Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.152/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_152/2009

Urteil vom 14. Juli 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Raselli,
Gerichtsschreiberin Gerber.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Heinz Birchler,

gegen

Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl, Stauffacherstrasse 55, Postfach, 8026 Zürich.

Gegenstand
Untersuchungsverfahren, Verfahrensverzögerung,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 23. April 2009 der Oberstaatsanwaltschaft
des Kantons Zürich.
Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft Zürich ermittelt gegen X.________ wegen des Verdachts
des mehrfachen Betrugs, des mehrfachen betrügerischen Missbrauchs einer
Datenverarbeitungsanlage, der mehrfachen Veruntreuung, der mehrfachen
Urkundenfälschung sowie der Begünstigung, der Zechprellerei, des Erwerbs und
Konsums von Marihuana sowie Verstössen gegen das Strassenverkehrsgesetz.
X.________ wurde am 5. Juni 2007 verhaftet und am 7. Juni 2007 in
Untersuchungshaft versetzt. Am 18. Februar 2009 wurde er aus der Haft
entlassen.

B.
Am 13. Februar 2009 erhob X.________ Rekurs bei der Oberstaatsanwaltschaft des
Kantons Zürich wegen Verfahrensverschleppung. Am 23. April 2009 wies die
Oberstaatsanwaltschaft den Rekurs ab.

C.
Dagegen hat X.________ am 28. Mai 2009 Beschwerde ans Bundesgericht erhoben. Er
beantragt, es sei festzustellen, dass eine Verfahrensverzögerung vorliege; die
Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl sei anzuweisen, das Untersuchungsverfahren gegen
ihn ab sofort beförderlich zu führen. Eventualiter seien die Kosten- und
Entschädigungsfolgen im vorinstanzlichen Verfahren unter Berücksichtigung des
abgewiesenen Nichteintretensantrags der Staatsanwaltschaft angemessen zu
korrigieren. Zudem ersucht der Beschwerdeführer um unentgeltliche
Verbeiständung.

D.
Die Oberstaatsanwaltschaft beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten,
eventualiter sei sie abzuweisen. Die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl schliesst
auf Abweisung der Beschwerde.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist ein Entscheid der Oberstaatsanwaltschaft Zürich, der einen
Rekurs wegen Verschleppung eines Strafverfahrens abweist. Die Beschwerde
betrifft somit eine strafrechtliche Angelegenheit und ist als Beschwerde in
Strafsachen entgegen zu nehmen (Art. 78 ff. BGG). Nach § 409 der Zürcher
Strafprozessordnung (StPO/ZH) ist der Rekursentscheid der
Oberstaatsanwaltschaft endgültig und damit kantonal letztinstanzlich (Art. 80
Abs. 1 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG).

1.1 Der angefochtene Entscheid ist ein Zwischenentscheid i.S.v. Art. 93 Abs. 1
BGG, gegen den die Beschwerde in Strafsachen (abgesehen vom hier nicht
gegebenen Ausnahmefall nach Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG) nur zulässig ist, wenn
er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (lit. a). Dies wird
grundsätzlich bejaht, wenn - wie hier - eine ungerechtfertigte
Verfahrensverzögerung bzw. Rechtsverweigerung geltend gemacht wird (BGE 135 III
127 E. 1.3 S. 129; 134 IV 43 E. 2 S. 44 ff.; je mit Hinweisen).

1.2 Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung des in Art. 29 Abs. 1 und Art. 6
Ziff. 1 EMRK verankerten Beschleunigungsgebots. Die Verletzung von Grundrechten
wird vom Bundesgericht nicht von Amtes wegen geprüft, sondern nur insoweit, als
eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art.
106 Abs. 2 BGG). Für derartige Rügen gelten die gleichen
Begründungsanforderungen, wie sie gestützt auf Art. 90 Abs. 1 lit. b OG für die
staatsrechtliche Beschwerde gegolten haben (BGE 133 II 249 E. 1.4.2 S. 254 mit
Hinweisen). Die Beschwerdeschrift muss die wesentlichen Tatsachen und eine kurz
gefasste Darlegung darüber enthalten, welche verfassungsmässigen Rechte bzw.
welche Rechtssätze inwiefern durch den angefochtenen Erlass oder Entscheid
verletzt worden sind. Das Bundesgericht prüft nur klar und detailliert erhobene
und, soweit möglich, belegte Rügen; auf rein appellatorische Kritik am
angefochtenen Entscheid tritt es nicht ein (BGE 130 I 258 E. 1.3 S. 261 f. mit
Hinweisen). Inwieweit diese Anforderungen erfüllt sind, ist im Folgenden für
jede Rüge gesondert zu prüfen.

2.
Die Oberstaatsanwaltschaft überprüfte die Verfahrensführung ab Januar 2008 bis
zur Rekurserhebung am 13. Februar 2009, weil sie davon ausging, dass nur für
diese Periode eine Verfahrensverschleppung gerügt worden sei. Der
Beschwerdeführer bestreitet dies und macht geltend, er habe die ganze
Untersuchungsperiode bis zum Zeitpunkt der Rekurserhebung kritisiert. Er belegt
dies aber nicht anhand seiner Rekursschrift. Im Übrigen geht er in seiner
Beschwerdeschrift selbst davon aus, dass die polizeilichen Ermittlungen erst
Ende 2007 abgeschlossen worden seien. Auch die in der Beschwerdeschrift
zitierten Reklamationen bei der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl datieren vom 7.
Oktober 2008 bis 13. Januar 2009. Diesbezüglich fehlt es somit an einer
genügenden Beschwerdebegründung.
Daher ist auch im Folgenden nur zu prüfen, ob in der Zeit von Januar 2008 bis
zur Rekurserhebung (am 13. Februar 2009) das Beschleunigungsgebot verletzt
wurde.
Damit kann die vom Beschwerdeführer bestrittene Zahl der polizeilichen
Einvernahmen offen bleiben, da diese im Wesentlichen in das Jahr 2007 fallen.

3.
Der Beschwerdeführer stützt den Vorwurf der Verfahrensverschleppung auf eine
von ihm erstellte tabellarische Übersicht über die bisher vorgenommenen
staatsanwaltschaftlichen Einvernahmen. Daraus ergebe sich seit seiner
Verhaftung bis zur Rekurserhebung eine Gesamtlänge von 45 Stunden und 45
Minuten, was auf den Monat umgerechnet gerade einmal 2 ¼ Stunden ergebe. Hätte
der Staatsanwalt die Einvernahmen kompakt geführt, hätte er damit theoretisch
in einer einzigen Woche fertig werden können. Hätte er diese z.B. Anfang Januar
2008 durchgeführt, hätte das Untersuchungsverfahren in der ersten Januarhälfte
2008 abgeschlossen werden können. Zudem zeige die Tabelle, dass der
Staatsanwalt jeweils nach bewilligter Haftverlängerung nichts mehr vorgenommen,
sondern Einvernahmen jeweils ca. 30 bis 35 Tage vor Ablauf der Haftbewilligung
durchgeführt habe, um Betriebsamkeit vor dem Haftrichter vorzutäuschen.

3.1 Die Oberstaatsanwaltschaft ging dagegen davon aus, dass sich aufgrund der
Einvernahmedauer allein nicht beurteilen lasse, ob das Verfahren beförderlich
geführt worden sei oder nicht. Geradezu utopisch mute die Vorstellung des
Beschwerdeführers an, wonach sämtliche Einvernahmen in einer Woche hätten
durchgeführt werden können. Dies sei allein schon aufgrund der terminlichen
Abkömmlichkeiten der Beteiligten (Zeugen, Auskunftspersonen, Verteidiger) nicht
möglich. Zudem müsse sich die Staatsanwaltschaft vor der Durchführung weiterer
Einvernahmen jeweils mit den früheren Aussagen auseinandersetzen und diese
anhand weiterer Dokumente überprüfen (wie z.B. der anlässlich der
Zeugenbefragung vom 27. November 2008 eingereichten Unterlagen). Würden alle
Einvernahmen an einem Stück durchgeführt, wäre dies der Wahrheitsfindung nicht
zuträglich und würde auch die Verteidigungsrechte massiv tangieren, da der
Angeschuldigte selbst keine Zeit zur Vorbereitung hätte.
Entscheidend für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer sei
vielmehr eine Gesamtbetrachtung des konkreten Einzelfalls, unter
Berücksichtigung insbesondere der Schwere des Tatvorwurfs, der Komplexität des
Sachverhaltes und des Verhaltens des Angeschuldigten. Zwar könnten die dem
Beschwerdeführer vorgeworfenen Delikte als solche nicht als äussert komplex
bezeichnet werden; aufgrund der Vielzahl der Delikte und der damit verbundenen
Befragungen und Einvernahmen verschiedener Personen müsse jedoch von einem
grundsätzlich komplexen Verfahren gesprochen werden, welches derzeit in 12
Bundesordnern dokumentiert sei. Die vom Beschwerdeführer eingereichte Tabelle
sei unvollständig und enthalte beispielsweise nicht die Einvernahmen vom 16.
Mai 2008 und vom 4. November 2008. Von Januar 2008 bis zum 18. Februar 2009
habe die Staatsanwaltschaft ca. 36 Einvernahmen durchgeführt. Allein daraus sei
ersichtlich, dass die Staatsanwaltschaft 2008 nicht untätig geblieben sei,
sondern sich mit dem Strafverfahren regelmässig befasst habe.

3.2 Die Ausführungen der Oberstaatsanwaltschaft zur Notwendigkeit einer
Gesamtbetrachtung und den dabei massgeblichen Kriterien entsprechen der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BGE 124 I 139 E. 2c S. 142; 130 IV 54
E. 3.3.3 S. 56). Da sich die Strafverfolgungsbehörde nicht ständig mit einem
einzigen Fall befassen kann, sind Zeiten, in denen das Verfahren stillsteht,
unumgänglich und führen per se nicht zu einer Verletzung des
Beschleunigungsgebots. Solange keine einzelne solche Zeitspanne stossend wirkt,
greift die Gesamtbetrachtung. Als stossend wurde beispielsweise eine
Untätigkeit von 13 bis 14 Monaten im Untersuchungsverfahren angenommen (vgl.
BGE 130 IV 54 E. 3.3.3 S. 56 f.).

3.3 Der Beschwerdeführer setzt sich in seiner Beschwerde nicht näher mit den
Ausführungen der Oberstaatsanwaltschaft zu Komplexität und Umfang des
Strafverfahrens auseinander und legt nicht dar, inwiefern die Gesamtdauer des
bisherigen Verfahrens dazu in einem Missverhältnis steht. Aus der von ihm
erstellten Tabelle ergibt sich sodann, dass zwischen zwei Einvernahmen z.T.
mehrere Wochen vergangen sind; die Tabelle weist aber keine wirklich stossenden
Zeiten der Untätigkeit auf. Das längste Intervall zwischen zwei Einvernahmen
(vom 26. Februar 2008 bis zum 7. Mai 2008) beträgt zweieinhalb Monate; in
diesem Zeitraum wurden jedoch mehrere polizeiliche Nachtragsberichte zu den
Akten gegeben (vgl. angefochtenen Entscheid E. 6.4 S. 8) und das
Untersuchungsverfahren somit vorangetrieben. Der Beschwerdeführer legt auch
nicht substantiiert dar, welche Einvernahmen und Befragungen wesentlich früher
hätten durchgeführt werden können und inwiefern die Gesamtdauer des Verfahrens
damit erheblich verkürzt hätte werden können. Offensichtlich unzutreffend ist
die Vorstellung, in einem umfangreichen Verfahren wie dem Vorliegenden könnten
alle Einvernahmen "kompakt" innerhalb einer Woche durchgeführt werden; hierfür
kann auf die zutreffenden Ausführungen des Rekursentscheids verwiesen werden.

3.4 Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, der Staatsanwalt habe ein
Fax-Schreiben des Verteidigers in Verletzung von § 194 Abs. 2 GVG/ZH nicht an
den Haftrichter weitergeleitet (vgl. dazu das bundesgerichtliche Urteil 1B_172/
2008 vom 17. Juli 2008), handelte es sich um ein Versehen, welches das
Untersuchungsverfahren - wenn überhaupt - nur geringfügig verlängert hat.

3.5 Schliesslich verweist der Beschwerdeführer auf Entscheide des Haftrichters,
in denen zwar keine Verletzung des Beschleunigungsgebots festgestellt worden
sei, die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl aber angehalten worden sei, in
zukünftigen Haftanträgen detailliert Auskunft darüber zu geben, welche
Untersuchungshandlungen noch durchzuführen seien, insbesondere welche Zeugen
und Auskunftspersonen zu welchem Zeitpunkt einvernommen werden sollen, wann die
Schlusseinvernahme stattfinden solle und wann mit der Anklageerhebung zu
rechnen sei. Aus diesen Ausführungen lässt sich jedoch allenfalls entnehmen,
dass die Haftanträge der Staatsanwaltschaft unzureichend begründet waren,
namentlich im Hinblick auf die damals angenommene Kollusionsgefahr. Dagegen
ergibt sich daraus allein kein Hinweis auf eine Verfahrensverschleppung.
Gleiches gilt für den Hinweis des Haftrichters auf die Unüblichkeit von
Teil-Schlusseinvernahmen. Die Gesamtdauer der Haft ist nicht Thema des
vorliegenden Verfahrens und deshalb nicht zu prüfen.

4.
Überdies rügt der Beschwerdeführer, ihm seien die gesamten Rekurskosten von Fr.
900.-- auferlegt worden, obwohl auch die Staatsanwaltschaft mit ihrem
Hauptantrag auf Nichteintreten nicht durchgedrungen sei.
Die Oberstaatsanwaltschaft hat hierzu in ihrer Vernehmlassung ausgeführt, das
Rekursverfahren sei kein Zivilverfahren, in dem die Begehren der jeweiligen
Parteien einander gegenübergestellt werden; vielmehr richte sich die
Beurteilung der Kostenfolge nur nach den Anträgen des Rekurrenten und ob er mit
diesen durchdringe oder unterliege. Praxisgemäss sei es daher für die
Kostenfolge unerheblich, ob die Staatsanwaltschaft einen Nichteintretensantrag
gestellt habe oder nicht.

Diese Ausführungen lassen keine Willkür erkennen. Im Übrigen wäre der
Kostenentscheid selbst dann nicht willkürlich, wenn auf die Anträge beider
Parteien abgestellt würde: Die Staatsanwaltschaft drang zumindest mit ihrem
Eventualantrag auf Rekursabweisung durch, während der Beschwerdeführer mit
seinen Anträgen vollständig unterlag.

5.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
Aufgrund der ungenügenden Begründung der Beschwerdeschrift, die sich kaum mit
dem angefochtenen Rekursentscheid auseinandersetzt, war die Beschwerde von
Anfang an aussichtslos. Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung ist daher
abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG); dagegen ist den vermögensrechtlichen
Verhältnissen des Beschwerdeführers bei der Festsetzung der Gerichtsgebühr
Rechnung zu tragen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 300.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl und
der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 14. Juli 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Féraud Gerber