Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 897/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_897/2008

Urteil vom 4. Februar 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Kernen,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Parteien
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdeführerin,

gegen

Helsana Versicherungen AG, Versicherungsrecht, 8081 Zürich, Beschwerdegegnerin,

S.________.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 26. August 2008.

Sachverhalt:

A.
Der 1965 geborene S.________ litt seit 2006 an beiden Augen am grauen Star
(Katarakt). Im Februar 2007 beantragte er bei der Invalidenversicherung
medizinische Massnahmen. Am linken Auge wurde am 17. April 2007 eine
Kataraktoperation durchgeführt und am 19. Juli 2007 ein Linsenaustausch
vorgenommen. Nach Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens
verneinte die IV-Stelle des Kantons Aargau mit Verfügung vom 21. November 2007
den Anspruch auf die medizinischen Eingriffe mit der Begründung, es lägen
Nebenbefunde vor, welche die Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit des
Eingliederungserfolges entscheidend in Frage stellten.

B.
Als Krankenversicherer des S.________ erhob die Helsana Versicherungen AG
(nachfolgend: Helsana) dagegen Beschwerde. In deren Gutheissung hob das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 26. August 2008 die
Verfügung der IV-Stelle vom 21. November 2007 auf und verpflichtete "die
Beschwerdeführerin", die Kataraktoperation und den Linsenaustausch am linken
Auge des Versicherten zu übernehmen.

C.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten und beantragt, den Entscheid vom 26. August 2008 aufzuheben;
eventualiter sei die Sache zur weiteren Abklärung der Auswirkungen der
Nebenbefunde auf die Eingliederungsfähigkeit an die Verwaltung zurückzuweisen.
Die Helsana, S.________ und das kantonale Gericht schliessen auf Abweisung der
Beschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherungen deren Gutheissung
beantragt.

Erwägungen:

1.
Die Vorinstanz hat in Dispositiv-Ziffer 1 des angefochtenen Entscheids die
Helsana zur Übernahme der medizinischen Massnahmen verpflichtet. Dabei handelt
es sich offensichtlich um ein redaktionelles Versehen, welches ohne weiteres
berichtigt werden kann (vgl. Urteile 9C_178/2008 vom 15. Juli 2008 E. 1; B 15/
07 vom 11. September 2007 E. 2). In Übereinstimmung mit der Gutheissung der
Beschwerde betrifft die Verpflichtung die IV-Stelle.

2.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

3.
Streitig und zu prüfen ist die Frage, ob der Versicherte im Rahmen der
Invalidenversicherung Anspruch auf medizinische Massnahmen in Form der
Operationen vom 17. April und 19. Juli 2007 hat.

4.
4.1 Nach Art. 12 Abs. 1 IVG (in der bis 31. Dezember 2007 in Kraft gestandenen
Fassung) hat ein Versicherter Anspruch auf medizinische Massnahmen, die nicht
auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern unmittelbar auf die berufliche
Eingliederung gerichtet und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und
wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren.
Eine Kataraktoperation kommt als medizinische Eingliederungsmassnahme im Sinne
von Art. 12 Abs. 1 IVG grundsätzlich in Frage (AHI 2000 S. 297, I 626/99 E.
2a).

4.2 Wesentlich im Sinne von Art. 12 Abs. 1 IVG ist der durch eine Behandlung
erzielte Nutzeffekt, wenn innerhalb einer gewissen Mindestdauer eine gewisse
Mindesthöhe an erwerblichem Erfolg erwartet werden kann. Inwieweit der
voraussichtliche Eingliederungserfolg noch als wesentlich bezeichnet werden
kann, ist aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles zu entscheiden und hängt
einerseits von der Schwere des Gebrechens, anderseits von der Art der
ausgeübten bzw. im Sinne bestmöglicher Eingliederung in Frage kommenden
Erwerbstätigkeit ab. Persönliche Verhältnisse der versicherten Person, die mit
ihrer Erwerbstätigkeit nicht zusammenhängen, sind dabei nicht zu
berücksichtigen (BGE 122 V 77 E. 3b/cc S. 80; AHI 2000 S. 297, I 626/99 E. 1b
mit weiteren Hinweisen).
Dauernd im Sinne von Art. 12 Abs. 1 IVG ist der von einer medizinischen
Eingliederungsmassnahme zu erwartende Eingliederungserfolg, wenn die konkrete
Aktivitätserwartung gegenüber dem statistischen Durchschnitt nicht wesentlich
herabgesetzt ist oder wenn er - bei jüngeren Versicherten - wahrscheinlich
während eines bedeutenden Teils der Aktivitätserwartung erhalten bleiben wird.
Die Dauerhaftigkeit des Eingliederungserfolges ist dann in Frage gestellt, wenn
erhebliche krankhafte Nebenbefunde vorliegen, die ihrerseits geeignet sind, die
Aktivitätserwartung des Versicherten trotz der Operationen gegenüber dem
statistischen Durchschnitt wesentlich herabzusetzen (AHI 2000 S. 297, I 626/99
E. 1c und 2b).

