Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 921/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_921/2008

Urteil vom 23. April 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Seiler,
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.

Parteien
L.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Ueli Kieser,

gegen

Ausgleichskasse Schwyz, Rubiswilstrasse 8, 6438 Ibach, Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Krankenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz
vom 23. September 2008.

Sachverhalt:

A.
Der 1967 geborene deutsche Staatsangehörige L.________ liess sich im September
2001 zur Aufnahme einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit in der Schweiz
nieder. Mit Schreiben vom 27. November 2001 befreite ihn die
Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich von der schweizerischen
KVG-Versicherungspflicht, solange er bei der Krankenversicherung X.________ in
Deutschland versichert sei.

Auf 31. August 2007 verlegte L.________ seinen Wohnsitz in den Kanton Schwyz.
Ordnungsgemäss füllte er ein neues Formular zur Abklärung der
KVG-Versicherungspflicht aus (unterzeichnet am 31. August 2007) und hielt im
Begleitschreiben vom 3. Oktober 2007 fest, er gehe davon aus, dass im Formular
kein neues Gesuch um Befreiung von der Versicherungspflicht zu sehen sei,
sondern es sich dabei um "eine Kenntnisnahme des bestehenden Sachverhaltes mit
entsprechendem Bestandesschutz" handle. Die Ausgleichskasse Schwyz verfügte am
12. Oktober 2007, das Gesuch um Befreiung vom Schweizerischen KVG-Obligatorium
werde abgelehnt, da sich aus den eingereichten Unterlagen kein Befreiungsgrund
ergebe. Mit Einspracheentscheid vom 25. April 2008 bestätigte sie ihre
Verfügung.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz wies die hiegegen erhobene Beschwerde
des L.________ mit Entscheid vom 23. September 2008 ab.

C.
L.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen.
Er beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei die Nichtigkeit
des Einspracheentscheides vom 25. April 2008 festzustellen und er sei weiterhin
von der Versicherungspflicht zu befreien. Eventualiter sei die Sache zur
erneuten Entscheidung an die zuständige Behörde zurückzuweisen.

Die Ausgleichskasse lässt sich vernehmen, ohne einen Antrag zu stellen.
Vorinstanz und Bundesamt für Gesundheit verzichten auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105
Abs. 2 BGG).

2.
2.1 Die Vorinstanz erwog, die Beschwerdegegnerin habe zwar das rechtliche Gehör
des Beschwerdeführers verletzt, indem sie ihn nicht darauf hinwiesen habe, dass
er nach seinem Wohnsitzwechsel, ungeachtet der im Jahre 2001 erfolgten
Befreiung vom Versicherungsobligatorium, ein neues Gesuch hätte stellen müssen.
Von einer Wiederholung des Verfahrens könne aber abgesehen werden, da der
Beschwerdeführer im Einspracheverfahren eingehend begründet habe, aus welchen
Gründen er vom Versicherungsobligatorium befreit werden wolle.

In materiell-rechtlicher Hinsicht habe der Beschwerdeführer nicht dargelegt,
dass eine Unterstellung unter die schweizerische Versicherung für ihn eine
Verschlechterung des bisherigen Versicherungsschutzes oder der bisherigen
Kostendeckung zur Folge hätte und aus welchen Gründen eine Zusatzversicherung
im bisherigen Umfang für ihn unzumutbar sei. Damit seien die
Befreiungsvoraussetzungen nicht erfüllt, woran auch das Schreiben der
Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich vom 27. November 2001 nichts zu ändern
vermöge.

2.2 Der Beschwerdeführer rügt, zunächst hätte über ein auf Art. 2 Abs. 8 KVV
gestütztes Gesuch nicht die beschwerdegegnerische Ausgleichskasse, sondern -
wegen der Nähe zu europarechtlichen Fragestellungen - die Gemeinsame
Einrichtung entscheiden müssen. Der Einspracheentscheid sei daher ohne weiteres
nichtig. Wenn er sich im Einspracheverfahren "ergänzend" mit den Aspekten von
Art. 2 Abs. 8 KVV auseinandergesetzt habe bedeute dies im Übrigen nicht, dass
er das ihm zustehende rechtliche Gehör effektiv habe wahrnehmen können. Die
Sache müsse daher an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen werden, damit diese
ihm Gelegenheit einräume, den auf Art. 2 Abs. 8 KVV gestützten Sachverhalt zu
belegen.

2.3 Auch inhaltlich sei der angefochtene Entscheid unhaltbar. Weil
Übergangsbestimmungen zu Art. 2 KVV insgesamt fehlten, könne das neue Recht auf
abgeschlossene Sachverhalte keine Anwendung finden. Angesichts der Tragweite
einer Neuunterstellung unter das schweizerische Versicherungsobligatorium für
den Einzelnen hätte der Verordnungsgeber eine entsprechende Regelung vorsehen
müssen. Weder in der Lehre noch in der Rechtsprechung werde denn auch die
Ansicht vertreten, dass bereits befreite Personen nach Inkrafttreten der
geänderten Bestimmung auf 1. Juni 2002 neu und erstmalig der schweizerischen
Krankenversicherung obligatorisch unterstellt werden sollten. Die Zürcherischen
Behörden hätten nach Inkrafttreten der neuen Bestimmung zu Recht keinen Anlass
gesehen, den fraglichen Entscheid zu ändern. In Würdigung der seit der
Befreiung vom Versicherungsobligatorium verstrichenen Zeit müsse von einer
definitiv erworbenen Vertrauensposition ausgegangen werden. Der Wohnsitzwechsel
ändere daran nichts; eine andere Betrachtungsweise verstiesse gegen die
Niederlassungsfreiheit. Schliesslich verfüge der Beschwerdeführer bei der
Krankenversicherung X.________ in Deutschland über eine sehr umfassende
Versicherungsdeckung, welche beispielsweise auch Zahnschäden vollständig
abdecke. Aufgrund seines Alters von 40 Jahren im massgeblichen Zeitpunkt sei es
zudem fraglich, ob er in der Schweiz ohne weiteres die entsprechende
Versicherungsdeckung wieder erlangen könnte. Jedenfalls müsste er
ausserordentlich hohe Prämien gewärtigen.

3.
3.1 Nach Art. 6a Abs. 3 Satz 2 KVG (in Kraft seit 1. Juni 2002) entscheidet die
vom Kanton bezeichnete Behörde über Anträge um Befreiung von der
Versicherungspflicht. Vorbehalten werden Art. 18 Abs. 2bis und Abs. 2ter KVG.
Nach Art. 18 Abs. 2bis KVG entscheidet die Gemeinsame Einrichtung über Anträge
um Befreiung von der Versicherungspflicht von Rentnerinnen und Rentnern sowie
deren Familienangehörigen, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen
Gemeinschaft, in Island oder in Norwegen wohnen. Abs. 2ter von Art. 18 KVG gibt
der Gemeinsamen Einrichtung die Befugnis, Rentnerinnen und Rentner sowie deren
Familienangehörige, die ihrer Versicherungspflicht nicht rechtzeitig
nachkommen, einem Versicherer zuzuweisen.

3.2 Die vom Beschwerdeführer vertretene Auffassung, wonach die Gemeinsame
Einrichtung über Gesuche zu entscheiden hätte von Personen, für welche eine
Unterstellung unter die schweizerische Versicherung eine klare Verschlechterung
des bisherigen Versicherungsschutzes oder der bisherigen Kostendeckung zur
Folge hätte und die sich auf Grund ihres Alters und/oder ihres
Gesundheitszustandes nicht oder nur zu kaum tragbaren Bedingungen im bisherigen
Umfang zusatzversichern könnten (Art. 2 Abs. 8 KVV), findet somit im
Gesetzeswortlaut keine Stütze.

3.3 Soweit der Beschwerdeführer aus Art. 10 Abs. 2 KVV (e contrario) schliesst,
dass die Gemeinsame Einrichtung für Gesuche nach Art. 2 Abs. 8 KVV zuständig
sei, weil in Art. 10 Abs. 2 KVV die kantonale Behörde nur für die in den Art. 2
Abs. 2 bis 5 sowie Art. 6 Abs. 3 KVV vorgesehenen Gesuche als zuständig erklärt
wird, kann ihm nicht gefolgt werden. Ohne dass weiter geprüft werden muss, ob
der Verordnungsgeber in Art. 10 Abs. 2 KVV die Gesuche nach Art. 2 Abs. 8 KVV
absichtlich nicht der zuständigen kantonalen Stelle zugeordnet hat oder ob es
sich dabei um eine ungewollte Unvollständigkeit handelt, geht die
Gesetzesbestimmung (Art. 6a Abs. 3 Satz 2 KVG) als höherstufige Norm der
Verordnungsregelung jedenfalls vor ("lex superior derogat legi inferiori") und
verdrängt diese auch deshalb, weil es sich bei ihr um die neuere Norm handelt
("lex posterior derogat legi priori"). Damit fällt der hier zu entscheidende
Befreiungsfall nicht in die Zuständigkeit der Gemeinsamen Einrichtung gemäss
Art. 18 Abs. 2bis in Verbindung mit Art. 6a Abs. 3 Satz 3 KVG, so dass die
Ausgleichskasse als zuständige kantonale Behörde rechtmässig über das Gesuch
des Beschwerdeführers entschieden hat (vgl. auch BGE 132 V 310, wo ebenfalls
die Ausgleichskasse entschied).

4.
4.1 Nach Art. 42 Abs. 2 Satz 2 ATSG müssen die Parteien nicht angehört werden
vor Verfügungen, die durch Einsprache anfechtbar sind. Während im
Beschwerdeverfahren wegen der formellen Natur des rechtlichen Gehörs die in
Verletzung dieses Anspruchs ergangene Verfügung (vorbehältlich einer Heilung)
unabhängig von der materiellen Beurteilung aufgehoben werden muss, gilt dies
für das Einspracheverfahren zum vornherein nicht. Es genügt, das rechtliche
Gehör im Einspracheverfahren zu gewähren und gestützt darauf neu zu entscheiden
(Hansjörg Seiler, Rechtsfragen des Einspracheverfahrens in der
Sozialversicherung [Art. 52 ATSG], in: Schaffhauser/Schlauri,
Sozialversicherungsrechtstagung 2007, St. Gallen 2007, S. 102 f.).

4.2 Davon abgesehen, dass der Beschwerdeführer in seiner Einsprache im
Einzelnen dargelegt hat, weshalb er von der Versicherungspflicht zu befreien
sei (insbesondere weil die in Deutschland abgeschlossene Versicherung
"wesentlich grössere Bereiche" abdecke als eine Pflichtversicherung in der
Schweiz und ein Ausscheiden aus der seit zwölf Jahren bestehenden Versicherung
Nachteile zur Folge hätte, namentlich "den Verlust der bereits einbezahlten
Altersprogression" sowie eine "unzumutbar höhere Franchise" bei späterem
Wiedereinstieg), hatte ihm spätestens nach Kenntnisnahme des
Einspracheentscheides vom 25. April 2008 klar sein müssen, dass die
Beschwerdegegnerin die Befreiung vom Versicherungsobligatorium gestützt auf
Art. 2 Abs. 8 KVV aus materiellen Gründen verweigerte. Er hätte sich somit im
vorinstanzlichen Beschwerdeverfahren mit den entsprechenden Argumenten
auseinandersetzen und Befreiungsgründe geltend machen können. Damit bestand
ausreichend Gelegenheit, die Argumente in materieller Hinsicht vorzubringen.
Die neuen Vorbringen des Beschwerdeführers, er könne wegen seines Alters (im
massgeblichen Zeitpunkt: 40 Jahre) nicht ohne weiteres Zusatzversicherungen
abschliessen und eine vergleichbare Deckung wäre in der Schweiz nicht oder
jedenfalls nicht zu tragbaren Bedingungen möglich, sind letztinstanzlich nicht
zu berücksichtigen (Art. 99 Abs. 1 BGG).

