Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 8/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_8/2008

Urteil vom 24. Juli 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Kernen,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Parteien
G.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwältin Petra Oehmke Schiess, Bahnhofplatz 9, 8910
Affoltern am Albis,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 3. Juli 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1954 geborene G.________ meldete sich am 2. Mai 2000 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau
holte Auskünfte bei früheren Arbeitgebern sowie medizinische Berichte ein. Mit
Verfügung vom 25. September 2001 lehnte die IV-Stelle das Leistungsbegehren bei
einem Invaliditätsgrad von 10 % ab. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 26. November 2002 ab.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde liess G.________ beantragen, der
vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und es sei ihm mit Wirkung ab 1. Juli
2000 eine ganze, eventuell eine halbe Invalidenrente zuzusprechen; eventualiter
sei eine umfassende interdisziplinäre medizinische Begutachtung zu veranlassen.
Das Eidgenössische Versicherungsgericht hob den kantonalen Entscheid in
teilweiser Gutheissung der Beschwerde auf und wies die Sache an das Aargauische
Versicherungsgericht zurück, damit es eine interdisziplinäre medizinische
Begutachtung anordne und hernach erneut über den Leistungsanspruch entscheide
(Urteil I 41/03 vom 8. April 2003).

B.
Mit Beschluss vom 10. Juni 2003 wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau die Sache zur Einholung eines interdisziplinären Gutachtens und zum
neuen Entscheid im Sinne der Erwägungen im Urteil des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts an die IV-Stelle zurück und schrieb das
Beschwerdeverfahren als erledigt von der Kontrolle ab. Der Beschluss blieb
unangefochten.

C.
Am 30./31. Mai 2005 wurde G.________ in der MEDAS der Klinik X.________
untersucht und begutachtet. Die Ärzte attestierten ihm ab zirka Frühjahr 2002
aus gesamtmedizinischer Sicht eine mindestens 50-prozentige Arbeitsfähigkeit
bei einer leichten Tätigkeit mit Gewichtslimiten von bis zu 10 Kilogramm und
eine 60-prozentige Arbeitsfähigkeit bei einer sehr leichten Tätigkeit
(Gutachten vom 11. November 2005).

D.
Mit Verfügung vom 16. Februar 2006 und Einspracheentscheid vom 22. Mai 2006
wies die IV-Stelle des Kantons Aargau das Leistungsbegehren bei einem
Invaliditätsgrad von 27 % erneut ab.

E.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die dagegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 3. Juli 2007 teilweise gut und sprach G.________
bei einem Invaliditätsgrad von 46 % ab 1. Mai 2006 eine Viertelsrente zu.

F.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt G.________
beantragen, es sei ihm in teilweiser Abänderung von Dispositiv-Ziff. 1 des
angefochtenen Entscheides mit Wirkung ab 1. Juni 2000 eine ganze und mit
Wirkung ab 1. Januar 2004 eine Dreiviertelsrente zuzusprechen; ferner beantragt
er die unentgeltliche Rechtspflege.

Die IV-Stelle beantragt Abweisung der Beschwerde, Vorinstanz und Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichten auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105
Abs. 2 BGG; vgl. BGE 132 V 393 zur auch unter der Herrschaft des BGG gültigen
Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen im Bereich der Invaliditätsbemessung [Art.
16 ATSG] für die Ermittlung des Invaliditätsgrades nach Art. 28 Abs. 1 IVG).

1.2 Streitig und zu prüfen ist der Invaliditätsgrad und in diesem Zusammenhang
die Frage, in welchem Umfang der Beschwerdeführer gesundheitsbedingt arbeits-
bzw. erwerbsunfähig ist. Feststellungen der Vorinstanz hinsichtlich des Grades
der Arbeitsunfähigkeit betreffen Tatfragen, soweit sie auf der Würdigung
konkreter Umstände beruhen, und sind daher lediglich unter eingeschränktem
Blickwinkel überprüfbar (Art. 97 Abs. 1 BGG sowie Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG;
vgl. BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 f.). Frei überprüfbare Rechtsfrage (Art. 105
Abs. 2 BGG) ist demgegenüber, ob eine allfällige Unrichtigkeit der
Sachverhaltsfeststellung offensichtlich und demgemäss die Bindungswirkung
aufgehoben ist.

2.
In der Sache bringt der Beschwerdeführer vor, das kantonale Gericht habe die
Rentenhöhe und den Zeitpunkt des Anspruchsbeginns nicht richtig festgelegt.

3.
Bezüglich des Grades der Arbeitsfähigkeit - zumindest ab dem Zeitpunkt der
MEDAS-Begutachtung im Mai 2005 (vgl. dazu unten E. 5) - wurde die Aktenlage von
der Vorinstanz pflichtgemäss gewürdigt; sie hat mit einlässlicher und
nachvollziehbarer Begründung erkannt, dass der Sachverhalt vollständig
abgeklärt ist und dem Beschwerdeführer leidensangepasste Tätigkeiten im Rahmen
eines Pensums von 60 % zugemutet werden können. Diese Tatsachenentscheidung ist
für das Bundesgericht verbindlich. Insbesondere erscheint der Umfang der
erhaltenen Leistungsfähigkeit nicht als offensichtlich falsch festgestellt, hat
doch der begutachtende Psychiater an der Schlusskonferenz der MEDAS-Ärzte
teilgenommen und das Ergebnis aus gesamtmedizinischer Sicht geteilt; im
Gutachten wird denn auch betont, es sei von einer mindestens 50-prozentigen
Arbeitsfähigkeit bei einer leichten Tätigkeit ohne Einschränkung (ausser
Gewichtslimite bis zu 10 kg) beziehungsweise einer 60-prozentigen bei
eingeschränktem Anforderungsprofil (Gewichtslimite 3 kg) auszugehen. Der von
der Vorinstanz für jenen Zeitpunkt bezeichnete Grad der Arbeitsfähigkeit von 60
% ist demnach nicht als bundesrechtswidrig festgestellt zu beanstanden.

4.
Auch der von Vorinstanz und Verwaltung gewährte leidensbedingte Abzug von 10 %
vom hypothetischen Invalideneinkommen ist nicht zu beanstanden. Die Frage, ob
ein solcher Abzug nach Massgabe der Grundsätze von BGE 126 V 75 vorzunehmen
ist, ist rechtlicher Natur, seine Bestimmung dagegen Ermessensfrage, die vom
Bundesgericht nicht zu prüfen ist (Art. 95 und 97 BGG). Gerügt werden kann nur
die Höhe des Abzuges im Hinblick auf Ermessensüberschreitung oder missbrauch
als Formen rechtsfehlerhafter (Art. 95 lit. a BGG) Ermessensbetätigung (BGE 132
V 393 E. 3.3 S. 399). Eine solche ist hier in Anbetracht der ausführlichen
Begründung der Vorinstanz nicht gegeben.

5.
Zu beantworten bleibt die Frage des Anspruchsbeginns.

5.1 Gemäss der Vorinstanz begann das Wartejahr nach Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG
im Zeitpunkt der MEDAS-Begutachtung im Mai 2005 zu laufen. Sie begründet es
damit, der Beschwerdeführer sei damals im rheumatologischen Bereich 60 %
arbeitsunfähig [korrekt: arbeitsfähig] gewesen. Was den Beginn einer
medizinisch bedingten Arbeitsunfähigkeit betreffe, vermöge die Einschätzung der
Gutachter nicht zu überzeugen, wonach ab zirka Frühling 2002 von einer
Arbeitsfähigkeit [korrekt: 50- bis 60-prozentigen Arbeitsfähigkeit] in einer
leidensangepassten Tätigkeit auszugehen sei: Der Beginn der erwähnten
Arbeitsfähigkeit sei nur durch spekulative Annahmen und Überlegungen festgelegt
worden, was dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit
keinesfalls zu genügen vermöge. Die Beweislosigkeit hinsichtlich des Beginns
der Arbeitsunfähigkeit wirke sich zu Lasten des Beschwerdeführers aus.

5.2 Dazu ist zunächst anzumerken, dass der in diesem Zusammenhang gemachte
vorinstanzliche Verweis auf das letztinstanzliche Urteil I 242/04 vom 28. Juli
2005 nicht schlüssig ist, da dieses einen Sachverhalt betraf, bei dem es um die
Schwierigkeiten der rückwirkenden Festsetzung der Arbeitsunfähigkeit über eine
Zeitdauer von sechs Jahren ging, in welcher der Versicherte weder bei Ärzten
eines psychiatrischen Dienstes noch bei einem Facharzt in psychiatrischer
Behandlung stand. Hier ist dies nicht der Fall: Wie im MEDAS-Gutachten (Ziff.
6.1.3 S. 23 f.) dargelegt, liegen Berichte der Klinik Y.________ vom 25. Juli
2000 und des Rheumatologen Dr. med. M.________ vom 7. Dezember 2001 bei den
Akten, in denen aus fachspezifischer Sicht zunächst von einer 100-prozentigen
Arbeitsfähigkeit in einer leichten leidensangepassten Tätigkeit ausgegangen
wird, was auch aus gesamtmedizinischer Sicht der Fall war, ging doch ebenfalls
der Psychiater Dr. med. L.________ im Bericht vom 5. März 2001 davon aus. Im
weiteren Verlauf diagnostizierte der Dr. med. L.________ nachfolgende
Psychiater Dr. med. S.________ aber in Berichten vom 22. März 2002 und 20.
Dezember 2002 eine Depression und Schmerzverarbeitungsstörung und attestierte
eine Arbeitsunfähigkeit von 50 %. Die MEDAS-Ärzte kamen gestützt auf diesen
Ablauf zum Schluss, der Beginn der mindestens 50-prozentigen Arbeitsfähigkeit
in einer leichten (respektive 60-prozentigen Arbeitsfähigkeit in einer sehr
leichten) Tätigkeit sei auf das Frühjahr 2002 festzusetzen, und sie dauere bis
zum Gutachtenszeitpunkt an. Wenn sie präzisierten, die Festlegung des Datums
Frühling 2002 sei zwar arbiträr, die vorliegenden Berichte könnten aber nicht
ohne weiteres ignoriert werden, auch wenn sie in gewissen Punkten nicht
stringent nachvollziehbar seien, ist daraus nicht abzuleiten, dass es sich bis
zum Zeitpunkt der Begutachtung als unmöglich erwiesen habe, auf dem Wege der
Beweiserhebung einen zumindest überwiegend wahrscheinlichen Sachverhalt zu
ermitteln.

Zwar ist der vorinstanzliche Vorwurf nicht aus der Luft gegriffen, der
Beschwerdeführer sei seiner Mitwirkungspflicht nicht immer optimal
nachgekommen; aber dies rechtfertigt nicht den Schluss, er habe
konsequenterweise die Folgen der Beweislosigkeit zu tragen. Zunächst ist hier
zu berücksichtigen, dass die Vorinstanz den im ersten Verfahren vom
Beschwerdeführer gestellten Eventualantrag nach einer umfassenden
interdisziplinären Begutachtung abgelehnt hat. Zudem wandte sich der
Beschwerdeführer bereits kurz nach dem vorinstanzlichen
Rücküberweisungsbeschluss vom 10. Juni 2003 am 16. September 2003 schriftlich
an die IV-Stelle und ersuchte unter Hinweis auf seine schwierige finanzielle
und aufenthaltsrechtliche Situation darum, die Begutachtung so rasch als
möglich in Auftrag zu geben.

Aus dem Gutachten geht gerade auch in Anbetracht der nach der
ICD-Klassifikation gestellten Diagnosen ("schwergradige depressive Episode mit
psychotischen Symptomen, Panikstörung, chronisches lumbovertebrales
Schmerzsyndrom, chronisches zervikovertebragenes Schmerzsyndrom, beginnende
Coxarthrosen beidseits Schmerzen") hervor, dass die Arbeitsfähigkeit im Moment
der Untersuchung bereits seit längerer Zeit in anspruchserheblichem Ausmass
eingeschränkt war, was die Experten auch ausdrücklich bestätigt haben. Wenn die
Vorinstanz das Wartejahr erst ab dem Zeitpunkt der Begutachtung laufen lassen
will, setzt sie sich in einen unüberbrückbaren Widerspruch zu der von
sämtlichen (behandelnden und begutachtenden) Ärzten rapportierten medizinischen
Sachlage. Ihre Sachverhaltswürdigung ist in diesem Punkt offensichtlich
unrichtig und bindet das Bundesgericht deshalb nicht. Der Einschätzung der
MEDAS-Experten folgend ist die Beschwerde in dem Sinne gutzuheissen, dass das
Wartejahr bereits ab dem im Gutachten genannten Zeitpunkt "Frühjahr 2002" zu
laufen begann und der Rentenanspruch somit ein Jahr später am 1. März 2003
entstand.

6.
Dieses Resultat ist als teilweises Obsiegen zu betrachten, weshalb dem
Beschwerdeführer für das Verfahren vor Bundesgericht eine (reduzierte)
Parteientschädigung zusteht (Art. 66 Abs. 1 BGG) und die Gerichtskosten den
Parteien anteilsmässig auferlegt werden (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die
Voraussetzungen für die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege sind
erfüllt.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 3. Juli 2007 insoweit abgeändert,
als der Beschwerdeführer ab dem 1. März 2003 Anspruch auf eine Viertelsrente
hat. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Von den Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer Fr. 300.- und
der Beschwerdegegnerin Fr. 200.- auferlegt. Der Anteil des Beschwerdeführers
wird vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1000.- zu entschädigen.

5.
Rechtsanwältin Petra Oehmke Schiess, Affoltern am Albis, wird als
unentgeltliche Anwältin des Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihr für das
bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr.
1500.- ausgerichtet.

6.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 24. Juli 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer i. V. Traub