4.3 Ob der Eingliederungserfolg dauerhaft und wesentlich sein wird, ist
medizinisch-prognostisch zu beurteilen. Dafür ist der medizinische Sachverhalt
vor den fraglichen Operationen in seiner Gesamtheit massgebend (AHI 2000 S.
297, I 626/99 E. 2b mit Hinweisen; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 878
/05 vom 7. August 2006 E. 3.1). Für die Beurteilung der Invalidität resp. des
Eingliederungserfolgs einer medizinischen Massnahme sind Verwaltung und
Gerichte auf Unterlagen angewiesen, die der Arzt und gegebenenfalls auch andere
Fachleute zur Verfügung zu stellen haben (vgl. BGE 125 V 256 E. 4 S. 261; 115 V
133 E. 2 S. 134; Urteil 9C_745/2008 vom 2. Dezember 2008 E. 3.2).

5.
5.1 Es steht fest und ist unbestritten, dass am rechten Auge, welches von der
fraglichen Massnahme nicht betroffen war, u.a. Nebenbefunde in Form einer
zarten epiretinalen Gliose bei Verdacht auf Zustand nach Zentralvenenthrombose
sowie einer Glaskörperdestruktion vorliegen. Die Vorinstanz hat offengelassen,
ob diese Nebenbefunde Auswirkungen auf den Eingliederungserfolg haben, weil sie
als entscheidend erachtet hat, dass sie am rechten Auge vorliegen. Sie seien
daher ohne Einfluss auf die Sehschärfe des linken Auges. Es sei
medizinisch-prognostisch davon auszugehen, dass durch die Operationen des
linken Auges, welches den schlechteren Visuswert aufweise und ohne Nebenbefunde
sei, eine wesentliche und dauerhafte Verbesserung der Erwerbsfähigkeit erzielt
werde.

5.2 Der Beschwerdeführerin ist beizupflichten, dass das kantonale Gericht
Bundesrecht verletzt hat, indem es für die Beurteilung des
Eingliederungserfolgs den medizinischen Sachverhalt nicht in seiner Gesamtheit
berücksichtigt hat (E. 4.3). Es ist nicht auszuschliessen, dass eine der
Beeinträchtigung des einen Auges zugrunde liegende gesundheitliche Störung sich
auch auf das andere Auge und damit auf den Eingliederungserfolg einer an diesem
vorgenommenen medizinischen Massnahme auswirken kann. In Bezug auf die
Erheblichkeit und den Krankheitswert der von Frau Dr. med. C.________ (Bericht
vom 3. August und Schreiben vom 12. September 2007) erhobenen Nebenbefunde
(anamnestisch Durchblutungsstörung okulär und Befunde am rechten Auge) sowie
deren prognostische Bedeutung für den Eingliederungserfolg fehlen
vorinstanzliche Feststellungen. Der Sachverhalt lässt sich nicht gestützt auf
die vorliegenden medizinischen Unterlagen ergänzen: Frau Dr. med. G.________
(Regionaler Ärztlicher Dienst) und Dr. med. B.________ (Vertrauensärztlicher
Dienst der Helsana), welche beide nicht über eine ophthalmologische
Fachausbildung verfügen, vertreten in ihren Stellungnahmen vom 1. Oktober und
20. August 2007 resp. vom 26. September 2007 unterschiedliche Auffassungen über
die Tragweite der Nebenbefunde. Diese ist aufgrund einer fachärztlichen
Beurteilung zu prüfen. Die Sache ist daher zur Ergänzung des Sachverhalts und
zum Neuentscheid an die Verwaltung zurückzuweisen. Die Beschwerde ist im
Eventualstandpunkt begründet.

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten hälftig zu
verlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 26. August 2008 und die Verfügung
der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 21. November 2007 werden aufgehoben. Die
Sache wird an die Verwaltung zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter
Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch auf medizinische
Massnahmen neu verfüge. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 1000.- werden der Beschwerdeführerin und der
Beschwerdegegnerin je zur Hälfte auferlegt.

3.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an
das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 4. Februar 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Dormann