Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 973/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_973/2008

Urteil vom 19. Januar 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Seiler,
Gerichtsschreiber Fessler.

Parteien
B.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Duri Poltera, Hadwigstrasse 6a, 9000 St.
Gallen,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom
15. Oktober 2008.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 27. Juli 2004 verneinte die IV-Stelle des Kantons Thurgau den
Anspruch der B.________ auf eine Rente der Invalidenversicherung, was sie mit
Einspracheentscheid vom 14. September 2005 bestätigte. Mit Schreiben vom 3. Mai
2006 informierte B.________ die IV-Stelle über eine Verschlechterung des
Gesundheitszustandes. Nach Abklärungen und nach Durchführung des
Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle mit Verfügung von 19. Mai 2008
erneut einen Rentenanspruch.

B.
Die Beschwerde der B.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
als Versicherungsgericht mit Entscheid vom 15. Oktober 2008 ab.

C.
B.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, Gerichtsentscheid und Verwaltungsverfügung seien
aufzuheben und ihr eine Viertelsrente der Invalidenversicherung zuzusprechen.

Erwägungen:

1.
Das kantonale Gericht hat durch Einkommensvergleich (Art. 28 Abs. 2 IVG in der
bis 31. Dezember 2007 gültig gewesenen Fassung in Verbindung mit Art. 16 ATSG)
einen nicht anspruchsbegründenden Invaliditätsgrad von 31 % (Art. 28 Abs. 1
IVG) ermittelt. Valideneinkommen und Invalideneinkommen hat es auf der
Grundlage der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung 2006 des Bundesamtes für
Statistik (LSE 06) bestimmt. Dabei hat es eine Parallelisierung der beiden
Vergleichseinkommen vorgenommen, indem es den zuletzt erzielten Verdienst auf
das (branchenübliche) durchschnittliche Einkommen von Frauen in einfachen und
repetitiven Tätigkeiten (Anforderungsniveau des Arbeitsplatzes 4) im privaten
Sektor im Bereich Herstellung von elektrischen Geräten und Einrichtungen (LSE
06 S. 25 TA1) heraufgesetzt und den so erhaltenen Betrag (Fr. 48'934.08) als
Valideneinkommen genommen hat (BGE 134 V 322 E. 4.1 S. 325 f.). Das
Invalideneinkommen (Fr. 33'855.30) hat es ausgehend vom durchschnittlichen Lohn
von Frauen in einfachen und repetitiven Tätigkeiten in allen Wirtschaftszweigen
(«Total») ermittelt. Die Arbeitsfähigkeit hat es auf 75 % in einer dem
Anforderungsprofil entsprechenden Tätigkeit gemäss Gutachten des Zentrums
S.________ vom 14. Dezember 2007 festgesetzt. Weiter hat es einen Abzug vom
Tabellenlohn nach BGE 126 V 75 von 10 % vorgenommen (vgl. BGE 129 V 472 E.
4.2.1 S. 476 und BGE 124 V 321).

2.
Die Beschwerdeführerin bestreitet die vorinstanzliche Invaliditätsbemessung
einzig in Bezug auf die Höhe des Abzugs vom Tabellenlohn. Sie rügt, ein
Leidensabzug von lediglich 10 % stelle einen Ermessensmissbrauch und damit eine
Rechtsverletzung dar. Der in diesem Zusammenhang erhobene Vorwurf, im
angefochtenen Entscheid werde die Höhe des Leidensabzugs nicht nachvollziehbar
begründet, ist nicht stichhaltig. Das kantonale Gericht hat die Gründe
dargelegt, weshalb ein Abzug von 10 % angemessen und ein höherer Abzug
insbesondere im maximal zulässigen Umfang von 25 % nicht gerechtfertigt sei
(vgl. E. 4 hiernach). Der Beschwerdeführerin war es denn auch ohne weiteres
möglich, den vorinstanzlichen Entscheid in diesem Punkt sachgerecht anzufechten
(BGE 124 V 180 E. 1a S. 181; Urteil 2C_344/2007 vom 22. Mai 2008 E. 4.1).

3.
Ob ein behinderungsbedingt oder anderweitig begründeter Abzug vom Tabellenlohn
vorzunehmen ist, stellt eine frei überprüfbare Rechtsfrage dar. Dagegen geht es
bei der Höhe des (im konkreten Fall grundsätzlich angezeigten) Abzugs vom
Tabellenlohn um eine typische Ermessensfrage. Deren Beantwortung ist
letztinstanzlicher Korrektur nur mehr dort zugänglich, wo das kantonale
Versicherungsgericht das Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hat, also
Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung vorliegt (vgl. BGE
132 V 393 E. 3.3 in fine S. 399; Urteil 9C_469/2008 vom 18. August 2008 E.
5.1). Ermessensmissbrauch ist gegeben, wenn eine Behörde zwar im Rahmen des ihr
eingeräumten Ermessens bleibt, sich aber von unsachlichen, dem Zweck der
massgebenden Vorschriften fremden Erwägungen leiten lässt oder allgemeine
Rechtsprinzipien, wie das Verbot von Willkür oder rechtsungleicher Behandlung,
das Gebot von Treu und Glauben sowie den Grundsatz der Verhältnismässigkeit
verletzt (BGE 123 V 150 E. 2 S. 152 mit Hinweisen).

4.
4.1 Die Vorinstanz hat den Abzug vom Tabellenlohn von 10 % damit begründet, mit
einem höheren Valideneinkommen als dem zuletzt erzielten, an die
Nominallohnentwicklung angepassten Verdienst sei gewissen invaliditätsfremden
Faktoren bereits Rechnung getragen worden. Es könnten daher nur noch
leidensbedingte Gründe berücksichtigt werden. Dem Anforderungsprofil aus
medizinischer Sicht entsprechende Tätigkeiten könnten praktisch uneingeschränkt
ausgeübt werden. Ein Abzug von 10 % sei somit auch verglichen mit ähnlich
gelagerten Fällen ohne weiteres angemessen.
4.2
4.2.1 Persönliche und berufliche Merkmale der versicherten Person wie Alter und
Dauer der Betriebszugehörigkeit, Nationalität oder Aufenthaltskategorie sowie
Beschäftigungsgrad können beim Abzug vom Tabellenlohn nach BGE 126 V 75 nicht
berücksichtigt werden, soweit ihnen bereits bei der Parallelisierung der
Vergleichseinkommen Rechnung getragen wurde (BGE 134 V 322 E. 5.2 in fine S.
328). Der Abzug wird sich daher in der Regel auf leidensbedingte Faktoren
beschränken und nicht mehr die maximal zulässigen 25 % für sämtliche
invaliditätsfremden und invaliditätsbedingten Merkmale ausschöpfen (BGE 134 V
322 E. 6.2 in fine S. 327).
4.2.2 Entgegen den Vorbringen in der Beschwerde besteht vorliegend kein Grund,
von dieser Regel abzuweichen. Die Gutachter des Zentrums S.________
formulierten zwar Anforderungen an die in Betracht fallenden Tätigkeiten:
maximale Gewichtsbelastung von 10 kg, keine Arbeiten repetitiver Natur, mit
Zwangshaltung der Wirbelsäule und Belastung der Kniegelenke, keine
Kälteexposition und keine Sturzgefährdung. Selbst wenn jedoch diese
Einschränkungen das übliche Mass überschreiten sollten, wie die
Beschwerdeführerin geltend macht, ändert dies nichts daran, dass ihr nach nicht
offensichtlich unrichtiger und für das Bundesgericht verbindlicher Feststellung
der Vorinstanz (Art. 105 BGG) grundsätzlich alle körperlich leichten und
wechselbelastenden Tätigkeiten im zeitlichen Umfang von 75 % mit vermehrten
Pausen über den Tag verteilt zumutbar sind. In diesem Zusammenhang ist nicht
ersichtlich und wird auch nicht dargetan, inwiefern die Diagnosen im Einzelnen
für die Frage der gesundheitlich bedingt eingeschränkten Arbeitsfähigkeit im
Sinne der Einbusse an funktionellem Leistungsvermögen (BGE 130 V 97 E. 3.2 S.
99; 107 V 17 E. 2b S. 20) und deren Verwertbarkeit auf einem ausgeglichenen
Arbeitsmarkt (Urteil 9C_442/ 2008 vom 28. November 2008 E. 4.2) von Belang
sind. Im Übrigen kann der Umstand, dass andere Ärzte die Arbeitsfähigkeit etwas
tiefer als 75 % eingeschätzt haben, nicht gleichsam kompensatorisch beim Abzug
vom Tabellenlohn berücksichtigt werden. Dass die Vorinstanz nicht den maximal
zulässigen Abzug von 25 % vorgenommen hat, ist somit nicht das Ergebnis
rechtsfehlerhafter Ermessensbetätigung. Ob dies auch für einen Abzug von 10 %
gilt, kann offen bleiben. Selbst bei einem auf Grund der Umstände höchstens in
Betracht fallenden Abzug von 20 % ergäbe der im Übrigen nicht beanstandete
vorinstanzliche Einkommensvergleich (E. 1) lediglich einen Invaliditätsgrad von
39 % (zum Runden BGE 130 V 121), was für den Anspruch auf eine Invalidenrente
nicht genügt.
4.2.3 Ebenfalls spricht folgende Überlegung gegen den maximal zulässigen Abzug
von 25 %: Eine Parallelisierung der Vergleichseinkommen (hier auf Seiten des
Valideneinkommens) ist erst vorzunehmen, wenn der tatsächliche (zuletzt
erzielte) Verdienst deutlich unter dem branchenüblichen Einkommen liegt (BGE
9C_560 vom 12. Dezember 2008 E. 3.1; Urteil 9C_488/2008 vom 5. September 2008
E. 6.3 mit Hinweisen). Was unter «deutlich» (Höhe des für die Grenzziehung
massgebenden, in Prozenten des branchenüblichen Einkommens ausgedrücktes
Referenzeinkommens) zu verstehen ist, hat die Rechtsprechung bisher noch nicht
entschieden (Urteil 9C_488/2008 vom 5. September 2008 E. 6.6) und kann offen
bleiben: Der von der Beschwerdeführerin zuletzt erzielte Verdienst von Fr.
38'742.- lag um mehr als 20 % unter dem branchenüblichen Lohn von Fr. 48'934.-,
was unbestritten als «deutlich» zu gelten hat. Das kantonale Gericht hat die
Differenz von Fr. 10'192.- voll ausgeglichen. Es liesse sich - schon aus
Gründen der Gleichbehandlung - indessen der Standpunkt vertreten, die
Parallelisierung der Vergleichseinkommen lediglich bezogen auf das
beispielsweise um 10 % oder 15 % gekürzte branchenübliche Einkommen (=
Referenzeinkommen) vorzunehmen.
Der vorinstanzliche Entscheid verletzt Bundesrecht nicht.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.

Luzern, 19. Januar 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler