Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.178/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_178/2009

Urteil vom 10. Juli 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Eusebio,
Gerichtsschreiber Dold.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch
Advokat Dieter Gysin,

gegen

Statthalteramt Arlesheim, Kirchgasse 5,
4144 Arlesheim.

Gegenstand
Untersuchungshaft,

Beschwerde gegen den Beschluss vom 8. Juni 2009
des Verfahrensgerichts in Strafsachen des Kantons Basel-Landschaft,
Präsidentin.
Sachverhalt:

A.
Das Statthalteramt Arlesheim setzte X.________ mit Haftbefehl vom 25. Mai 2009
in Untersuchungshaft. Es wirft ihm unter anderem Betrug, Urkundenfälschung,
Diebstahl, Zechprellerei und Sachentziehung vor. Neben dringendem Tatverdacht
bestehe Flucht-, Fortsetzungs- und Kollusionsgefahr. Mit Schreiben vom 26. Mai
2009 erhob X.________ Beschwerde gegen den Haftbefehl. Das Statthalteramt
beantragte in seiner Stellungnahme neben der Abweisung der Beschwerde die
Verlängerung der Untersuchungshaft um vier Monate. Mit Beschluss vom 8. Juni
2009 wies die Präsidentin des Verfahrensgerichts in Strafsachen des Kantons
Basel-Landschaft die Haftbeschwerde ab und ordnete die Fortsetzung der
Untersuchungshaft um vier Monate bis zum 8. Oktober 2009 an. Sie bejahte das
Vorliegen von Fortsetzungsgefahr und liess offen, ob auch Flucht- und
Kollusionsgefahr bestehen.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht vom 19. Juni 2009 beantragt
X.________, der Beschluss der Präsidentin des Verfahrensgerichts in Strafsachen
vom 8. Juni 2009 sei aufzuheben und er selbst sei aus der Haft zu entlassen,
eventualiter unter Anordnung geeigneter Ersatzmassnahmen. Subeventualiter sei
die Untersuchungshaft auf acht Wochen zu begrenzen. Mit Eingabe vom 24. Juni
2009 stellt X.________ zudem ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege nach
Art. 64 BGG.

Das Statthalteramt Arlesheim und die Präsidentin des Verfahrensgerichts in
Strafsachen beantragen die Abweisung der Beschwerde. Der Beschwerdeführer hält
in seiner Stellungnahme dazu im Wesentlichen an seinen Anträgen und
Rechtsauffassungen fest.

Erwägungen:

1.
1.1 Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen
Entscheide in Strafsachen. Ein kantonales Rechtsmittel gegen den angefochtenen
Entscheid steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach Art. 80 i.V.m.
Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer nahm vor der Vorinstanz am
Verfahren teil und hat ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des
angefochtenen Entscheids. Er ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde
berechtigt. Das Bundesgericht kann nach Art. 107 Abs. 2 BGG bei Gutheissung der
Beschwerde in der Sache selbst entscheiden. Deshalb ist der Antrag auf
Haftentlassung zulässig. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt
sind, ist auf die Beschwerde unter Vorbehalt der nachfolgenden Erwägung
einzutreten.

1.2 Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe von der beantragten
mündlichen Verhandlung abgesehen, obwohl es einer solchen gemäss § 85 Abs. 5
des Gesetzes des Kantons Basel-Landschaft vom 3. Juni 1999 betreffend die
Strafprozessordnung (StPO/BL; SGS 251) bedurft hätte. Der Beschwerdeführer
macht in dieser Hinsicht jedoch keinen Beschwerdegrund nach Art. 95 ff. BGG
geltend. Auf seine Rüge ist deshalb nicht einzutreten.

