Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 922/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_922/2008

Urteil vom 16. Januar 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Fessler.

Parteien
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

R.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Hagmann,
Obere Bahnhofstrasse 11, 9501 Wil.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 10. Oktober 2008.

Sachverhalt:

A.
Der 1956 geborene R.________ meldete sich im Dezember 1999 bei der
Invalidenversicherung an und beantragte eine Rente. Nach medizinischen,
beruflichen und erwerblichen Abklärungen sowie nach Durchführung des
Vorbescheidverfahrens lehnte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen mit Verfügung
vom 26. Juni 2007 das Leistungsbegehren ab.

B.
In Gutheissung der Beschwerde des R.________ bejahte das Ver-sicherungsgericht
des Kantons St. Gallen den Anspruch auf eine Viertelsrente. Dementsprechend hob
es die Verfügung vom 26. Juni 2007 auf und wies die Sache zur Festsetzung von
Rentenbeginn und Rentenhöhe an die IV-Stelle zurück (Entscheid vom 10. Oktober
2008).

C.
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 10. Oktober 2008 sei aufzuheben.
R.________ lässt beantragen, die Beschwerde sei abzuweisen und es sei
festzustellen, dass dem Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung zukomme.
Kantonales Gericht und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Der angefochtene Entscheid spricht dem Beschwerdegegner eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung zu und weist die Sache zur Festsetzung von
Leistungsbeginn und Rentenhöhe an die IV-Stelle zurück. Deren gegen die
Anspruchsberechtigung als solche gerichtete Beschwerde ist zulässig und darauf
einzutreten (BGE 9C_560/2008 vom 12. Dezember 2008 E. 1; Urteil 9C_213/2008 vom
14. August 2008 E. 1).

2.
Die Vorinstanz hat den für den Anspruch auf eine Rente der
Invalidenversicherung und allenfalls den Umfang des Anspruchs massgebenden
Invaliditätsgrad (Art. 28 Abs. 2 IVG) durch Vergleich der Einkommen ohne und
mit Behinderung ermittelt (Art. 28a Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG).
Dabei hat sie beide Einkommensgrössen auf der Grundlage der Schweizerischen
Lohnstrukturerhebungen des Bundesamtes für Statistik (LSE) ausgehend vom selben
Tabellenlohn bestimmt. Bei einer zumutbaren Arbeitsfähigkeit in einer den
körperlichen Beschwerden angepassten Tätigkeit von 66 2/3 % gemäss
MEDAS-Gutachten vom 21. Dezember 2005 sowie einem Abzug vom Tabellenlohn nach
BGE 126 V 75 von maximal 20 % ergab sich ein Invaliditätsgrad von 47 %
([1-0,666 x 0,8] x 100 %; zum Runden BGE 130 V 121; vgl. BGE 129 V 472 E. 4.2.1
S. 476 und SVR 2008 IV Nr. 2 S. 3, I 697/05 E. 5.4), was Anspruch auf eine
Viertelsrente gibt.

3.
Die Beschwerde führende IV-Stelle rügt, die vorinstanzliche
Invaliditätsbemessung verletze Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG) und beruhe auf
einem offensichtlich unrichtig festgestellten Sachverhalt (Art. 97 Abs. 1 BGG).
Die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit im MEDAS-Gutachten vom 21. Dezember 2005
sei nicht schlüssig. Aus somatischer und psychiatrischer Sicht bestehe in einer
adaptierten Tätigkeit volle Arbeitsfähigkeit. Im Weitern sei nicht einzusehen,
weshalb für die Ermittlung des ohne gesundheitliche Beeinträchtigung
erzielbaren (Validen-)Einkommens Tabellenlöhne heranzuziehen seien. Der
Beschwerdegegner habe in den Jahren 2002 bis 2004 vor Eintritt der reduzierten
Arbeitsfähigkeit als selbständiger Velohändler und -mechaniker im Durchschnitt
ein nicht existenzsicherndes Einkommen von jährlich Fr. 11'841.- erzielt. Es
müsste somit das Existenzminimum bestimmt und das Valideneinkommen in gleicher
Höhe festgesetzt werden. Sie halte an dem in der vorinstanzlichen
Vernehmlassung errechneten Valideneinkommen von rund Fr. 20'000.- im Jahr fest.