4.3 Im Übrigen wären im Lichte der Rechtsprechung die Befreiungsvoraussetzungen
von Art. 2 Abs. 8 KVV selbst dann nicht erfüllt, wenn auf die Noven abgestellt
würde. Mit Blick auf die gesetzgeberisch gewollte Solidarität zwischen Gesunden
und Kranken sind die Ausnahmen von der Versicherungspflicht generell eng zu
halten und es ist der Befürchtung des Gesetzgebers Rechnung zu tragen, dass
sich das schweizerische Obligatorium unterlaufen liesse, wenn beispielsweise
der Nachweis einer ausländischen freiwilligen privaten Versicherung allgemein
als Befreiungsgrund akzeptiert würde (BGE 132 V 310 E. 8.5.6 S. 317). Für die
Anwendung von Art. 2 Abs. 8 KVV sind daher strenge Massstäbe anzuwenden.
Insbesondere darf diese Bestimmung nicht dazu dienen, blosse Nachteile zu
verhindern, die eine Person dadurch erleidet, dass das schweizerische System
den Versicherungsschutz, den sie bisher unter dem ausländischen System genoss,
überhaupt nicht oder nicht zu gleich günstigen Bedingungen vorsieht. Vor diesem
Hintergrund erfüllt der Beschwerdegegner allein wegen seines Alters die
restriktiv zu handhabenden Befreiungsvoraussetzungen von Art. 2 Abs. 8 KVV
nicht, zumal sich in den Akten keinerlei Hinweise auf Krankheiten finden. Dass
bereits ab einem Alter von 40 Jahren der Abschluss bestimmter
Zusatzversicherungen nicht mehr problemlos möglich ist, wie dies der
Beschwerdeführer letztinstanzlich vorbringt (und mit einem ablehnenden Bescheid
einer Krankenkasse betreffend Aufnahme in die Zusatzversicherung belegt),
genügt nicht.

5.
Nicht gefolgt werden kann dem Beschwerdeführer, soweit er aus der Befreiung von
der Versicherungspflicht vom 27. November 2001 Rechte ableiten will.
Unbestrittenerweise handelt es sich bei der Befreiung vom Schweizerischen
Krankenversicherungsobligatorium um einen Dauersachverhalt, so dass bei
Änderung der Rechtslage grundsätzlich eine Anpassung zu erfolgen hat, ausser es
fänden sich besondere Übergangsbestimmungen (BGE 112 V 387 E. 3c S. 393 f.).
Dass Übergangsbestimmungen zu Art. 2 Abs. 8 KVV fehlen, hat somit entgegen den
Vorbringen in der Beschwerde nicht zur Folge, dass eine Anpassung an die
geänderte Rechtslage zu unterbleiben hat, sondern bedeutet im Gegenteil, dass
eine solche grundsätzlich mit Inkrafttreten des neuen Rechts erfolgen müsste.
Weil die Rechtslage seit der Befreiung im Jahre 2001 geändert hat, ist auch die
Berufung auf den Vertrauensschutz unbehelflich. Keine Vertrauensgrundlage
bildet sodann das blosse Nichthandeln der Zürcher Behörde (hiezu ZBl 2002 S.
582, 1A.19/2001 E. 4b und 2006 S. 439, 1E.13/2004 E. 5.1). Schliesslich macht
der Beschwerdeführer nicht geltend, er hätte im Vertrauen auf die bisherige
Befreiung nicht wieder gut zu machende Dispositionen getroffen, was
Voraussetzung für eine erfolgreiche Berufung auf den Vertrauensschutz wäre.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz und
dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 23. April 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Bollinger Hammerle