2.
2.1 Die Untersuchungshaft schränkt die persönliche Freiheit des
Beschwerdeführers ein (Art. 10 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 BV, Art. 5 EMRK). Eine
Einschränkung dieses Grundrechts ist zulässig, wenn sie auf einer gesetzlichen
Grundlage beruht, im öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist;
zudem darf sie den Kerngehalt des Grundrechts nicht beeinträchtigen (Art. 36
BV). Im vorliegenden Fall steht ein Freiheitsentzug und damit eine
schwerwiegende Einschränkung der persönlichen Freiheit in Frage. Es bedarf
deshalb sowohl nach Art. 36 Abs. 1 Satz 2 BV als auch nach Art. 31 Abs. 1 BV
einer Grundlage im Gesetz selbst.

Nach § 77 Abs. 1 StPO/BL ist die Verhaftung einer Person nur zulässig, wenn
diese eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt wird, deshalb gegen
sie ein Strafverfahren eröffnet worden ist und einer der in lit. a bis c
aufgezählten besonderen Haftgründe vorliegt. Der Beschwerdeführer bestreitet
den dringenden Tatverdacht nicht. Er wendet sich jedoch gegen die Annahme des
besonderen Haftgrundes der Fortsetzungsgefahr und macht in diesem Zusammenhang
implizit eine Verfassungsverletzung geltend.

2.2 Gemäss § 77 Abs. 1 lit. c StPO/BL besteht Fortsetzungsgefahr, wenn aufgrund
konkreter Indizien ernsthaft zu befürchten ist, die betroffene Person werde die
Freiheit zur Fortsetzung ihrer deliktischen Tätigkeit benützen, sofern diese
eine erhebliche Gefahr für Leib, Leben, Freiheit oder Eigentum anderer Personen
darstellt.
Nach der Praxis des Bundesgerichts kann die Anordnung von Haft wegen
Fortsetzungsgefahr dem strafprozessualen Ziel der Beschleunigung dienen, indem
verhindert wird, dass sich das Verfahren durch immer neue Delikte kompliziert
und in die Länge zieht. Auch die Wahrung des Interesses an der Verhütung
weiterer Delikte ist nicht verfassungs- oder konventionswidrig. Vielmehr
anerkennt Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK ausdrücklich die Notwendigkeit,
Angeschuldigte an der Begehung strafbarer Handlungen zu hindern, somit
Spezialprävention, als Haftgrund (BGE 135 I 71 E. 2.2 S. 72 mit Hinweisen).
Bei der Annahme, dass der Angeschuldigte weitere Verbrechen oder erhebliche
Vergehen begehen könnte, ist allerdings Zurückhaltung geboten. Die
Aufrechterhaltung von strafprozessualer Haft wegen Fortsetzungsgefahr ist nur
dann verhältnismässig, wenn einerseits die Rückfallprognose sehr ungünstig und
anderseits die zu befürchtenden Delikte von schwerer Natur sind. Schliesslich
gilt auch bei der Präventivhaft - wie bei den übrigen Haftarten - dass sie nur
als "ultima ratio" angeordnet oder aufrecht erhalten werden darf. Wo sie durch
mildere Massnahmen ersetzt werden kann, muss von der Anordnung oder Fortdauer
der Haft abgesehen und an ihrer Stelle eine dieser Ersatzmassnahmen verfügt
werden (BGE 135 I 71 E. 2.3 S. 73 mit Hinweisen).

2.3 Bei Beschwerden, die gestützt auf das Recht der persönlichen Freiheit (Art.
10 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 BV, Art. 5 EMRK) wegen der Ablehnung eines
Haftentlassungsgesuches erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf
die Schwere des Eingriffs die Auslegung und Anwendung des kantonalen
Prozessrechts frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfragen und damit Fragen der
Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur ein, wenn die
tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz offensichtlich unrichtig sind oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen (Art. 97 Abs. 1
i.V.m. Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 135 I 71 E. 2.5 S. 73 f. mit Hinweis).

2.4 Die Vorinstanz erwog, das Statthalteramt Arlesheim habe gegen den
Beschwerdeführer zwölf Verfahren eröffnet, vor allem wegen Betrug, Diebstahl
und Urkundenfälschung. In einem Verfahren sei bereits die Verfolgungsverjährung
eingetreten. Es lägen einschlägige Vorstrafen vor, wie aus dem
Strafregisterauszug vom 6. Juli 2004 ersichtlich sei. Zudem sei der
Beschwerdeführer zurzeit mehrfach im automatisierten Polizeifahndungssystem
(RIPOL) ausgeschrieben. Das Untersuchungsrichteramt I in Biel führe gegen ihn
ein Verfahren wegen Betrug durch (Tatzeit: 15. August 2001). Ebenfalls wegen
Betrug sei er vom Untersuchungsrichteramt Oberwallis ausgeschrieben (Tatzeit:
1. Oktober 2001 bis 30. November 2001). Der Juge d'instruction de
l'arrondissement de l'est vaudois habe den Beschwerdeführer wegen Diebstahl,
Veruntreuung, Betrug und Urkundenfälschung ausgeschrieben (Tatzeit: 1. Mai 2006
bis 31. Oktober 2007). Die bis in die 1970er-Jahre zurückreichenden Vorstrafen
und die hängigen Verfahren liessen auf eine sehr ungünstige Rückfallprognose
schliessen. Zudem sei das Unternehmen des Beschwerdeführers nicht im
Handelsregister eingetragen, weshalb zu befürchten sei, dass er auch in dieser
Hinsicht Falschangaben gemacht haben könnte. Schliesslich habe sich der
Beschwerdeführer erst Anfang März 2009 bei den Behörden in Camorino angemeldet,
obwohl er nach eigenen Angaben bereits seit fünf Jahren dort wohne.

2.5 Diese Ausführungen der Vorinstanz überzeugen nicht. Zunächst ist
festzuhalten, dass gemäss Art. 369 Abs. 7 Satz 2 StGB aus dem Strafregister
entfernte Urteile dem Betroffenen nicht mehr entgegengehalten werden dürfen.
Das Bundesgericht hat in BGE 135 I 71 dargelegt, dass Art. 369 StGB auch vom
Haftrichter zu beachten ist. Aus dem Strafregister entfernte Vorstrafen sind
deshalb bei der Prüfung des strafprozessualen Haftgrundes der
Fortsetzungsgefahr grundsätzlich nicht zu berücksichtigen (a.a.O., E. 2.11 S.
76 f.). Die Vorinstanz hätte sich zur Begründung der Fortsetzungsgefahr nicht
auf den Strafregisterauszug vom 6. Juli 2004 stützen dürfen, da dessen Einträge
in einem aktuellen Auszug nicht mehr ausgewiesen würden (vgl. dazu die Fristen
in Art. 369 Abs. 1 StGB sowie Ziff. 3 Abs. 2 der Schlussbestimmungen der
Änderung vom 13. Dezember 2002).

Zur Beurteilung stehen somit strafrechtliche Vorwürfe, die sich auf die Jahre
1995 bis 1998 und 2004 beziehen. Hinzu kommen Ausschreibungen im RIPOL durch
Strafverfolgungsbehörden der Kantone Bern, Wallis und Waadt, welche
mutmassliche Straftaten aus den Jahren 2001, 2006 und 2007 zum Gegenstand
haben. Die Delikte können als von mittlerer Schwere bezeichnet werden. In den
vom Statthalteramt Arlesheim geführten Verfahren beläuft sich der Deliktsbetrag
laut dem Haftverlängerungsantrag vom 29. Mai 2009 auf ca. Fr. 75'000.--, wovon
die Vorinstanz indessen Fr. 6'000.-- als nicht nachvollziehbar bezeichnete. Der
Deliktsbetrag, welcher den in den anderen Kantonen geführten Untersuchungen zu
Grunde liege, betrage Fr. 63'000.--. Bedeutsam ist, dass es für die Zeit seit
November 2007 keine Hinweise mehr auf eine deliktische Tätigkeit des
Beschwerdeführers gibt.

