Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.143/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_143/2009

Urteil vom 30. Juni 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Reeb,
Gerichtsschreiber Härri.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Hanspeter Kümin,

gegen

Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Gewaltdelikte, Molkenstrasse 15/17,
Postfach,
8026 Zürich.

Gegenstand
Untersuchungshaft,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 27. Mai 2009
des Bezirksgerichts Zürich, Haftrichterin.
Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich (im Folgenden; Staatsanwaltschaft)
wirft X.________ vor, in den frühen Morgenstunden des 2. November 2008 bei
einer Massenschlägerei an einem Geburtstagsfest jemandem mit einem Rüstmesser
schwere Stichverletzungen am Hals und Oberarm zugefügt zu haben. Das Opfer
musste notfallmässig operiert werden und 5 Tage in Spitalpflege verbringen.
Am 2. November 2008, um 04.37 Uhr, nahm die Polizei X.________ fest. Um 17.10
Uhr des gleichen Tags liess sie ihn frei.
Am 26. Mai 2009 nahm ihn die Polizei erneut fest. Tags darauf versetzte ihn die
Haftrichterin am Bezirksgericht Zürich in Untersuchungshaft. Sie bejahte den
dringenden Tatverdacht und Kollusionsgefahr.

B.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, die Verfügung der
Haftrichterin sei aufzuheben. Diese sei anzuweisen, die unverzügliche
Haftentlassung anzuordnen.

C.
Die Haftrichterin und die Staatsanwaltschaft haben auf Vernehmlassung
verzichtet.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in Strafsachen ist hier gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG gegeben.
Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach
Art. 80 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig.
Der Beschwerdeführer ist gemäss Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde befugt.
Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die
Beschwerde einzutreten.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, der angefochtene Entscheid verletze
sein verfassungsmässiges Recht auf persönliche Freiheit.
Bei Beschwerden, die gestützt auf das Recht der persönlichen Freiheit (Art. 10
Abs. 2, Art. 31 BV) wegen der Anordnung von Untersuchungshaft erhoben werden,
prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffes die
Auslegung und Anwendung des entsprechenden kantonalen Rechtes frei (BGE 135 I
71 E. 2.5 S. 73 f., mit Hinweis).
Gemäss § 58 Abs. 1 der Strafprozessordnung vom 4. Mai 1919 des Kantons Zürich
(StPO; LS 321) darf Untersuchungshaft angeordnet werden, wenn der
Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt wird und
ausserdem aufgrund bestimmter Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet werden muss,
er werde Spuren oder Beweismittel beseitigen, Dritte zu falschen Aussagen zu
verleiten suchen oder die Abklärung des Sachverhalts auf andere Weise gefährden
(Ziff. 2).
Der Beschwerdeführer macht geltend, es fehle sowohl am dringenden Tatverdacht
als auch an der Kollusionsgefahr nach § 58 Abs. 1 Ziff. 2 StPO.
2.2
2.2.1 Nach der Rechtsprechung ist es bei der Prüfung des dringenden
Tatverdachts nicht Sache des Bundesgerichts, dem Sachrichter vorgreifend eine
erschöpfende Abwägung sämtlicher belastender und entlastender Umstände
vorzunehmen. Zu prüfen ist vielmehr, ob genügend konkrete Anhaltspunkte für
eine Straftat und eine Beteiligung des Beschwerdeführers daran vorliegen, die
Untersuchungsbehörden somit das Bestehen eines dringenden Tatverdachts mit
vertretbaren Gründen bejahen durften (BGE 116 Ia 143 E. 3c).
2.2.2 Wie sich dem Polizeirapport vom 4. Mai 2009 entnehmen lässt, wurde im
Lokal, in dem die Geburtstagsfeier stattfand, in einem Kehrichtsack ein
Rüstmesser sichergestellt. An dessen Klinge befanden sich Blutspuren des
Opfers. Es handelt sich somit mit grosser Wahrscheinlichkeit um die Tatwaffe.
Die Vorinstanz verweist zur Begründung des dringenden Tatverdachts vor allem
auf die Aussagen von A.________ und B.________.
A.________ sagte in seiner ersten Einvernahme am 2. November 2008 aus, er habe
gesehen, wie einer das auf dem Waschtrog (bei der Theke) liegende Rüstmesser in
die Hand genommen und ausgeholt habe. In seiner Befragung vom 11. März 2009 gab
er an, er habe gesehen, wie "der Typ" ausgeholt und wahllos in die Menge habe
stechen wollen. Er - A.________ - habe eingegriffen und den Unterarm des Typen
festgehalten. Dieser sei dunkelhäutig gewesen und habe einen leicht weissen
Pullover getragen. Auf Vorhalt von Personenfotos hin gab A.________ an, auf dem
Bogen Nr. 3 käme am ehesten die Nr. 7 in Frage. Dabei handelt es sich um den
Beschwerdeführer. Dieser ist dunkelhäutig und trug in der Tatnacht ein weisses
T-Shirt.
B.________ sagte aus, sie sei mit A.________ und dem Beschwerdeführer hinter
die Theke gegangen. Der Beschwerdeführer habe sich am Gerangel auch beteiligen
wollen. Sie und A.________ hätten ihn aber hinter der Theke festgehalten.
Irgendwann habe A.________ gerufen, sie solle den Beschwerdeführer in Ruhe
lassen, weil dieser ein Messer habe.
Diese Aussagen belasten den Beschwerdeführer. Zu berücksichtigen ist überdies,
dass er unstreitig in die Auseinandersetzung mit dem Opfer verwickelt war. Er
gibt insbesondere zu, diesem mit der Faust zwei Schläge ins Gesicht versetzt zu
haben. Bei der polizeilichen Befragung vom 2. November 2008 räumte der
Beschwerdeführer sodann ein, viel Blut an den Kleidern zu haben. Rechnung zu
tragen ist ferner dem Umstand, dass der Beschwerdeführer in der Tatnacht ein
Klappmesser mit sich führte. Dieses scheidet, wie die Untersuchungen ergeben
haben, zwar als Tatwaffe aus. Das Mitführen des Klappmessers kann aber als
Indiz dafür gewertet werden, dass er bereit gewesen sein könnte, bei einer
Auseinandersetzung gegebenenfalls zu einem Messer zu greifen.
Wie es sich damit im Einzelnen verhält, werden die kantonalen Behörden
abzuklären haben. In Anbetracht der angeführten belastenden Umstände bestehen
aber jedenfalls ernsthafte Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer dem
Opfer mit dem Rüstmesser die Stichverletzungen zugefügt hat. Die Vorinstanz hat
daher den dringenden Tatverdacht mit vertretbaren Gründen bejaht.
Die Beschwerde ist im vorliegenden Punkt unbegründet.
2.3
2.3.1 Nach der Rechtsprechung genügt die theoretische Möglichkeit, dass der
Angeschuldigte in Freiheit kolludieren könnte, nicht, um die Untersuchungshaft
insoweit zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr konkrete Indizien für die Annahme
von Kollusionsgefahr sprechen. Das Vorliegen des Haftgrundes ist nach Massgabe
der Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen (BGE 132 I 21 E. 3.2, mit
Hinweisen).
Bei der Frage, ob im konkreten Fall eine massgebliche Beeinträchtigung des
Strafverfahrens wegen Verdunkelung droht, ist namentlich der Art und Bedeutung
der von Beeinflussung bedrohten Aussagen bzw. Beweismittel, der Schwere der
untersuchten Straftaten sowie dem Stand des Verfahrens Rechnung zu tragen (BGE
132 I 21 E. 3.2.1, mit Hinweisen).
2.3.2 Die Vorinstanz legt dar, der Beschwerdeführer sei am 2. November 2008
erstmals polizeilich befragt worden. Diese Befragung sei insbesondere im
Zusammenhang mit der Frage, ob er jemanden mit einem Messer verletzt habe, nur
sehr oberflächlich und pauschal gewesen. Der Beschwerdeführer wisse aufgrund
der Ergebnisse der inzwischen getätigten polizeilichen Ermittlungen erst jetzt,
was ihm konkret vorgeworfen werde und wer ihn belaste. Deshalb sei
Kollusionsgefahr zu bejahen.
Der Beschwerdeführer wendet ein, schon bei der ersten Einvernahme am 2.
November 2008 sei ihm vorgeworfen worden, dem Opfer die Stichverletzungen
zugefügt zu haben. Tatsächlich wurde der Beschwerdeführer dazu bereits am 2.
November 2008 befragt, trug er doch zur Tatzeit - wie gesagt - ein Klappmesser
auf sich. Er verneinte die Frage, ob er damit jemand verletzt habe, worauf ihm
mitgeteilt wurde, dass dies noch spurenkundlich abgeklärt werde, was in der
Folge mit dem erwähnten Ergebnis geschah. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür
(und der Beschwerdeführer macht dies auch nicht geltend), dass er nach der
polizeilichen Befragung vom 2. November 2008 und seiner anschliessenden
Freilassung darum wusste, dass inzwischen mit dem Rüstmesser eine andere
Tatwaffe ermittelt worden war und Aussagen gemacht worden waren, aufgrund
welcher sich der Verdacht nun gegen ihn richtete. Insoweit hatte er nach seiner
Freilassung am 2. November 2008 bzw. vor der neuerlichen Festnahme am 26. Mai
2009 und Konfrontation mit den Ermittlungsergebnissen keine Veranlassung
gehabt, diesbezüglich Kontakte zu anderen Personen aufzunehmen. Das hat sich
nun geändert. Am Geburtstagsfest waren zahlreiche Personen anwesend. Dabei
handelt es sich zumindest teilweise um Bekannte des Beschwerdeführers. Es
besteht nicht nur die theoretische Möglichkeit, dass dieser mit am Fest
anwesenden Personen Verbindung aufnehmen könnte, um sie zu einer für ihn
günstigen Aussage zu veranlassen. Die Befragten sind, mit Ausnahme von
A.________, durchwegs noch sehr jung, weshalb sie Beeinflussungsversuchen
leichter zugänglich sein dürften als ältere Menschen. Da aufgrund der
Spurensicherung am Rüstmesser nicht festgestellt werden konnte, wer von den
Teilnehmern am Geburtstagsfest dieses in der Hand gehabt haben muss, kommt den
Aussagen der Befragten für die Ermittlung des Täters sodann entscheidende
Bedeutung zu. Damit besteht ein erhöhtes Interesse an der Verhinderung von
Kollusionshandlungen. Es geht zudem um einen schwer wiegenden Tatvorwurf und
die Untersuchung - welche sich wegen des allgemeinen Durcheinanders an der
Schlägerei und der Beteiligung zahlreicher, mehr oder weniger stark
alkoholisierter Personen daran nicht einfach gestaltet - ist noch nicht
abgeschlossen.
Angesichts dessen ist es verfassungsrechtlich haltbar, wenn die Vorinstanz
Kollusionsgefahr derzeit bejaht hat.

3.
Der Beschwerdeführer bringt vor, C.________, der ebenfalls der Tat verdächtigt
sei, sei in Freiheit belassen worden. Der Beschwerdeführer werde damit
rechtsungleich behandelt. Dies verletze Art. 8 BV und das Willkürverbot nach
Art. 9 BV.
Der Rüge der Verletzung des Willkürverbots kommt hier keine eigenständige
Tragweite zu.
Die Beschwerde ist auch im vorliegenden Punkt unbegründet. Der Beschwerdeführer
legt nicht in einer den Anforderungen von Art. 106 Abs. 2 BGG genügenden Weise
dar, dass die Verhältnisse bei C.________ in jeder Hinsicht gleich lägen wie
bei ihm. Das ist auch nicht ersichtlich. Wie im Polizeirapport vom 4. Mai 2009
(S. 29) nachvollziehbar ausgeführt wird, richtet sich der Tatverdacht vor allem
gegen den Beschwerdeführer und lediglich ansatzweise auch gegen C.________.
Selbst wenn die Verhältnisse bei beiden gleich lägen, würde das am Ergebnis im
Übrigen nichts ändern. Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft sind hier nach
dem Gesagten erfüllt. Damit ist diese zulässig. Einen Anspruch auf
Gleichbehandlung im Unrecht hätte der Beschwerdeführer nicht. Ein solcher
Anspruch besteht nur, wenn eine ständige gesetzwidrige Praxis der
rechtsanwendenden Behörde vorliegt und diese zu erkennen gibt, dass sie davon
auch künftig nicht abzuweichen gedenkt (BGE 127 I 1 E. 3a S. 2 f., mit
Hinweis). An diesen Voraussetzungen fehlte es hier.

4.
Die Beschwerde ist danach abzuweisen.
Der Beschwerdeführer hat innerhalb der Beschwerdefrist ein Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege nachgereicht. Er war vor der neuerlichen Verhaftung
arbeitslos. Von seiner Mittellosigkeit ist daher auszugehen. Da die
Untersuchungshaft einen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit
darstellt, konnte er sich zur Beschwerde veranlasst sehen. Dem Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege wird deshalb entsprochen. Es werden keine Kosten
erhoben und dem Vertreter des Beschwerdeführers wird eine Entschädigung
ausgerichtet.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Hanspeter Kümin, wird aus der
Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft lV des Kantons
Zürich, Gewaltdelikte, und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichterin,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 30. Juni 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Härri