Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.119/2009
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_119/2009

Urteil vom 27. August 2009
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Reeb, Eusebio,
Gerichtsschreiber Forster.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Peter Fertig,

gegen

Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Gewaltdelikte, Molkenstrasse 15/17,
Postfach 2251, 8026 Zürich.

Gegenstand
Strafverfahren; unentgeltliche Rechtsverbeiständung des Geschädigten,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 6. April 2009
des Obergerichts des Kantons Zürich,
Präsidentin der Anklagekammer.

Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich führt eine Strafuntersuchung wegen
versuchter Tötung und Körperverletzung. Dem Angeschuldigten wird im
Wesentlichen vorgeworfen, er habe am 27. Februar 2009 dem X.________ mit
Tötungsvorsatz in den Mund geschossen. Mit Eingabe an die Staatsanwaltschaft
vom 27. März 2009 ersuchte der Geschädigte um Ernennung eines unentgeltlichen
Rechtsvertreters. Die Staatsanwaltschaft übermittelte das Gesuch der
Präsidentin der Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Zürich mit dem
Antrag, das Gesuch sei zu bewilligen. Mit Verfügung vom 6. April 2009 wies die
Anklagekammerpräsidentin das Gesuch ab.

B.
Gegen die Verfügung vom 6. April 2009 gelangte X.________ mit Beschwerde vom
14. Mai 2009 an das Bundesgericht. Er beantragt zur Hauptsache die Aufhebung
des angefochtenen Entscheides und die Bestellung eines unentgeltlichen
Rechtsvertreters für das hängige Strafverfahren.

Die Anklagekammerpräsidentin hat auf eine Stellungnahme ausdrücklich
verzichtet, während von der Staatsanwaltschaft keine Vernehmlassung eingegangen
ist.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist ein kantonaler strafprozessualer Zwischenentscheid betreffend
unentgeltliche Rechtsverbeiständung des Geschädigten. Die
Sachurteilsvoraussetzungen (von Art. 78 ff. i.V.m. Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG)
sind erfüllt.

2.
Im angefochtenen Entscheid wird Folgendes erwogen: Grundsätzlich müsse ein
Geschädigter im Strafverfahren seine Rechte ohne unentgeltliche
Rechtsvertretung wahrnehmen. Nach eigenen Angaben wohne der Beschwerdeführer in
Turin. Er habe bei einer polizeilichen Befragung ausgesagt, er verdiene in
Italien zwischen EUR 900.-- und 1'000.-- monatlich als privater Wachmann. Seine
von ihm getrennt lebende Ehefrau wohne in Zürich. Der durch die untersuchte
Schussabgabe verursachte Spitalaufenthalt des Beschwerdeführers habe nur zwei
Tage gedauert. Zwar mache er im Strafverfahren Schadenersatz- und
Genugtuungsansprüche geltend. Er habe diese Ansprüche jedoch noch nicht
beziffert. Konkrete Anhaltspunkte für eine besondere Komplexität des
Strafverfahrens bzw. schwierige Tat- und Rechtsfragen seien nicht ersichtlich.
Insbesondere erscheine die Höhe des geltend gemachten Schadenersatzanspruches
nicht schwer quantifizierbar. Auch bezüglich Genugtuungsforderung sei es dem
Beschwerdeführer zuzumuten, seinen Prozessstandpunkt selber einzubringen. Zwar
spreche er nur spanisch und englisch; sprachlichen Schwierigkeiten könne jedoch
mit einem Dolmetscher ausreichend Rechnung getragen werden.

3.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 29 Abs. 3 BV. Am frühen
Morgen des 27. Februar 2009 sei ihm eine Glasflasche auf dem Kopf zertrümmert
worden. Anschliessend habe ihm die Täterschaft mit einer Schusswaffe in den
Mund geschossen. Er habe eine Schussverletzung an der Wangenschleimhaut, eine
Hirnerschütterung sowie eine Rissquetschwunde am Hinterkopf erlitten. Er habe
deswegen im Universitätsspital Zürich operiert und bis am 1. März 2009
stationär behandelt werden müssen. Längerfristige nachteilige Gesundheitsfolgen
könnten nicht ausgeschlossen werden, weshalb sich die Berechnung der
Zivilforderungen kompliziert gestalten könnte. Die Aussagen der beteiligten
Personen seien unklar und widersprüchlich. Ein Geständnis des Angeschuldigten
liege nicht vor. Der Schaden werde sich voraussichtlich zusammensetzen aus
Einkommensausfall, Haushaltschaden, Sachschaden und Heilungskosten. Er, der
Beschwerdeführer, stamme aus der Dominikanischen Republik und wohne in Italien.
In Zürich habe er sich am 27. Februar 2009 aufgehalten, weil er die Scheidung
von seiner in der Schweiz lebenden Ehefrau habe regeln wollen. Er sei weder der
deutschen Sprache mächtig, noch rechtskundig. Vor der Straftat habe er
monatlich zwischen EUR 900.-- und 1'000.-- verdient. Seither erziele er kein
Einkommen mehr, weder aus Erwerbstätigkeit, noch aus Versicherungsleistungen.
Sein Vermögen betrage EUR 2'600.--.

4.
Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat einen
verfassungsmässigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr
Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte
notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand
(Art. 29 Abs. 3 BV). Nach Zürcher Strafprozessrecht wird dem Geschädigten auf
dessen Verlangen ein unentgeltlicher Rechtsbeistand beigegeben, wenn die
Interessen und die persönlichen Verhältnisse des Geschädigten es erfordern (§
10 Abs. 5 StPO/ZH).

5.
Neben der sachlichen Notwendigkeit und der Nichtaussichtslosigkeit des vom
Geschädigten bzw. Zivilkläger verfolgten Prozessziels verlangt eine
unentgeltliche Rechtsverbeiständung die finanzielle Bedürftigkeit des
Gesuchstellers (BGE 127 I 202 E. 3b S. 205 mit Hinweisen; vgl. zur betreffenden
Praxis auch MARC FORSTER, Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung
in der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung, ZBl 93 [1992] 457 ff., 465
ff.; MAX HAURI, Die Bestellung des unentgeltlichen Rechtsbeistandes für
Geschädigte im Zürcher Strafprozess, Zürich 2002, S. 133 ff.). Sachliche
Notwendigkeit bedeutet, dass der Rechtsuchende, auf sich alleine gestellt,
seine prozessualen Interessen nicht ausreichend wirksam wahren kann. Sie
beurteilt sich aufgrund der Gesamtheit der konkreten Umstände des Einzelfalls.
Dazu zählen bei Zivilklägern im Strafverfahren namentlich die Schwere der
Betroffenheit durch das untersuchte Delikt, die tatsächlichen und rechtlichen
Schwierigkeiten des Falles sowie die Fähigkeit der geschädigten Person, sich im
Verfahren zurechtzufinden (BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 232 f.; 123 I 145 E. 2b/cc
S. 147 f.; je mit Hinweisen; Urteil 1B_186/2007 vom 31. Oktober 2007 E. 3-4).
Ob der in Art. 29 Abs. 3 BV garantierte Anspruch verletzt wurde, prüft das
Bundesgericht in rechtlicher Hinsicht frei (Art. 95 lit. a i.V.m. Art. 98 und
Art. 106 BGG). Die Prüfung von Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz
richtet sich nach Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 105 BGG (vgl. BGE 127 I 202 E. 3a
S. 205 mit Hinweisen).

6.
Wie sich aus den Akten ergibt, wirft die Staatsanwaltschaft dem Angeschuldigten
versuchte Tötung vor. Die Untersuchungs- und Anklagebehörde beantragte schon zu
Beginn des Strafverfahrens die Rechtsverbeiständung des Geschädigten. Der
blosse Umstand, dass dieser bei der untersuchten Schussabgabe in den Mund (oder
zumindest unmittelbar am Mund) nicht schwer verletzt worden sei, schliesst
einen Tötungsversuch (und damit ein zu untersuchendes Kapitalverbrechen) nicht
aus. Unbestrittenermassen wohnt der Beschwerdeführer in Italien und bedarf er
im Umgang mit schweizerischen Behörden eines Dolmetschers. Er beansprucht im
Strafverfahren als Zivilkläger adhäsionsweise Schadenersatz- und
Genugtuungsansprüche. Bei Würdigung sämtlicher Umstände erweist sich die
anwaltliche Verbeiständung des Geschädigten im vorliegenden konkreten Fall als
sachlich geboten. Seine finanzielle Bedürftigkeit ist ausreichend glaubhaft
gemacht und wird auch im angefochtenen Entscheid nicht widerlegt. Ein
aussichtsloser Prozessstandpunkt als Zivilkläger ist nicht ersichtlich. Die
Verweigerung der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung erweist sich damit als
verfassungswidrig.

7.
Die Beschwerde ist gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und das
Verfahren zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 107
Abs. 2 BGG).

Praxisgemäss sind keine Gerichtskosten zu erheben (vgl. Art. 66 Abs. 4 BGG).
Der Kanton Zürich hat dem anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer eine
angemessene Parteientschädigung (pauschal, inkl. MWSt) zu entrichten (Art. 68
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Die angefochtene Verfügung vom 6. April 2009
des Obergerichts des Kantons Zürich, Präsidentin der Anklagekammer, wird
aufgehoben, und das Verfahren wird zur Gewährung der unentgeltlichen
Rechtsverbeiständung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Zürich (Kasse des Obergerichts) hat dem Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.-- zu
entrichten.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft IV und dem
Obergericht des Kantons Zürich, Präsidentin der Anklagekammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 27. August 2009
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Féraud Forster