Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 901/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_901/2008

Urteil vom 8. Juli 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Parteien
E.________, vertreten durch Rechtsanwalt Urs Vögeli, Beschwerdeführer,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8087 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug,
Sozialversicherungsrechtliche Kammer, vom 23. September 2008.

Sachverhalt:

A.
A.a Die Firma X.________ wurde 1990 gegründet. Sie war der Ausgleichskasse des
Kantons Zürich angeschlossen. Im Juli 2003 wurde der Sitz nach Y.________
verlegt und die Firma umfirmiert in B.________. Zweck der Gesellschaft war das
Verlegen von und der Handel mit Holzparkett, Teppich- und PVC-Belägen. Seit der
Gründung der Gesellschaft gehörte E.________ dem Verwaltungsrat an, wobei er
von 1990 bis 1993 und 1994 bis 2002 als Präsident amtierte. Seit 1993 war er
auch Geschäftsführer. Alle Funktionen übte er bis zu seinem Rücktritt im August
2002 mit Einzelunterschrift aus. Am ... Dezember 2003 wurde über die
Gesellschaft der Konkurs eröffnet und das Verfahren am ... Mai 2004 mangels
Aktiven eingestellt. Am ... Juni 2004 ergingen erste Pfändungsverlustscheine
und im September 2004 wurde die Gesellschaft im Handelsregister gelöscht.
A.b Mit Verfügung vom 16. August 2005 forderte die Ausgleichskasse von
E.________ als ehemaligem Verwaltungsratspräsidenten und Geschäftsführer der
Firma X.________ gestützt auf Art. 52 AHVG und unter solidarischer Haftbarkeit
mit den ehemaligen Verwaltungsräten S.________ und L.________ Schadenersatz für
entgangene Sozialversicherungsbeiträge der Jahre 1998 bis 2003. Die Forderung
von Fr. 430'040.15 setzte sich zusammen aus unbezahlt gebliebenen paritätischen
Lohnbeiträgen und solchen an die kantonale Familienausgleichskasse sowie aus
Verwaltungskosten, Verzugszinsen und Gebühren. Dazu wurde auf eine
Beitragsübersicht verwiesen.
A.c Die von E.________ erhobene Einsprache mit dem Antrag auf ersatzlose
Aufhebung der Verfügung hiess die Ausgleichskasse mit Entscheid vom 23. Januar
2006 teilweise gut und reduzierte die Schadenersatzforderung mit der
Begründung, der Einsprecher habe sein Mandat nur bis zum 19. August 2002
ausgeübt, auf Fr. 367'002.60

B.
B.a E.________ erhob Beschwerde beim Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und beantragte die Aufhebung des Einspracheentscheides; es sei
festzustellen, dass er keinen Schadenersatz nach Art. 52 AHVG zu leisten habe.
Zur Begründung wandte er nebst anderem ein, die Ausgleichskasse habe die
Schadenersatzforderung so weit zu substanziieren, dass sie überprüft und
bestritten werden könne. Auch die Reduktion der Forderungssumme auf Fr.
367'002.60 sei nicht nachvollziehbar. Da die Beiträge für 2002 gesamthaft erst
nach seinem Rücktritt fällig geworden seien, hafte er hierfür ohnehin nicht.
Des weiteren rügte er, die bezahlten Beiträge seien nicht immer auf die
Ausstände angerechnet worden, für die sie bestimmt gewesen seien. Es sei ihm
unmöglich, die verbliebene Forderung von Fr. 367'002.60 hinsichtlich Eintritt
von Verjährung und Verwirkung zu überprüfen. Da die Forderung bis ins Jahr 1998
zurückreiche, komme dieser Frage indes besondere Bedeutung zu. Zwar sei die
Gesellschaft seit 1993 wegen Beitragsausständen regelmässig betrieben worden,
jedoch habe die Ausgleichskasse dann weitere Betreibungshandlungen unterlassen;
deshalb sei von einem groben Selbstverschulden auszugehen, das zu einer
massiven Haftungsreduktion, wenn nicht zu derem Ausschluss führen müsse. Ihm
selber könne nicht der Vorwurf der Grobfahrlässigkeit gemacht werden, da die
Gesellschaft über vierzig Personen beschäftigt habe und eine solche Grösse eine
Aufteilung der anfallenden Arbeiten verlange. Er habe sich um den Aussendienst
gekümmert und die administrativen Arbeiten C.________ übertragen. Zwar seien
ihm Unregelmässigkeiten bei der AHV-Beitragszahlung aufgefallen. Er sei aber
davon ausgegangen, dass die Gesellschaft die Probleme bewältigen könne. Ab 2002
habe ausschliesslich C.________ mit der Ausgleichskasse verhandelt. Er selbst
habe annehmen dürfen, dass dieser seinen Pflichten nachkomme. Die
Revisionsstelle habe die Beitragsausstände auch nicht in der Bilanz verbucht.
B.b Mit Beschluss vom 31. März 2006 entschied das Sozialversicherungsgericht
des Kantons Zürich, soweit die Beschwerde kantonalrechtliche
Sozialversicherungsbeiträge und darauf geschuldete Nebenkosten betreffe, werde
das Verfahren abgetrennt und selbstständig im Kanton Zürich weitergeführt;
betreffe die Beschwerde aber Schadenersatz für bundesrechtliche
Sozialversicherungsbeiträge, sei mangels örtlicher Zuständigkeit nicht darauf
einzutreten. Es überwies die Akten dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug zur
Beurteilung und lud dieses ein, sie nach der Entscheidfällung zu retournieren,
damit die Beschwerde hinsichtlich der kantonalrechtlichen
Sozialversicherungsbeiträge beurteilt werden könne.
B.c Soweit darauf einzutreten war, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zug
die Beschwerde mit Entscheid vom 23. September 2008 ab.

C.
E.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug
und der Einspracheentscheid der Ausgleichskasse des Kantons Zürich seien
aufzuheben und es sei festzustellen, dass er keinen Schadenersatz nach Art. 52
AHVG zu leisten habe; eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen; der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu
erteilen.

Mit Verfügung vom 12. Dezember 2008 teilte das Bundesgericht der
Ausgleichskasse mit, Stillschweigen in der Vernehmlassung zum Gesuch um
aufschiebende Wirkung werde als Einverständnis ausgelegt und
Vollziehungsvorkehrungen hätten vorerst zu unterbleiben.

In der Vernehmlassung beantragt die Vorinstanz die Abweisung der Beschwerde;
die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf
Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt
seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat
(Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen
nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG;
vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist
aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde an das Bundesgericht zu prüfen, ob
der angefochtene Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen
materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen (unter anderem) Bundesrecht
verletzt (Art. 95 lit. a BGG), einschliesslich einer allfälligen
rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Die Vorinstanz hat die zur subsidiären Haftung der Organe eines Arbeitgebers
nach Art. 52 AHVG und der dazu ergangenen Rechtsprechung erforderlichen
Voraussetzungen (Organstellung, Schaden, Widerrechtlichkeit, Verschulden,
Kausalität, Nichtverwirkung) korrekt dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
Der Vorwurf ist verfehlt, die Vorinstanz habe pauschal die kantonalrechtlichen
Sozialversicherungsbeiträge mit den dazugehörenden Nebenkosten in den Entscheid
miteinbezogen, obwohl der Beschwerdeführer die fehlende Ausscheidung im Rahmen
des Schriftenwechsels gerügt habe: Wie die Vorinstanz in der Vernehmlassung mit
Recht vorbringt, hat sie erwogen, die gesamte Schadenersatzforderung sei "im
Umfang der bundesrechtlichen Beiträge und der entsprechenden Nebenkosten" nicht
zu beanstanden (E. 13.3 in fine). Mit der Bestätigung des Einspracheentscheides
hat sie somit nicht über die kantonalen Beiträge befunden.

4.
Der Beschwerdeführer beschränkt sich letztinstanzlich im Wesentlichen auf das
Vorbringen, anhand der Akten und der Zusammenstellung der geltend gemachten
Beträge könne nicht überprüft werden, wie sich die Forderungen zusammensetzten.
Insbesondere sei nicht zu erkennen, aufgrund welcher Lohnsumme welche Beiträge
geschuldet seien. Ebenso sei nicht ersichtlich, für welche Zeitperioden
Beitragsrechnungen durch die Konkursitin bezahlt worden seien. Die noch
streitigen Forderungen könnten anhand der Akten betragsmässig nicht überprüft
werden. Es sei offensichtlich, dass auch die Vorinstanz nicht in der Lage
gewesen sei, den Forderungsbetrag im Detail nachzuvollziehen.