4.
4.1 Es kann offenbleiben, ob von einer zumutbaren Arbeitsfähigkeit von
lediglich 66 2/3 % oder von 100 % in den körperlichen Beschwerden angepassten
Tätigkeiten auszugehen ist. Es ändert nichts am Ergebnis.

4.2 Der Beschwerdegegner realisierte als selbständiger Velohändler und
-mechaniker im Zeitraum 2002 bis 2004 ein Einkommen von durchschnittlich Fr.
11'841.- im Jahr (IK-Auszug vom 2. März 2007). Dieser zuletzt erzielte
Verdienst bildet grundsätzlich Anknüpfungspunkt für die Bemessung des ohne
gesundheitliche Beeinträchtigung erzielbaren Einkommens (Urteile 8C_145/2008
vom 20. August 2008 E. 3.2 und I 732/06 vom 2. Mai 2007 E. 2.2, je mit
Hinweisen). Das kantonale Gericht ist mit der Begründung davon abgewichen,
dieses Einkommen sei offensichtlich nicht existenzsichernd gewesen. Es sei
daher auf die Löhne gemäss Lohnstrukturerhebung abzustellen. Dabei hat es auf
die Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts I 347/05 vom 9. November 2005 sowie
I 12/90 vom 15. Oktober 1991, publ. in: ZAK 1992 S. 90, verwiesen, welche
indessen nicht einschlägig sind. Dagegen wendet die IV-Stelle ein, der Umstand
eines nicht existenzsichernden Erwerbseinkommens allein könne nicht dazu
führen, deswegen auf Tabellenlöhne abzustellen, welche selbst auf dem untersten
Anforderungsniveau 4 des Arbeitsplatzes deutlich über dem Existenzminimum einer
einzelnen Person lägen.
4.2.1 Die Vorinstanz hat festgestellt, der Versicherte hätte mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit im Gesundheitsfall die selbständige Erwerbstätigkeit als
Velohändler und -mechaniker aufgenommen und weitergeführt. Diese Feststellung
ist nicht offensichtlich unrichtig, beruht insbesondere nicht auf einer
unhaltbaren Beweiswürdigung, und ist somit für das Bundesgericht verbindlich
(Art. 97 Abs. 1 BGG sowie Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). Daran ändert das
Vorbringen des Beschwerdegegners nichts, gerade seine gesundheitlichen Probleme
hätten ihn dazu geführt, seine selbständige Tätigkeit weiterhin auszuüben,
könne er doch dabei auf seine komplexen Beschwerden einigermassen Rücksicht
nehmen und den zeitlichen Arbeitseinsatz seinem Gesundheitszustand anpassen.
Abgesehen davon ist aufgrund der medizinischen Akten nicht anzunehmen, die
gesundheitlichen Einschränkungen hätten einzig eine Betätigung als
selbständiger Velohändler und -mechaniker ermöglicht. Etwas anderes wird denn
auch nicht geltend gemacht oder dargetan.
4.2.2 Nach der Rechtsprechung ist bei Selbständigerwerbenden u.a. dann nicht
auf das zuletzt erzielte tiefe Einkommen abzustellen, wenn aufgrund der
Umstände mit überwiegender Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, der Versicherte
hätte im Gesundheitsfall seine nicht einträgliche Tätigkeit aufgegeben und eine
besser entlöhnte Arbeit gesucht und ausgeübt. Dieser Tatbestand ist nicht
gegeben, wenn die versicherte Person, auch als ihre Arbeitsfähigkeit noch nicht
beeinträchtigt war, über mehrere Jahre hinweg sich mit einem bescheidenen
Einkommen begnügt hatte. In einem solchen Fall ist dieser Verdienst für die
Festlegung des Valideneinkommens massgebend, selbst wenn besser entlöhnte
Erwerbsmöglichkeiten bestanden hätten (BGE 9C_560/2008 vom 12. Dezember 2008 E.
3.4.4 mit Hinweisen). Gleich verhält es sich, wenn der oder die Versicherte
trotz gesundheitlicher Einschränkungen eine bestimmte Tätigkeit jahrelang in
reduziertem zeitlichen Umfang und entsprechend tiefem Einkommen (weiter)
ausübte, obschon bedeutend besser entlöhnte - keine vorgängige
Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art erfordernde - andere Tätigkeiten
bestanden. In einem solchen Fall ist davon auszugehen, dass überwiegend
wahrscheinlich die versicherte Person auch ohne gesundheitliche
Beeinträchtigung die betreffende Tätigkeit und zwar vollzeitlich ausüben würde.

Es steht aufgrund der Akten fest, dass der Beschwerdegegner seit 1992 als
selbständiger Velohändler und -mechaniker tätig war. Gemäss seinen Angaben war
er bereits damals als Folge zweier 1978 und 1983 erlittener Verkehrsunfälle in
seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt und arbeitete er daher lediglich zu 50
%. Dabei realisierte er in den Jahren 2002 bis 2004 durchschnittlich ein
Einkommen von Fr. 11'841.-. Gemäss Auskunft des Steueramtes der
Wohnsitzgemeinde vom 1. März 2007 erzielte die Ehefrau des Versicherten 2003
Fr. 87'234.- und 2004 Fr. 95'219.- steuerbares Erwerbseinkommen. Nach nicht
offensichtlich unrichtiger Feststellung der Vorinstanz wäre ihm die Aufgabe der
selbständigen Tätigkeit und die Ausübung einer dem medizinischen
Anforderungsprofil entsprechenden einfachen und repetitiven Tätigkeit im Sinne
der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik (vgl.
z.B. LSE 04 S. 18 und 53) zumutbar, was umso mehr für jeden früheren Zeitpunkt
gilt. Unter diesen Umständen ist das Valideneinkommen somit dem Verdienst
gleichzusetzen, den der Beschwerdegegner als vollzeitlich tätiger selbständiger
Velohändler und -mechaniker erzielen könnte.
4.2.3 Die IV-Stelle hat in der vorinstanzlichen Vernehmlassung das als
vollzeitlich tätiger Velohändler und -mechaniker realisierbare Einkommen in der
Weise bestimmt, dass sie den Verdienst bei einem 50 %-Pensum von Fr. 11'841.-
im Zeitraum 2002 bis 2004 verdoppelte. Dies ergäbe ein Valideneinkommen von Fr.
23'682.-. Der Beschwerdegegner bestreitet diese Berechnung nicht. Das auf
tabellarischer Grundlage bei einer Arbeitsfähigkeit von 66 2/3 % und einem
Abzug vom Tabellenlohn von 20 % ermittelte Invalideneinkommen ist höher und
beträgt Fr. 30'537.75 ([[12 x Fr. 4588.-] x 41,6/40] x 0,666 x 0,8; LSE 04 S.
53 und Die Volkswirtschaft 3/2007 S. 90 Tabelle B9.2; BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S.
476). Selbst bei einem Valideneinkommen von Fr. 47'364.-, welches doppelt so
hoch ist wie das von der IV-Stelle angenommene, ergäbe sich lediglich ein
Invaliditätsgrad von 36 %, was für den Anspruch auf eine Invalidenrente nicht
genügt. Die Beschwerde ist somit begründet.

5.
Mit dem sofortigen Entscheid in der Hauptsache ist die Frage der aufschiebenden
Wirkung der Beschwerde gegenstandslos (Urteil 9C_294/ 2007 vom 10. Oktober 2007
E. 7).

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdegegner die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Beschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 10. Oktober 2008 aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hat die Kosten für das
vorangegangene Verfahren neu zu verlegen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 16. Januar 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler