Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 937/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_937/2008

Urteil vom 23. März 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Fessler.

Parteien
B.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Fürsprech Jürg Walker,

gegen

IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn
vom 1. Oktober 2008.

Sachverhalt:

A.
Der 1960 geborene B.________ meldete sich Anfang Juli 2004 bei der
Invalidenversicherung an und beantragte eine Rente. Nach Abklärungen, u.a.
zweimalige Begutachtung im Spital X.________ und nach Durchführung des
Vorbescheidverfahrens sprach ihm die IV-Stelle des Kantons Solothurn für die
Zeit vom 1. September 2004 bis 31. Mai 2006 aufgrund eines Invaliditätsgrades
von 100 % eine ganze Rente samt vier Kinderrenten zu. Einen Anspruch auf
Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art verneinte sie (Verfügung vom 19. März
2007).

B.
Die Beschwerde des B.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn ab (Entscheid vom 1. Oktober 2008).

C.
B.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit den Rechtsbegehren, der Entscheid vom 1. Oktober 2008 sei aufzuheben, die
beantragten beruflichen Massnahmen zu gewähren und die ganze Rente nicht auf
den 31. Mai 2006 zu befristen.

Das kantonale Gericht und die IV-Stelle beantragen die Abweisung der
Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Das kantonale Gericht hat durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG in Verbindung
mit Art. 28a Abs. 1 IVG) einen Invaliditätsgrad von 14 % ermittelt. Demzufolge
hat es den Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 2 IVG) und auf
Umschulung (Art. 17 IVG; vgl. BGE 130 V 488 E. 4.2 S. 490 in fine) verneint. Da
dem Versicherten grundsätzlich jede körperlich leichte bis mittelschwere
Tätigkeit zugemutet werden könne, bestehe auch kein Anspruch auf
Arbeitsvermittlung (Art. 18 Abs. 1 IVG).

2.
Der Beschwerdeführer rügt zur Hauptsache eine aktenwidrige sowie eine
unvollständige Sachverhaltsfeststellung durch die Vorinstanz. Das kantonale
Gericht habe das rheumatologische Gutachten des Spitals X.________ vom 11. Juli
2006 gegen dessen klaren Wortlaut interpretiert und darauf abgestellt, obschon
die Expertise nicht nachvollziehbar und schlüssig sei. Es habe zu Unrecht kein
Obergutachten eingeholt.

3.
Die unvollständige Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen sowie die
Nichtbeachtung des Untersuchungsgrundsatzes nach Art. 61 lit. c ATSG durch das
kantonale Versicherungsgericht stellen eine Verletzung von Bundesrecht nach
Art. 95 lit. a BGG dar (Urteil 9C_802/2008 vom 22. Dezember 2008 E. 1.1 mit
Hinweisen). Im Übrigen ist die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz für das
Bundesgericht verbindlich, wenn sie nicht offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2
BGG). Die konkrete Beweiswürdigung ist wie die darauf beruhende
Sachverhaltsfeststellung ebenfalls nur unter diesem eingeschränktem Blickwinkel
überprüfbar (Urteile 9C_410/2008 vom 8. September 2008 E. 3.3.1 und 9C_801/2008
vom 6. Januar 2009 E. 2.2).

Die Beweiswürdigung durch das kantonale Gericht verletzt Bundesrecht,
namentlich wenn es den Sinn und die Tragweite eines Beweismittels
offensichtlich falsch eingeschätzt, ohne sachlichen Grund ein wichtiges und für
den Ausgang des Verfahrens entscheidendes Beweismittel nicht beachtet oder aus
den abgenommenen Beweisen unhaltbare Schlüsse gezogen hat (BGE 129 I 8 E. 2.1
S. 9; Urteile 9C_689/2008 vom 25. Februar 2009 E. 3.1 und 9C_1025/2008 vom 19.
Januar 2009 E. 4.1). Der Verzicht der Vorinstanz auf weitere Beweisvorkehren in
antizipierter Beweiswürdigung sodann verletzt etwa dann Bundesrecht, wenn der
festgestellte Sachverhalt unauflösbare Widersprüche enthält oder wenn eine
entscheidwesentliche Tatfrage auf unvollständiger Beweisgrundlage beantwortet
wird (Urteil 9C_410/2008 vom 8. September 2008 E. 3.3.1 mit Hinweisen). Geht es
im Besonderen um den Gesundheitszustand und die Arbeitsfähigkeit einer
versicherten Person, ist auf die Rechtsprechung hinzuweisen, wonach einem
ärztlichen Bericht Beweiswert zukommt, wenn er für die streitigen Belange
umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten
Beschwerden berücksichtigt und in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben
worden ist, wenn die Beschreibung der medizinischen Situation und Zusammenhänge
einleuchtet und die Schlussfolgerungen des Arztes begründet sind (BGE 125 V 351
E. 3a S. 352; Urteil 9C_55/2008 vom 26. Mai 2008 E. 4.2).

