StGB schuldig. Ob eine Aussage
ehrenrührig ist, beurteilt sich nach dem Sinn, den ihr ein unbefangener
Adressat unter den gegebenen Umständen bei einer objektiven Auslegung beimessen
würde; die Aussagen sind im Zusammenhang zu würdigen, in dem sie gemacht wurden
(BGE 128 IV 53 E. 1a mit Hinweisen). Bei Aussagen von Angeschuldigten gegenüber
Untersuchungs- und Gerichtsbehörden darf eine strafbare Ehrverletzung nur mit
grosser Zurückhaltung angenommen werden. Diese richten sich von vornherein nur
an die zuständigen Untersuchungs- und Gerichtsbehörden sowie die Gegenparteien
und damit an Personen, denen bewusst sein muss, dass sie dazu dienen, den
Vorwurf einer strafbaren Handlung abzuwehren und nicht die Ehre des Anklägers
oder Belastungszeugen zu verletzen. Der Angeschuldigte darf im Strafverfahren
zu seiner Verteidigung ihm vom Hörensagen bekannte, unsichere und unüberprüfte
Umstände nennen, die geeignet sind, die Glaubwürdigkeit eines Anklägers oder
Belastungszeugen in Frage zu stellen und damit die Beweiskraft ihrer Aussagen
zu schmälern. Es wäre mit seinen verfassungsmässigen Verteidigungsrechten
unvereinbar, wenn er befürchten müsste, wegen derartiger, möglicherweise
ehrenrühriger Aussagen strafrechtlich verfolgt zu werden. Wer in einem
Strafverfahren eine belastende Aussage macht, ist nicht in seiner Ehre
verletzt, wenn sie der Angeschuldigte bestreitet, sondern hat dies als
zulässige Verteidigungsmassnahme zu akzeptieren, auch wenn er im Ergebnis als
(unehrenhafter) Lügner dastehen mag (BGE 118 IV 248 E. 2b).
Selbst wenn man indessen in einem solchen Fall eine Ehrverletzung bejahen
wollte, so könnte sie unter dem Gesichtspunkt von Art. 14 StGB erlaubt sein
durch die Verpflichtung, am Strafverfahren teilzunehmen. Die ehrverletzende
Aussage wäre jedenfalls dann rechtmässig, wenn sie in einem sachlichen
Zusammenhang mit dem Streitgegenstand steht, notwendig ist und nicht wider
besseres Wissen erfolgt sowie Vermutungen als solche bezeichnet werden (BGE 118
IV 248 E. 2c; 116 IV 211 E. 4b/aa zu Art. 32 aStGB; siehe auch den Entscheid
des Bundesgerichts 6S.490/2002 vom 9. Januar 2004, E. 3.2.2 in Bezug auf einen
Parteivertreter).

4.2 Y.________ durfte sich als Angeschuldigte gegen die Vorwürfe des
Beschwerdeführers zur Wehr setzen und dabei auch seine generelle
Glaubwürdigkeit in Frage stellen. Eine Vorstrafe wegen Betrugs wäre dieser
zweifellos abträglich und bei der Würdigung seiner belastenden Aussagen
entsprechend zu werten. Ein sachlicher Zusammenhang zwischen dem Betrugsvorwurf
und der Wahrnehmung der Verteidigungsrechte durch Y.________ ist damit zu
bejahen. Sie hat auch klargemacht, dass sie den Vorwurf von einem ihr nicht
näher bekanntem Dritten erfahren hat und seinen Wahrheitsgehalt selber nicht
beurteilen kann. Auf dem Hintergrund der in E. 4.1 angeführten Rechtsprechung
ist jedenfalls im Ergebnis nicht zu beanstanden, dass das Obergericht bei
seiner summarischen Beurteilung der Prozessaussichten zum Schluss gekommen ist,
die Verlustgefahren der Berufung seien erheblich höher als die
Gewinnaussichten.

5.
Damit ist die Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der
Beschwerdeführer grundsätzlich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat
zwar ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt,
welches indessen abzuweisen ist, da die Beschwerde aussichtslos war (Art. 64
Abs. 1 BGG). Es rechtfertigt sich hingegen, von einer Kostenauflage abzusehen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
2.1 Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird
abgewiesen.

2.2 Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Obergericht des Kantons Zürich,
I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 8. Dezember 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Störi