Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.166/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_166/2009

Urteil vom 30. Juni 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Eusebio,
Gerichtsschreiberin Gerber.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Hans Hegetschweiler,

gegen

Bezirksamt Baden, Ländliweg 2, 5400 Baden.

Gegenstand
Haft,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 8. Juni 2009
des Obergerichts des Kantons Aargau,
Präsidium der Beschwerdekammer.
Sachverhalt:

A.
Das Bezirksamt Baden führt gegen X.________ eine Strafuntersuchung u.a. wegen
Drohung, Nötigung, Gewalt und Drohung gegen Beamte, Beschimpfung von Polizisten
und mehrfachem falschen Alarm.
X.________ wird vorgeworfen, er habe am 8. April 2009 den Wohnort seines
früheren Anwalts, A.________, in Würenlos aufgesucht und habe der dort
angetroffenen Ehefrau C.________ des Anwalts gedroht, dass etwas passieren
würde, sollte ihr Ehemann nochmals ein Mahnungsschreiben (wegen eines
ausstehenden Resthonorars) an den Arbeitsort seiner Ehefrau, B.________,
zustellen. Daraufhin habe Rechtsanwalt A.________ darauf verzichtet, eine
Betreibung gegen B.________ anzuheben, die solidarisch für das Resthonorar
hafte.
Bei der am 4. Mai 2009 erfolgten Hafteröffnung sei X.________ gegenüber
Kantonspolizisten handgreiflich geworden und habe diese als "Arschlöcher" etc.
bezeichnet. Zudem habe er im Bezirksgefängnis Baden grundlos den Zellenalarm
betätigt.
Mit Verfügung des Präsidiums der Beschwerdekammer in Strafsachen des
Obergerichts des Kantons Aargau vom 11. Mai 2009 wurde die Untersuchungshaft
wegen Fortsetzungs- respektive Ausführungsgefahr bis zum Eingang der Anklage
bei Gericht verlängert.

B.
Mit Eingabe vom 8. Juni 2009 beantragte X.________ die Entlassung aus der
Untersuchungshaft und die Durchführung einer persönlichen Anhörung. Mit
Verfügung vom 8. Juni 2009 wies das Präsidium der Beschwerdekammer des
Obergerichts beide Gesuche ab.

C.
Dagegen hat X.________ am 11. Juni 2009 Beschwerde in Strafsachen erhoben. Er
beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und das Bezirksamt Baden
sei anzuweisen, ihn sofort aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Allenfalls
sei die Sache zur persönlichen Anhörung des Beschwerdeführers an die Vorinstanz
zurückzuweisen. Zudem ersucht X.________ um die Gewährung der unentgeltlichen
Prozessführung und Verbeiständung.

D.
Das Präsidium der Beschwerdekammer beantragt Abweisung der Beschwerde. Das
Bezirksamt Baden hat sich nicht vernehmen lassen.

E.
Mit Verfügung vom 10. Juni 2009 erteilte das Bezirksamt Baden Dr. med.
D.________ von der Psychiatrischen Klinik Königsfelden den Auftrag, über
X.________ ein Teilgutachten u.a. zur Frage der Fremdgefährdung zu erstellen.

Erwägungen:

1.
Da alle Sachurteilsvoraussetzungen vorliegen, ist auf die Beschwerde in
Strafsachen einzutreten (Art. 78 ff. BGG).

2.
Nach § 67 Abs. 1 und 2 der Aargauer Strafprozessordnung vom 11. November 1958
(StPO/AG) darf gegen den Beschuldigten ein Haftbefehl erlassen werden, wenn er
einer mit Freiheitsstrafe bedrohten Handlung dringend verdächtig und ausserdem
Flucht- oder Kollusionsgefahr besteht oder die Freiheit des Beschuldigten mit
Gefahr für andere verbunden ist, insbesondere, wenn eine Fortsetzung der
strafbaren Tätigkeit zu befürchten ist.
Bei Beschwerden, die gestützt auf das Recht der persönlichen Freiheit (Art. 10
Abs. 2, Art. 31 BV) wegen der Ablehnung eines Haftentlassungsgesuches erhoben
werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffes die
Auslegung und Anwendung des kantonalen Prozessrechtes frei. Soweit jedoch reine
Sachverhaltsfragen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind,
greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der
Vorinstanz offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im
Sinne von Art. 95 BGG beruhen (Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 105 Abs. 2 BGG).

3.
Das Präsidium des Obergerichts bejahte den Haftgrund der Fortsetzungs- und
Ausführungsgefahr. Es stützte sich auf ein psychiatrisches Gutachten vom 19.
April 2004, worin dem Beschwerdeführer ein erhöhtes Risiko von
fremdgefährdendem Verhalten damals "im familiären Kontext und gegenüber dem
Anwalt der Frau" attestiert worden sei. Seither sei der Beschwerdeführer vom
Bezirksamt Baden am 11. Januar 2005 wegen Beschimpfung, vom Obergericht Zürich
am 4. Mai 2007 wegen mehrfacher versuchter Nötigung, Drohung, Tätlichkeiten,
Hausfriedensbruchs und Sachbeschädigung sowie am 13. Januar 2009 vom
Bezirksgericht Baden wegen versuchter einfacher Körperverletzung, Gewalt und
Drohung gegen Beamte und versuchter Nötigung verurteilt worden und habe sich
insgesamt 62 Tage in Untersuchungshaft befunden.
Vor diesem Hintergrund und angesichts der ihm im Untersuchungsverfahren zur
Last gelegten gleichgelagerten Vorgehensmuster und massiver körperlicher
Aggressivität gegen die ihn festnehmenden Polizisten stehe dringend zu
befürchten, dass der Beschwerdeführer, der sich mit dem zumindest teilweise
anerkannten drohenden Auftreten gegenüber der Ehefrau seines ehemaligen Anwalts
von den bisher ergangenen Strafurteilen mit Ausfällung bedingter
Freiheitsstrafen und von der ausgestandenen Untersuchungshaftzeit völlig
unbeeindruckt zeige, seine Aggressionen nicht mehr zu zügeln vermöchte und es
zu Kontrollverlusten mit der Gefahr gravierender Beeinträchtigung von Dritten
kommen könnte. Dieser Gefahr könne wegen der offensichtlichen Unberechenbarkeit
des Gesuchstellers auch mit einem Rayonverbot nicht genügend begegnet werden,
da dieses die Einsichtsfähigkeit des Betroffenen voraussetzen würde.

4.
Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen von Ausführungsgefahr.
Er habe sich zum Haus seines ehemaligen Anwalts begeben und der dort anwesenden
Frau des Anwalts gesagt, ihr Mann dürfe B.________ nicht mehr mit Mahnbriefen
am Arbeitsplatz belästigen. Dies sei von Frau C.________ als Drohung verstanden
worden. Frau C.________ sei zuerst beim lokalen Polizeiposten vorstellig
geworden, wo man ihr gesagt habe, es handle sich nicht um eine Straftat. Erst
um den 4. Mai herum habe sie Strafanzeige beim regionalen Polizeiposten im
Bezirksamt Baden wegen Drohung gestellt. Das Verfahren sei auf den Tatbestand
der Nötigung ausgedehnt worden, nachdem Rechtsanwalt A.________ mitgeteilt
hatte, er habe es wegen der Drohung unterlassen, Frau B.________ zu betreiben.
Der Beschwerdeführer sei daraufhin am 4. Mai 2009 verhaftet worden. Bis dahin
seien jedoch drei Wochen vergangen, in denen nichts geschehen sei, obwohl
Rechtsanwalt A.________ den Beschwerdeführer und dessen Frau wegen eines
Resthonorars von Fr. 2'000.-- beim Friedensrichter eingeklagt habe. Alle
weiteren Vorwürfe gegen den Beschwerdeführer stammten aus der Haftzeit selbst
und werden vom Beschwerdeführer bestritten.
Der Beschwerdeführer bemängelt, die Ausführungsgefahr sei nicht genügend
festgestellt worden. Es sei nicht klar, welche Straftaten er bei der Entlassung
aus der Untersuchungshaft überhaupt begehen sollte. Der Staat beschränke sich
auf den diffusen Vorwurf der Fremdgefährdung, ohne diese jedoch genügend
abgeklärt zu haben. Das Gutachten aus dem Jahre 2004 genüge hierfür nicht.
Damals habe er eine Auseinandersetzung mit seiner Exfrau gehabt, und in diesem
Zusammenhang habe das Gutachten von Königsfelden ihm eine erhöhte
Gefährlichkeit bescheinigt. Er habe aber noch nie eine Drittperson angegriffen.
Der Beschwerdeführer verweist auf die Regelung im Bereich der fürsorgerischen
Freiheitsentziehung (Art. 397 a ff. ZGB), wonach die Einweisung in eine Anstalt
wegen angeblicher Fremdgefährdung aufgrund einer schweren psychischen Störung
nur aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens möglich sei, das sofort erstellt
werden müsse.
In diesem Zusammenhang rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung des
rechtlichen Gehörs, weil der Haftrichter es abgelehnt habe, ihn persönlich
anzuhören, obwohl dies ein geeignetes Beweismittel gewesen wäre, um sich von
der nicht bestehenden Ausführungsgefahr zu überzeugen.

5.
Bei der Annahme, dass der Angeschuldigte weitere Verbrechen oder erhebliche
Vergehen begehen könnte, ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
Zurückhaltung geboten. Da Präventivhaft einen schwerwiegenden Eingriff in das
Recht der persönlichen Freiheit darstellt, muss sie auf einer hinreichenden
gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und
verhältnismässig sein. Die Aufrechterhaltung von strafprozessualer Haft wegen
Fortsetzungs- oder Ausführungsgefahr ist verhältnismässig, wenn einerseits die
Rückfallprognose sehr ungünstig ist und anderseits die zu befürchtenden Delikte
von schwerer Natur sind. Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung
weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten
verübt werden, reichen dagegen nicht aus, um eine Präventivhaft zu begründen.
Schliesslich gilt auch bei der Präventivhaft - wie bei den übrigen Haftarten -
dass sie nur als "ultima ratio" angeordnet oder aufrecht erhalten werden darf.
Wo sie durch mildere Massnahmen ersetzt werden kann, muss von der Anordnung
oder Fortdauer der Haft abgesehen und an ihrer Stelle eine dieser
Ersatzmassnahmen verfügt werden (vgl. zum Ganzen BGE 135 I 71 E. 2.3 S. 73 mit
Hinweisen).

6.
Die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Straftaten wiegen nicht besonders
schwer; gleiches gilt für seine bisherigen Verurteilungen. Vor allem aber ist
keine akute Gefahr der Ausführung der angeblichen Drohung zu erkennen.
Zwar hat der Beschwerdeführer schon mehrfach Drohungen gegen Anwälte
(namentlich gegen den Anwalt seiner Ex-Frau im Scheidungsverfahren)
ausgesprochen; er hat diese Drohungen aber nie wahrgemacht. Auch im
vorliegenden Fall gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass er die ihm
vorgeworfene (sehr unbestimmte) Drohung gegenüber der Familie A.________ in die
Tat umsetzen werde. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass es in
den drei Wochen zwischen der Drohung und der Inhaftierung des Beschwerdeführers
zu keinen weiteren Vorfällen gekommen ist, obwohl Rechtsanwalt A.________
keineswegs auf sein Resthonorar verzichtet hat, sondern diesbezüglich ein
Verfahren vor dem Friedensrichter in Baden hängig ist.
Das in den Akten liegende Gutachten der Psychiatrischen Klinik Königsfelden vom
19. April 2004 bescheinigte dem Beschwerdeführer damals - vor fünf Jahren,
während des Scheidungsverfahrens - ein erhöhtes fremdgefährdendes Verhalten im
familiären Kontext und gegenüber dem Anwalt seiner Exfrau. Dagegen fand der
Gutachter keine Hinweise darauf, dass der Beschwerdeführer ausserhalb dieses
Beziehungskonflikts zu erhöhter Gewaltbereitschaft neige (Gutachten S. 7).
Rechtsanwalt A.________ ist nicht der Anwalt der Exfrau, sondern vertrat den
Beschwerdeführer in einem früheren Strafverfahren.
Allerdings ist der Beschwerdeführer seither mehrfach gegenüber Polizisten und
Betreibungsbeamten handgreiflich geworden. Insofern kann nicht völlig
ausgeschlossen werden, dass es in Zukunft wiederum zu Kontrollverlusten kommen
könnte, bei denen der Beschwerdeführer gewalttätig werden könnte. Insofern
rechtfertigt es sich, Ersatzmassnahmen anzuordnen, um zu verhindern, dass der
Beschwerdeführer Kontakt mit der Familie A.________ aufnimmt. Der
Beschwerdeführer hat sich bereits im Haftentlassungsgesuch mit einem Kontakt-
und/ oder Rayonverbot ausdrücklich einverstanden erklärt.

7.
Nach dem Gesagten erweist sich die Beschwerde als begründet. Der angefochtene
Entscheid ist aufzuheben und der Beschwerdeführer ist nach Anordnung von
Ersatzmassnahmen unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen.
Bei diesem Ausgang kann offen gelassen werden, ob eine Verletzung des
rechtlichen Gehörs vorliegt, weil der Haftrichter den Beschwerdeführer nicht
persönlich angehört hat.
Es sind keine Gerichtskosten zu erheben und dem Beschwerdeführer ist eine
Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 66 Abs. 4 und Art. 69 BGG). Der Antrag
auf unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Präsidiums der
Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Aargau vom 8. Juni 2009
aufgehoben. Die Sache wird an das Präsidium des Obergerichts zurückgewiesen, um
den Beschwerdeführer nach Anordnung von Ersatzmassnahmen unverzüglich aus der
Untersuchungshaft zu entlassen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren
mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Bezirksamt Baden und dem
Obergericht des Kantons Aargau, Präsidium der Beschwerdekammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 30. Juni 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Féraud Gerber