4.1 Wie die kantonale Instanz in der Vernehmlassung mit Recht darlegt, hat die
Beschwerdegegnerin die Akten durchnummeriert und ein Aktenverzeichnis erstellt,
sodass die Belege trotz des grossen Umfangs des Dokumentenbündels zu finden
sind. Es ist dem Beschwerdeführer zuzumuten, auf Grund der Akten seine Einwände
zu konkretisieren. Aus den kantonalen Verfahrensakten - so aus dem
vorinstanzlichen Schreiben vom 30. April 2008 an die Beschwerdegegnerin - ist
ersichtlich, dass das kantonale Gericht die Akten auch in Details prüfte. Dabei
hat es mit Fug und Recht berücksichtigt, dass der Schadenersatzprozess zwar vom
Untersuchungsgrundsatz beherrscht ist, jedoch durch die Mitwirkungspflichten
der Parteien ergänzt wird; diese haben ihre Position zu substanziieren, wobei
die wesentlichen Tatsachenbehauptungen und -bestreitungen in den
Rechtsschriften enthalten sein müssen (Urteil H 301/00 vom 12. Februar 2002, E.
2). Die Ausgleichskasse hat demnach die Schadenersatzforderung soweit zu
verdeutlichen, dass sie überprüft werden kann. Ist nicht offensichtlich
erkennbar, wie sich der Forderungsbetrag zusammensetzt, ist es im
Rechtsmittelverfahren nicht Sache des Gerichts, selbst in EDV-Ausdrucken und
Abrechnungen nach den Positionen zu forschen, die für die Schadenshöhe von
Belang sind, oder zu eruieren, wie der Forderungsbetrag sonst noch ermittelt
werden könnte. Vielmehr hat die Ausgleichskasse im Rahmen ihrer
Mitwirkungspflicht durch erläuternde Bezugnahme auf die Beitragsübersicht und
andere von ihr eingereichte Akten darzutun, wie und gestützt worauf sie den
Forderungsbetrag ermittelt hat. Dies ist im vorinstanzlichen Schriftenwechsel
so geschehen, wie aus der Antwort der Beschwerdegegnerin vom 7. Mai 2008 auf
die Nachfrage des Gerichts vom 30. April 2008 hervorgeht.

4.2 Der Beschwerdeführer befasst sich nicht mit den umfangreichen Belegen und
erhebt keine substanziierten Rügen, sondern beschränkt sich im Wesentlichen auf
die wiederholte Behauptung, es sei offensichtlich, dass das kantonale Gericht
sich mit der Glaubhaftmachung des von der Verwaltung festgesetzten
Forderungsbetrages begnügt habe und diesen nachzuvollziehen gar nicht in der
Lage gewesen sei. Zur Mitwirkungspflicht des Beschwerdeführers im
Schadenersatzverfahren gehört jedoch auch, die gestellte Forderung masslich mit
konkreten Einwendungen zu bestreiten. Was er hier in dieser Hinsicht vorbringt,
hat die Vorinstanz in der Begründung ihres Entscheides bereits detailliert und
ausreichend erörtert (E. 13) und kann es dabei sein Bewenden haben.

5.
Auch zu dem Vorwurf, die Ausgleichskasse habe den Schaden selber verschuldet,
sowie zum Einwand, den Beschwerdeführer treffe kein grobes Verschulden, wird
auf die vorinstanzlichen Erwägungen verwiesen. Es ist dort dargelegt worden,
warum und inwiefern der Beschwerdeführer über viele Jahre hinweg seine
Sorgfaltspflicht als geschäftsführendes Organ der Gesellschaft in
grobfahrlässiger Weise verletzt hat, und dass aufgrund der Akten keine
Anhaltspunkte für besondere Umstände bestanden, welche sein Verhalten
rechtfertigen oder entschuldigen würden (E. 10.2). Die Vorinstanz hat richtig
erkannt, dass der adäquate Kausalzusammenhang zum entstandenen Schaden zu
bejahen ist (E. 11), da keine Anzeichen dafür bestehen, dass der
Beschwerdeführer in der korrekten Ausübung seiner Überwachungs- und
Kontrollaufgaben behindert wurde oder ihm dies nicht zuzumuten war. Die
Vorinstanz hat im Rahmen ihrer örtlichen Zuständigkeit die Ersatzpflicht des
Beschwerdeführers zu Recht bejaht. Es besteht kein Anlass, ihre
Sachverhaltsfeststellungen zum Ausmass des Schadens zu berichtigen oder zu
ergänzen; denn sie sind weder offensichtlich unrichtig, noch beruhen sie auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG.

6.
Die Gerichtskosten werden dem Beschwerdeführer als unterliegender Partei
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 9000.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug,
Sozialversicherungsrechtliche Kammer, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 8. Juli 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz