Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 950/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_950/2008

Urteil vom 18. März 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Parteien
Pensionskasse der Firma X.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Peter Rösler,

gegen

J.________,
Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Kurt Rusch,

IV-Stelle des Kantons Graubünden, Ottostrasse 24, 7001 Chur.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden
vom 28. August 2008.

Sachverhalt:

A.
Der 1957 geborene J.________ war über seine letzte Arbeitgeberin, welche ihn
vom 1. Juli 2003 bis 30. Juni 2004 beschäftigte, bei der Pensionskasse der
Firma X.________ (nachfolgend: Pensionskasse) für die berufliche Vorsorge
versichert. Im November 2004 meldete er sich wegen Kniebeschwerden bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen und Durchführung
des Vorbescheidverfahrens sprach ihm die IV-Stelle des Kantons Graubünden mit
Verfügung vom 29. Februar 2008 bei einem Invaliditätsgrad von 70 % ab 1. Juni
2005 eine ganze Invalidenrente zu.

B.
Die Beschwerde der Pensionskasse wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden mit Entscheid vom 28. August 2008 ab.

C.
Die Pensionskasse lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
führen und beantragen, der Entscheid vom 28. August 2008 sei aufzuheben und es
sei als Hauptstandpunkt festzustellen, dass der Anspruchsbeginn auf Oktober
2005 festzulegen sei.

J.________ und das kantonale Gericht schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

2.
Es steht fest und ist unbestritten, dass der Invaliditätsgrad des Versicherten
70 % beträgt und dieser folglich Anspruch auf eine ganze Rente der
Invalidenversicherung hat. Streitig und zu prüfen ist der Zeitpunkt der
Eröffnung der Wartezeit und damit der Rentenbeginn (vgl. Art. 29 Abs. 1 lit. b
IVG in der bis 31. Dezember 2007 geltenden Fassung, heute Art. 28 Abs. 1 lit. b
IVG).

3.
3.1 Die Frage nach dem Zeitpunkt des Eintritts der (invalidisierenden)
Arbeitsunfähigkeit (Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG in der bis 31. Dezember 2007
geltenden Fassung, heute Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG; vgl. auch Art. 23 lit. a
BVG), ist eine Tatfrage (SVR 2008 BVG Nr. 34 S. 143, 9C_127/2008 E. 2.2; Urteil
9C_689/2008 vom 25. Februar 2009 E. 3.1). Die konkrete Beweiswürdigung stellt
ebenfalls eine Tatfrage dar. Als Rechtsfragen zu prüfen sind dagegen die
Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach Art.
61 lit. c ATSG (Urteil 9C_941/2008 vom 18. Februar 2009 E. 3.2 mit Hinweisen)
und auf die allgemeine Lebenserfahrung gestützte Annahmen und
Schlussfolgerungen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398 f.; Zur Publikation in BGE 135
V vorgesehenes Urteil 9C_560/2008 vom 12. Dezember 2008 E. 3.3.2).

3.2 Im Rahmen der Invaliditätsbemessung ist es Aufgabe des Arztes oder der
Ärztin, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in
welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte Person
arbeitsunfähig ist. Im Weiteren sind die ärztlichen Auskünfte eine wichtige
Grundlage für die Beurteilung der Frage, welche Arbeitsleistungen der Person
noch zugemutet werden können (BGE 132 V 93 E. 4 S. 99 f. mit Hinweisen).
Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob dieser
für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen
beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten
(Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen
Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet
und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind (BGE 134 V 231 E. 5.1
S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis).

3.3 Wie beim Rentenanspruch gegenüber einer Einrichtung der beruflichen
Vorsorge (vgl. Art. 23 BVG), muss der Zeitpunkt des Eintritts der
Arbeitsunfähigkeit auch gegenüber der Invalidenversicherung mit dem im
Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit grundsätzlich echtzeitlich nachgewiesen sein. Dieser
Nachweis darf nicht durch nachträgliche Annahmen und spekulative Überlegungen
ersetzt werden (vgl. Urteile 9C_368/2008 vom 11. September 2008 E. 2; 9C_96/
2008 vom 11. Juni 2008 E. 2.2; je mit Hinweisen).

4.
Die Vorinstanz ist der Auffassung, es gebe keinen triftigen Grund, nicht auf
die Beurteilung des Psychiaters Dr. med. R.________ vom 23. Juni 2006
abzustellen, welcher - unter Berücksichtigung seiner Erkenntnisse aus der
Behandlung vom 18. Oktober 2004 - eine Arbeitsunfähigkeit von 50 % ab Juni 2004
attestierte. Die Beschwerdeführerin stellt demgegenüber die Beweiskraft der
medizinischen Unterlagen in Bezug auf den Eintritt der Arbeitsunfähigkeit in
Abrede.

4.1 Die Vorinstanz hat festgestellt, die Fachärzte des Instituts Y.________
hätten im multidisziplinären Gutachten vom 22. Januar 2007 die Arbeitsfähigkeit
des Versicherten in behinderungsangepasster Tätigkeit auf 50 % festgelegt und
dabei den von Dr. med. R.________ bestimmten Zeitpunkt des Eintritts der
Arbeitsunfähigkeit im Juni 2004, ohne sich damit genauer auseinanderzusetzen,
kommentarlos bestätigt. Diese Feststellung ist nicht offensichtlich unrichtig
und für das Bundesgericht verbindlich (E. 1). Damit steht fest, dass dem
Gutachten des Instituts Y.________ in Bezug auf die streitige Frage nach dem
Zeitpunkt des Eintritts der invalidisierenden Arbeitsunfähigkeit mangels
Begründung (E. 3.2) nur insofern Beweiskraft beizumessen ist, als darin die
psychiatrische Sicht als wegweisend erachtet wird.

4.2 Weiter ist das kantonale Gericht der Auffassung, der Psychiater Dr. med.
R.________ habe sich selbst rückwirkend zuverlässig über die
Restarbeitsfähigkeit des Versicherten äussern können. Dem ist nicht
beizupflichten. Zwar ist die Feststellung, er habe den Versicherten schon 1995
wegen Herzstechens und Schlafstörungen medikamentös behandelt und ihn vor und
nach dessen letzter Arbeitstätigkeit als Patient gekannt, nicht offensichtlich
unrichtig. Allerdings geht aus dem Bericht des Dr. med. R.________ vom 23. Juni
2006 hervor, dass der Versicherte anlässlich der Erstkonsultation im Jahr 1995
sich nicht auf eine kontinuierliche Betreuung einlassen mochte und mit dem
Verschreiben eines Beruhigungsmittels zufrieden war. Er habe ihn am 18. Oktober
2004 auf Druck der besorgten Schwester aufgesucht. Dass bis zu diesem Zeitpunkt
eine weitere psychiatrische Konsultation erfolgt wäre, ist weder aus diesem
Bericht noch aus den übrigen Unterlagen ersichtlich. Ausserdem fand die
Behandlung bei Dr. med. R.________ erst am 4. Mai 2006 eine Fortsetzung. Von
einem engen Arzt-Patient-Verhältnis, welches allenfalls für einen kurzen
Zeitraum die rückwirkende Einschätzung der Arbeitsfähigkeit erlauben würde,
kann unter diesen Umständen nicht die Rede sein. Auch hat der Arzt den Eintritt
der Arbeitsunfähigkeit nicht um einige Tage, sondern in Bezug auf die
Konsultation vom 18. Oktober 2004 um mehr als vier Monate vorverlegt, weshalb
sein Bericht hinsichtlich des streitigen Zeitpunkts den Anforderungen an den
Beweiswert nicht genügt (E. 3.3). Hingegen ist nicht zu beanstanden, dass sich
die von Dr. med. R.________ erstmals mit Bericht vom 23. Juni 2006 abgegebene
Einschätzung der Arbeitsfähigkeit (auch) auf die im Oktober 2004 selber
erhobenen Befunde bezieht, zumal sich die gesundheitliche Situation des
Versicherten - abgesehen von der Behandlungsbereitschaft - bis zur
Berichterstattung nicht wesentlich verändert zu haben scheint.

4.3 Schliesslich ist die vorinstanzliche Feststellung, die psychischen Probleme
hätten ursächlich offensichtlich etwas mit dem Stellenverlust zu tun, zumal der
Versicherte zunächst die Schweiz für immer habe verlassen wollen, jedoch nur
wenige Monate später wegen Knieproblemen zurückgekehrt sei, nicht
offensichtlich unrichtig. Daraus lässt sich jedoch nicht schliessen, dass die
psychischen Probleme auch zwingend Ursache des im Juni 2004 erfolgten
Stellenverlustes oder gar einer Arbeitsunfähigkeit zu diesem Zeitpunkt gewesen
wären. Die Ursächlichkeit besteht eher in umgekehrter Richtung.

4.4 Nach dem Gesagten kann der Bericht des Dr. med. R.________ vom 23. Juni
2006 in Bezug auf die Arbeitsfähigkeit des Versicherten für die Zeit ab 18.
Oktober 2004 herangezogen werden. Hingegen fehlen stichhaltige Beweise (vgl.
Art. 8 ZGB) für die Annahme, dass bereits vor diesem Zeitpunkt eine
Arbeitsunfähigkeit eingetreten ist, zumal an der letzten Arbeitsstelle bis zur
Aufgabe dieser Tätigkeit am 6. Juni 2004 keine gesundheitsbedingten Absenzen zu
verzeichnen waren. Demzufolge hat der Versicherte seit Oktober 2005 Anspruch
auf eine Rente der Invalidenversicherung. Die Beschwerde ist begründet.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdegegner die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 65 Abs. 4 lit. a sowie Art. 66 Abs. 1 BGG). Der
obsiegenden Pensionskasse kann keine Parteientschädigung zugesprochen werden
(Art. 68 Abs. 3 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Graubünden vom 28. August 2008 und die Verfügung vom 29. Februar 2008
werden aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Versicherte ab 1. Oktober
2005 Anspruch auf eine ganze Rente der Invalidenversicherung hat.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden,
Kammer 2 als Versicherungsgericht, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. März 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Dormann