4.
Das kantonale Gericht hat festgestellt, der Gesundheitszustand habe sich
infolge der deutlichen Remission des radiologischen Befundes mit Bezug auf die
Diskushernie L5/S1 gegenüber der früheren Situation, insbesondere seit dem
ersten rheumatologischen Gutachten des Spitals X.________ vom 28. Januar 2005,
erheblich verbessert. Als Folge davon seien gemäss dem zweiten Gutachten dieses
Spitals vom 11. Juli 2006 spätestens seit Anfang 2006 körperlich leichte bis
mittelschwere, in Wechselposition auszuübende Tätigkeiten im Rahmen eines
vollen Pensums mit voller Leistung zumutbar. Der Beschwerdeführer bestreitet
nicht, dass der Gesundheitszustand sich seit der ersten Begutachtung gebessert
hat. Nach seiner Auffassung ist indessen die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit
im Gutachten vom 11. Juli 2006 nicht nachvollziehbar und kann darauf nicht
abgestellt werden:

4.1 Die Gutachter hätten zur Schmerzreduktion eine medizinische
Trainingstherapie mit Kräftigung der autochthonen Rückenmuskulatur lumbal sowie
der Rumpfmuskulatur einhergehend mit Einzelphysiotherapie zur Haltungskorrektur
und Erlernen eines aktiven Heimprogrammes vorgeschlagen. Da laut den Experten
erst diese Therapien zu einer Verbesserung der Arbeitsfähigkeit führten, müsse
diese bis zu deren erfolgreichen Abschluss als eingeschränkt angesehen werden.

Im Gutachten vom 11. Juli 2006 wurde zwar ausgeführt, durch die vorgeschlagenen
Rehabilitationsmassnahmen könne eine Schmerzreduktion bis Schmerzfreiheit
erreicht werden, was die Arbeitsfähigkeit zusätzlich verbessere. Daraus kann
indessen nicht geschlossen werden, die Arbeitsfähigkeit müsse weniger als 100 %
betragen haben resp. die Rehabilitationsmassnahmen sollten zu einer Erhöhung
der bereits bei 100 % liegenden Arbeitsfähigkeit führen. Die gegenteilige
Auffassung verkennt, dass die Arbeitsfähigkeit auch insofern eingeschränkt ist,
als im Unterschied zu früher lediglich noch leichte bis mittelschwere Arbeiten
in Wechselposition zumutbar sind. Abgesehen davon kann Schmerzen allein nicht
invalidisierender Charakter zuerkannt werden Entscheidend ist, inwiefern von
der versicherten Person trotz den geklagten Schmerzen willensmässig erwartet
werden kann zu arbeiten (vgl. BGE 130 V 352 E. 2.2.3 und 2.2.4 S. 353 ff.).
Dies gilt namentlich, wenn kein hinreichend erklärender organisch fassbarer
Gesundheitsschaden vorliegt. Es ist unbestritten, dass die bei der ersten
gutachterlichen Untersuchung vom 2. Dezember 2004 festgestellte Schädigung der
Nervenwurzel S1 links im Rahmen der neurologischen, wirbelsäulenmedizinischen
und schmerztherapeutischen Abklärungen im Zeitraum März bis Dezember 2005 nicht
mehr diagnostiziert werden konnte. Als (klinisch) feststellbare und
objektivierbare somatische Beeinträchtigungen blieben einzig die bereits im
Gutachten vom 28. Januar 2005 erwähnten Fehlhaltung und Fehlstatik der
Wirbelsäule mit lumbosakraler Übergangsanomalie sowie muskuläre
Haltungsinsuffizienz ohne den damals geäusserten Verdacht auf segmentale
Funktionstörungen des lumbothorakalen Übergangs. Die - nicht erst im Gutachten
vom 11. Juli 2006 - vorgeschlagenen Therapien zielen denn auch darauf ab, die
Rückenmuskulatur lumbal sowie die Rumpfmuskulatur zu kräftigen und die
Fehlhaltung zu korrigieren. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kann
daher nicht von einem (unauflösbaren) Widerspruch gesprochen werden, wenn im
Gutachten vom 28. Januar 2005 eine vollständige Arbeitsunfähigkeit von 100 %,
im zweiten Gutachten vom 11. Juli 2006 jedoch eine Arbeitsfähigkeit von 100 %
in leidensangepassten Tätigkeiten angegeben wurden. Inwiefern die Tatsache,
dass in der ersten Expertise noch eine Dekompressionsoperation L5/S1 als
wesentliche Voraussetzung zur Reintegration in den Arbeitsprozess erachtet
worden war, den Beweiswert der zweiten Expertise mindern soll, ist nicht
ersichtlich, denn es hat sich nachträglich gezeigt, dass auch mit konservativen
Massnahmen eine Verbesserung erzielt werden kann.

4.2 Im Weitern müsse während der Durchführung der Therapien die
Arbeitsfähigkeit als eingeschränkt angesehen werden. Für die medizinische
Trainingstherapie (MTT) würden gemäss Gutachten wöchentlich dreimal je
eineinhalb Stunden veranschlagt. Dazu komme Einzelphysiotherapie. Die Sitzungen
würden nicht in der arbeitsfreien Zeit abgehalten. Zu berücksichtigen sei
sodann der Zeitaufwand für die Hin- und Rückfahrten. Es sei gar nicht möglich,
das zeitintensive Programm durchzuführen und daneben 100 % zu arbeiten.

Der Beschwerdeführer stellt zu Recht nicht in Frage, dass er im Rahmen der
invalidenversicherungsrechtlichen Schadenminderungspflicht (BGE 113 V 22 E. 4a
S. 28) gehalten ist, sich den vorgeschlagenen therapeutischen Massnahmen zu
unterziehen (Urteil 9C_641/2008 vom 9. Dezember 2008 E. 3.2.2). Dies gilt auch,
soweit es darum geht, eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu
verhindern und die Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Im Weitern ist nicht
anzunehmen, dass die Therapien lediglich zu der vom Beschwerdeführer als normal
bezeichneten Arbeitszeit durchgeführt werden. Vielmehr sind Physiotherapeuten
und -therapeutinnen regelmässig auch während Randzeiten und nicht selten sogar
darüber hinaus, insbesondere samstags, tätig. Es kommt dazu, dass die Therapien
nicht zeitlich unbefristet sind, sondern der Beschwerdeführer schliesslich in
der Lage sein sollte, die notwendigen Übungen grösstenteils selber zu Hause
durchzuführen. Unter diesen Umständen kann der zeitlichen Beanspruchung durch
die im Gutachten vom 11. Juli 2006 vorgeschlagenen Therapien - auch mit Blick
darauf, dass das trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung zumutbarerweise
erzielbare Einkommen bezogen auf einen ausgeglichenen Arbeitsmarkt (vgl. zu
diesem Begriff BGE 110 V 273 E. 4b S. 276) zu ermitteln ist (Art. 16 ATSG) -
keine entscheidende Bedeutung im Rahmen der Invaliditätsbemessung zukommen.

4.3 Schliesslich ist zwar fraglich, ob dem Beschwerdeführer die zuletzt
ausgeübte Tätigkeit ohne Anpassungen am Arbeitsplatz zumutbar wäre, wie die
Gutachter anzunehmen scheinen. Diese Unklarheit allein mindert den Beweiswert
der Expertise jedoch nicht entscheidend und stellt keinen hinreichenden Anlass
zu weiteren Abklärungen dar.

Das Abstellen der Vorinstanz auf das Gutachten vom 11. Juli 2006 verletzt somit
Bundesrecht nicht.

5.
Mit Bezug auf den vorinstanzlichen Einkommensvergleich wird geltend gemacht,
beim Invalideneinkommen sei der maximal zulässige Abzug vom Tabellenlohn nach
BGE 126 V 75 von 25 % vorzunehmen. Die Vorbringen in der Beschwerde vermögen
indessen nicht darzutun, inwiefern die Vorinstanz ihr Ermessen rechtsfehlerhaft
ausgeübt hat und der in Berücksichtigung des Anforderungsprofils sowie der
immer noch limitierten Kenntnisse der deutschen Sprache festgesetzte Abzug von
10 % eine Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung darstellt
(Urteil 9C_973/2008 vom 19. Januar 2009 E. 3 mit Hinweisen). Selbst wenn im
Übrigen beim Invalideneinkommen von einem zumutbaren Arbeitspensum von 40
Stunden in der Woche ausgegangen und der Tabellenlohn nicht auf 41,6
Wochenstunden umgerechnet wird (vgl. BGE 124 V 321 E. 3b/aa S. 323), ergibt
sich ein Invaliditätsgrad von deutlich unter 20 %. Es wird nicht geltend
gemacht und es finden sich keine Anhaltspunkte in den Akten, dass gleichwohl
unter dem Gesichtspunkt der annähernden Gleichwertigkeit des mit der Massnahme
angestrebten Berufs im Vergleich zur angestammten Tätigkeit ein Anspruch auf
Umschulung gegeben sein könnte (BGE 124 V 108 E. 2a S. 110; Urteil 9C_47/2007
vom 29. Juni 2007 E. 2).

6.
Der Beschwerdeführer als unterliegende Partei hat grundsätzlich die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a
S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen,
wonach die begünstigte Partei die Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie
später dazu in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.

3.
Fürsprech Jürg Walker, Olten, wird als unentgeltlicher Rechtsanwalt für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'200.- entschädigt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn, der Ausgleichskasse der Aargauischen Industrie- und Handelskammer
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 23. März 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler