Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.129/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_129/2009

Urteil vom 9. Juni 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Fonjallaz,
Gerichtsschreiberin Schoder.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Philippe Haener,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, 4001 Basel.

Gegenstand
Haftentlassungsgesuch,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 4. Mai 2009
des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt, Statthalterin.
Sachverhalt:

A.
X.________ befindet sich seit dem 26. Januar 2008 in Untersuchungs- resp. in
Sicherheitshaft. Am 19. Juni 2008 verurteilte ihn das Strafgericht Basel-Stadt
(Dreiergericht) wegen schwerer und einfacher Körperverletzung zu zwei Jahren
Freiheitsstrafe und erklärte eine mit Urteil vom 19. März 2007 des
Strafgerichts Basel-Stadt wegen versuchter schwerer Körperverletzung bedingt
ausgesprochene Freiheitsstrafe von 12 Monaten als vollziehbar. Gegen das Urteil
des Strafgerichts appellierte X.________ an das Appellationsgericht Basel
Stadt.
Mit Verfügung vom 4. Mai 2009 wies die Statthalterin des Appellationsgerichts
das Haftentlassungsgesuch von X.________ wegen Fortsetzungs- und Fluchtgefahr
ab.

B.
X.________ erhob gegen die Verfügung der Statthalterin des Appellationsgerichts
beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt deren Aufhebung und
Entlassung aus der Sicherheitshaft, eventuell die Rückweisung der Sache zur
Neubeurteilung. Ferner ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege im Verfahren
vor Bundesgericht.

C.
Das Appellationsgericht und die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt beantragen
Beschwerdeabweisung. Der Beschwerdeführer hat repliziert.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Sachurteilsvoraussetzungen sind grundsätzlich erfüllt und geben zu
keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist - unter Vorbehalt
nachfolgender Erwägungen - einzutreten.

1.2 Bei der Verletzung von Grundrechten sowie von kantonalem und
interkantonalem Recht gilt eine qualifizierte Rügepflicht. Das Bundesgericht
prüft eine solche Rüge nur insofern, als sie in der Beschwerde präzise
vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E.
1.4.2 S. 254).
Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
(Art. 29 Abs. 2 BV) geltend, da im Haftprüfungsverfahren keine mündliche
Verhandlung durchgeführt worden sei. Er setzt sich aber nicht mit der
diesbezüglichen Begründung in der angefochtenen Verfügung auseinander. Mit der
Rüge der Gehörsverletzung ist er demnach nicht zu hören.

1.3 Nach Art. 97 Abs. 1 BGG kann die Feststellung des Sachverhalts nur gerügt
werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang
des Verfahrens entscheidend sein kann.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Statthalterin gehe davon aus, dass er
sich im Zusammenhang mit einem früher begangenen Delikt bereits einmal in Haft
befunden habe. Daraus schliesse sie, dass er sich durch Freiheitsentzug nicht
abschrecken lasse, und habe folgedessen eine schlechte Rückfallprognose
gestellt. Die Statthalterin gehe von einem falschen Sachverhalt aus, da er
wegen dieses früheren Delikts nur bedingt verurteilt worden sei und (abgesehen
von einer eintägigen Untersuchungshaft) noch nie einen Freiheitsentzug erduldet
habe.
Der Beschwerdeführer verkennt, dass selbst wenn der festgestellte Sachverhalt
in diesem Punkt aktenwidrig sein sollte, dies keinen Einfluss auf die
Rückfallprognose hätte. Die Statthalterin durfte bereits aufgrund der besagten,
in einem früheren Zusammenhang bedingt ausgesprochenen Strafe den Schluss
ziehen, der Beschwerdeführer lasse sich durch strafrechtliche Sanktionen vom
Delinquieren nicht abhalten. Die Sachverhaltsrüge hat demnach auf das
Entscheidergebnis keinen Einfluss.
Bei der vorgetragenen Sachverhaltsrüge bezüglich des Alkohol- und Drogenkonsums
handelt es sich um eine blosse (gegenteilige) Behauptung und damit um
appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid. Damit ist der
Beschwerdeführer ebenfalls nicht zu hören.

2.
Der Beschwerdeführer bestreitet die Voraussetzungen der Sicherheitshaft. Nach
seiner Auffassung ist weder der allgemeine Haftgrund des dringenden
Tatverdachts noch Fortsetzungs- oder Fluchtgefahr gegeben. Es handle sich um
widersprüchliches Verhalten der Behörden, ihn wegen Fortsetzungsgefahr in Haft
zu behalten, obwohl die Haft letztmals nicht wegen Fortsetzungsgefahr, sondern
wegen Fluchtgefahr verlängert worden sei. Im Zusammenhang mit der
Fortsetzungsgefahr rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung der
Untersuchungsmaxime und der Unschuldsvermutung. Des Weitern beanstandet er,
dass die Statthalterin nicht geprüft habe, ob eine mildere Massnahme anstelle
von strafprozessualer Haft in Frage käme. Der Beschwerdeführer rügt eine
Verletzung von Bundesrecht, insbesondere des Verhältnismässigkeitsprinzips, und
damit sinngemäss eine Verletzung der persönlichen Freiheit.

3.
Nach § 69 der Strafprozessordnung vom 8. Januar 1997 des Kantons Basel-Stadt
(StPO; SG 257.100) darf gegen eine angeschuldigte Person Untersuchungshaft
angeordnet werden, wenn sie eines Verbrechens, eines Vergehens oder einer
wiederholten Tätlichkeit dringend verdächtigt ist und überdies konkrete
Umstände vorliegen, die befürchten lassen, sie werde die Freiheit zur Flucht
(Fluchtgefahr), zur Vereitelung der Untersuchung (Kollusionsgefahr) oder zur
Begehung von Verbrechen, Vergehen oder wiederholten Tätlichkeiten
(Fortsetzungsgefahr) benützen.
Sind die Voraussetzungen von § 69 StPO erfüllt, steht der Anordnung und
Aufrechterhaltung strafprozessualer Haft (Untersuchungs- und Sicherheitshaft)
unter dem Blickwinkel der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2, Art. 31 Abs. 1
BV, Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK) nichts entgegen.

4.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum allgemeinen Haftgrund des
dringenden Tatverdachts reicht es zur Anordnung strafprozessualer Haft aus,
wenn konkrete Verdachtsmomente vorhanden sind, wonach das inkriminierte
Verhalten mit erheblicher Wahrscheinlichkeit die fraglichen Tatbestandsmerkmale
erfüllen könnte (BGE 116 Ia 143 E. 3c S. 146).
Ist gegen einen in Haft befindlichen Angeschuldigten Anklage erhoben worden, so
kann der Haftrichter in der Regel davon ausgehen, der dringende Tatverdacht sei
gegeben. Eine Ausnahme wäre dann zu machen, wenn der Angeschuldigte im
Haftprüfungs- oder im Haftbeschwerdeverfahren darzutun vermöchte, dass die
Annahme eines dringenden Tatverdachts unhaltbar sei (Urteil des Bundesgerichts
1P.72/2002 vom 27. Februar 2002 E. 2.3). Diese Rechtsprechung muss erst recht
bei Vorliegen eines erstinstanzlichen Urteils, gegen das der Inhaftierte - wie
in casu - ein Rechtsmittel eingelegt hat, gelten.
Der Beschwerdeführer zeigt nicht auf, inwiefern die Annahme eines dringenden
Tatverdachts nicht vertretbar sein sollte. Die allgemeine Haftvoraussetzung des
dringenden Tatverdachts kann demzufolge ohne Verletzung der Verfassung bejaht
werden.

5.
5.1 Nach der Praxis des Bundesgerichtes kann die Anordnung von Haft wegen
Fortsetzungsgefahr dem strafprozessualen Ziel der Beschleunigung dienen, indem
verhindert wird, dass sich das Verfahren durch immer neue Delikte kompliziert
und in die Länge zieht (BGE 105 Ia 26 E. 3c S. 31; Urteil des Bundesgerichts
1P.370/2000 vom 29. Juni 2000 E. 4a, nicht publ. in: BGE 126 I 172). Auch die
Wahrung des Interesses an der Verhütung weiterer Delikte ist nicht verfassungs-
und grundrechtswidrig. Vielmehr anerkennt Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK
ausdrücklich die Notwendigkeit, Angeschuldigte an der Begehung strafbarer
Handlungen zu hindern, somit Spezialprävention, als Haftgrund (BGE 133 I 270 E.
2.1 S. 275; 125 I 361 E. 4c S. 365 f.).
Bei der Annahme, dass Angeschuldigte weitere Verbrechen oder Vergehen begehen
könnten, ist allerdings Zurückhaltung geboten. Da Präventivhaft einen
schwerwiegenden Eingriff in das Recht der persönlichen Freiheit darstellt, muss
sie auf einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen
Interesse liegen und verhältnismässig sein (Art. 36 BV). Die Aufrechterhaltung
von strafprozessualer Haft wegen Fortsetzungs- resp. Wiederholungsgefahr ist
verhältnismässig, wenn einerseits die Rückfallprognose sehr ungünstig und
anderseits die zu befürchtenden Delikte von schwerer Natur sind. Dabei ist -
besonders bei drohenden schweren Gewaltverbrechen - auch dem psychischen
Zustand der verdächtigen Person bzw. ihrer Unberechenbarkeit oder Aggressivität
Rechnung zu tragen (BGE 123 I 268 E. 2e S. 271 ff.). Die rein hypothetische
Möglichkeit der Verübung weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass
nur relativ geringfügige Straftaten verübt werden, reichen dagegen nicht aus,
um Präventivhaft zu begründen (BGE 133 I 270 E. 2.2 S. 276).
Schliesslich gilt auch bei der Präventivhaft - wie bei den übrigen Haftarten -
dass sie nur als "ultima ratio" angeordnet oder aufrecht erhalten werden darf.
Wo sie durch mildere Massnahmen (wie z.B. ambulante ärztliche Betreuung,
regelmässige Meldung bei einer Amtsstelle etc.) ersetzt werden kann, muss von
der Anordnung oder Fortdauer der Haft abgesehen und an ihrer Stelle eine dieser
Ersatzmassnahmen angeordnet werden (BGE 133 I 270 E. 2.2 S. 276).

5.2 Im vorliegenden Fall begründet die Statthalterin die Fortsetzungsgefahr mit
einem ausserordentlich grossen Aggressionspotential des Beschwerdeführers. Dies
zeige sich darin, dass dieser nach einem Streit seine Wut nicht abbauen könne,
sondern im Gegenteil weiter aufbaue und nach einiger Zeit den Kontrahenten
unmittelbar angreife. Die Statthalterin stützt ihre Annahme auf bereits
ergangene Strafurteile. Der Beschwerdeführer sei mit Urteil des Strafgerichts
Basel-Stadt vom 19. März 2007 wegen versuchter schwerer Körperverletzung zu 12
Monaten Freiheitsstrafe bedingt verurteilt worden. Bereits während der
Probezeit habe er erneut delinquiert, und zwar auf eine ähnlich rücksichtslose
und aggressive Art wie anlässlich der früheren Straftat. Auch die weiter
zurückliegende Verurteilung wegen Raubes zeuge von Gewaltbereitschaft. Hinzu
komme, dass der Beschwerdeführer sich neulich eine Tätlichkeit gegenüber einem
anderen Gefängnisinsassen habe zu Schulden kommen lassen. Auch dieser Vorfall
sei nach dem gleichen Muster abgelaufen, wie die dem Beschwerdeführer zur Last
gelegten Straftaten. Der Beschwerdeführer fühle sich verbal provoziert und
reagiere hierauf mit Schlägen ins Gesicht seines Kontrahenten. Der
Beschwerdeführer lege nicht dar, welche Ersatzmassnahmen die Fortsetzungsgefahr
bannen könnten.
Schliesslich habe der Konsum von Alkohol und Drogen im hängigen wie auch in den
früheren Verfahren eine aggressionsenthemmende Rolle gespielt. Der
Beschwerdeführer habe die Zeit in der Haft nicht genutzt, an seinem
Suchtverhalten und an seiner Persönlichkeit etwas zu verändern. Die
delinquenzfördernden Persönlichkeitselemente würden somit nach wie vor
bestehen.
Selbst wenn anzunehmen sei, dass mit dem Zeitablauf die Fortsetzungsgefahr
abgenommen habe, so sei die Aufrechterhaltung der Haft gerechtfertigt, da die
Fluchtgefahr eher zugenommen habe. Die berufliche und kriminelle Vergangenheit
des Beschwerdeführers würden nicht für eine erfolgreiche Integration sprechen.
Ausserdem sei in der Zwischenzeit die Niederlassungsbewilligung widerrufen
worden. Der Beschwerdeführer könne daher in stärkerem Mass versucht sein, sich
der Reststrafe zu entziehen.
Aufgrund der nach wie vor bestehenden Fortsetzungsgefahr, verbunden mit einer
gesteigerten Fluchtgefahr, seien die Voraussetzungen zur Aufrechterhaltung der
Haft erfüllt. Das Verhältnismässigkeitsprinzip sei nicht verletzt, da von der
durch die Vorinstanz ausgesprochenen Strafe noch nicht einmal ganz die Hälfte
ausgestanden sei.

5.3 Diese Erwägungen der Statthalterin sind nicht zu beanstanden. Dass die
Aufrechterhaltung der Haft nicht nur mit Flucht-, sondern, anders als der
Hafterneuerungsbefehl vom 13. März 2009, auch mit Fortsetzungsgefahr begründet
wird, stellt kein widersprüchliches behördliches Verhalten dar, waren doch
bereits die früheren Haftverfügungen mit Fortsetzungsgefahr begründet und war
es der Beschwerdeführer selber, der in der Haftbeschwerde gegen den
Hafterneuerungsbefehl vom 13. März 2009 an das Appellationsgericht diesen Punkt
nochmals aufgriff.
Aufgrund der einschlägigen Vorstrafen (Raub, versuchte schwere
Körperverletzung), der erneut zur Last gelegten Gewalttaten (schwere und
einfache Körperverletzung) sowie der begangenen Tätlichkeit während der
strafprozessualen Haft ist die Fortsetzungsgefahr ohne Weiteres zu bejahen.
Dass die Unschuldsvermutung und die Untersuchungsmaxime verletzt sein sollen,
indem sich die Statthalterin auf die gegen den Beschwerdeführer ausgesprochene
Disziplinarstrafe beruft, ist nicht nachvollziehbar. Erschwerend kommt hinzu,
dass der Beschwerdeführer sich offenbar bis anhin keiner Therapie unterzogen
hat, um sein Gewaltproblem in den Griff zu bekommen. Welche milderen Massnahmen
anstelle der Haft die Fortsetzungsgefahr zur Zeit bannen könnten, ist nicht
ersichtlich. Eine Verletzung der persönlichen Freiheit ist somit nicht gegeben.
Damit erübrigt es sich zu prüfen, ob der Haftgrund der Fluchtgefahr ebenfalls
zu bejahen wäre und, sofern dies bejaht werden müsste, die vom Beschwerdeführer
geltend gemachten milderen Massnahmen (Kaution, Schriftensperre) zur Bannung
der Fluchtgefahr ausreichen würden.

6.
Nach dem Gesagten erweist sich die Beschwerde als unbegründet und ist
demzufolge abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Der
Beschwerdeführer hat um unentgeltliche Rechtspflege im bundesgerichtlichen
Verfahren ersucht. Diesem Antrag kann entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 und 2
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird bewilligt:

2.1 Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

2.2 Advokat Philippe Haener wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand ernannt und
für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit einem
Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem
Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Statthalterin, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 9. Juni 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Féraud Schoder