Ob der Beschwerdeführer im Zusammenhang mit seinem Immobilienunternehmen gegen
eine firmen- oder handelsregisterrechtliche Bestimmung verstossen hat, scheint
für die Frage der Fortsetzungsgefahr nicht ausschlaggebend. Aus der von der
Vorinstanz angeführten Stelle des Einvernahmeprotokolls vom 25. Mai 2009 lassen
sich im Übrigen auch keine klaren Schlüsse ziehen, zumal der Beschwerdeführer
nicht zu einer Präzisierung seiner Antwort aufgefordert wurde. Auf die Frage
nach seiner finanziellen Situation wies der Beschwerdeführer damals auf das
Unternehmen hin, welches er mit einem Geschäftspartner führe und das unter
"A.________ und X.________" firmiere. Es handle sich um "separate Einzelfirmen"
(vgl. zur Firma von Einzelunternehmen Art. 945 Abs. 3 OR und zur vom
Jahresumsatz abhängigen Eintragungspflicht Art. 36 der
Handelsregisterverordnung vom 17. Oktober 2007 [HRegV; SR 221.411]).

Auch die verspätete Anmeldung bei den Behörden in Camorino, wo der
Beschwerdeführer gemäss eigenen Angaben schon seit fünf Jahren wohnt, ist für
die Beurteilung der Fortsetzungsgefahr nicht entscheidend. Zwischen der
Anmeldung und der Verhaftung, welche gut zweieinhalb Monate später stattfand,
gibt es keinen ersichtlichen Zusammenhang. Es ist deshalb davon auszugehen,
dass die Anmeldung nicht unter dem Eindruck des Strafverfahrens erfolgte.

Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der erhöhten Anforderungen, welche an
die Aufrechterhaltung von strafprozessualer Haft wegen Fortsetzungsgefahr
gestellt werden (E. 2.2 hiervor), erweist sich der angefochtene Entscheid als
nicht verfassungsmässig.

3.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Vorinstanz die Fortsetzungsgefahr zu
Unrecht als gegeben erachtete. Die Beschwerde ist deshalb gutzuheissen, soweit
darauf einzutreten ist. Es erübrigt sich, auf die weiteren Rügen des
Beschwerdeführers einzugehen. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben.

Daraus folgt indes nicht, dass auch das Haftentlassungsgesuch gutzuheissen ist.
Die Präsidentin des Verfahrensgerichts in Strafsachen liess im angefochtenen
Entscheid offen, ob andere besondere Haftgründe vorliegen. Sie führte in ihrer
Vernehmlassung im bundesgerichtlichen Verfahren jedoch aus, es sei auch
Fluchtgefahr gegeben. Es ist nicht Aufgabe des Bundesgerichts, diesen
besonderen Haftgrund im jetzigen Zeitpunkt zu prüfen. Die Angelegenheit ist
deshalb zur unverzüglichen Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die
Präsidentin des Verfahrensgerichts in Strafsachen wird insbesondere auch die
Möglichkeit von Ersatzmassnahmen zu prüfen haben.

Diesem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind im bundesgerichtlichen
Verfahren keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton
Basel-Landschaft hat dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung
zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Damit erweist sich das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege als gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf eingetreten wird. Der Beschluss
der Präsidentin des Verfahrensgerichts in Strafsachen des Kantons
Basel-Landschaft vom 8. Juni 2009 wird aufgehoben. Die Sache wird zur neuen
Beurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Das Haftentlassungsgesuch wird abgewiesen.

3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4.
Der Kanton Basel-Landschaft hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Statthalteramt Arlesheim und dem
Verfahrensgericht in Strafsachen des Kantons Basel-Landschaft, Präsidentin,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 10. Juli 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Dold