Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 895/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_895/2008

Urteil vom 7. April 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Parteien
R.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Jürg Baur,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 9. September 2008.

Sachverhalt:

A.
R.________, geboren 1967, Mutter von 1989 geborenen Zwillingen, arbeitete vom
1. November 1995 bis 31. Oktober 2003 als Hilfspflegerin im Zentrum für Pflege
und Betreuung E.________. Am 17. Dezember 2003 (Eingang) meldete sie sich bei
der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Gemäss ihren Angaben litt sie
unter Rücken-, Herz-, Handgelenks- und psychischen Beschwerden. Die IV-Stelle
des Kantons Aargau holte in der Folge Informationen zur gesundheitlichen,
erwerblichen und persönlichen Situation der Versicherten ein. Vom 13. bis 16.
November 2006 wurde sie im Zentrum für Medizinische Begutachtung (ZMB)
polydisziplinär untersucht und beurteilt; es wurde ihr in der angestammten
Tätigkeit eine Einschränkung von 30 % seit November 2003 attestiert (Gutachten
vom 23. Januar 2007). Mit Vorbescheid vom 19. November 2007 und Verfügung vom
30. Januar 2008 verneinte die IV-Stelle bei einem Invaliditätsgrad von 30 % den
Anspruch auf eine Invalidenrente und berufliche Massnahmen.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 9. September 2008 ab.

C.
R.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten,
beantragt Aufhebung des kantonalen Entscheides und Zusprechung einer ganzen
Invalidenrente mit Wirkung ab 5. Januar 2004.
Die IV-Stelle beantragt sinngemäss Abweisung der Beschwerde. Vorinstanz und
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105
Abs. 2 BGG).

2.
Streitig ist der Anspruch auf eine Invalidenrente. Das kantonale Gericht hat
die zur Beurteilung dieser Frage einschlägigen Rechtsgrundlagen zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.1 Feststellungen der Vorinstanz hinsichtlich des Grades der
Arbeitsunfähigkeit betreffen Tatfragen, soweit sie auf der Würdigung konkreter
Umstände beruhen, und sind daher lediglich unter eingeschränktem Blickwinkel
überprüfbar (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 f.). Bei der Bestimmung der für die
Bemessung des Invaliditätsgrades massgebenden hypothetischen Einkommen ist als
Rechtsfrage frei überprüfbar, ob sie auf der Grundlage statistischer
Durchschnittslöhne zu ermitteln sind, und welches die massgebliche Tabelle ist
(vgl. BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399). Frei überprüfbare Rechtsfrage ist auch die
getroffene Wahl der massgeblichen Stufe (Anforderungsniveau 1+2, 3 oder 4) beim
statistischen Lohnvergleich auf der Grundlage der Lohnstrukturerhebung des
Bundesamtes für Statistik (LSE) (SVR 2008 IV Nr. 4 S. 9 [Urteil I 732/06 vom 2.
Mai 2007, E. 4.2.2]). Die Frage, ob ein leidensbedingter Abzug nach Massgabe
der Grundsätze von BGE 126 V 75 vorzunehmen sei, ist rechtlicher Natur, die
Bestimmung eines solchen Abzuges dagegen Ermessensfrage, die im Gegensatz zum
früheren Recht (vgl. Art. 104 lit. c OG) nicht zu prüfen ist (Art. 95 und 97
BGG). Gerügt werden kann die Höhe des Abzuges nur im Hinblick auf
Ermessensüberschreitung oder -missbrauch als Formen rechtsfehlerhafter (Art. 95
lit. a BGG) Ermessensbetätigung (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399).

2.2 Die Beschwerdeführerin rügt, das kantonale Gericht habe den
rechtserheblichen Sachverhalt offensichtlich unrichtig und bundesrechtswidrig
festgestellt, weil sie nicht korrigiert habe, dass im Gutachten die Diagnosen
mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit lediglich als Nebendiagnosen ohne
Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit aufgeführt worden seien. Ihre Begründung
stützt sich vorab auf die vom Gutachten abweichenden Einschätzungen
behandelnder Ärzte. Nach der Rechtsprechung sind deren Berichte aufgrund der
Verschiedenheit von Expertise und Therapie (siehe Urteil 9C_705/2007 vom 18.
August 2008 E. 4.1.1 mit zahlreichen Hinweisen) grundsätzlich mit Vorbehalt zu
würdigen (BGE 125 V 351 E. 3b/cc S. 353). Dies gilt für den allgemein
praktizierenden Hausarzt, den behandelnden Spezialarzt und ebenso den
therapeutisch tätigen Psychiater mit seinem besonderen Vertrauensverhältnis zum
Patienten (siehe auch Urteil I 655/05 vom 20. März 2006 E. 5.4). Auch hat sich
das Gericht mit der gutachterlichen Zuordnung auseinandergesetzt und begründet,
weshalb sie gerechtfertigt ist (E. 5.3.3.2). Es hat erwogen, primär sei hier
ausschlaggebend, dass die Beschwerdeführerin sich die unbefriedigenden
Behandlungsergebnisse selber zuzuschreiben habe, da sie bisher keine
konsequente Therapie durchgezogen und in dieser Richtung keine Motivation
gezeigt habe, obwohl ihr dies zumutbar und es erfolgversprechend wäre. Neben
der Selbstlimitierung fänden sich Hinweise auf aggravierendes und
demonstratives Verhalten (was im Gutachten klar dokumentiert ist). Was die
Handgelenksbeschwerden betrifft, rechtfertigt sich der Vorwurf nicht, die
Vorinstanz habe die durch die Tendoligamentopathie bei jeder manuellen
Tätigkeit verursachten Schmerzen den somatoformen Beschwerden und der
Fibromyalgie zugeordnet. Sie hat in E. 5.1.3 lediglich Bezug genommen auf den
Bericht des behandelnden Arztes Dr. med. T.________, Facharzt FMH für
Physikalische Medizin und Rehabilitation sowie Rheumatologie, vom 23. April
2004, der zu den beidseitigen Gelenksschmerzen festgehalten hat, es bestehe
radiologisch kein Hinweis auf eine Ganglionbildung und das Beschwerdebild
"konfluiert zum Teil mit Anteilen der Fibromyalgie". Es war der
Administrativgutachter Dr. med. A.________, Facharzt FMH für Orthopädische
Chirurgie, der später bei der Untersuchung die fibromyalgischen Kontrollpunkte
am Radius beidseits und im Bereich der Fingergelenke als unauffällig befand,
aber am linken Radiocarpalgelenk ein kleines Ganglion zu ertasten meinte. Die
MEDAS-Gutachterkommission gab darum neben der Tendoligamentopathie (im Sinne
einer Differenzialdiagnose) auch ein "intraarticuläres Ganglion links mehr als
rechts" an.

2.3 Das Sozialversicherungsgericht beurteilt die Gesetzmässigkeit der
angefochtenen Verfügung in der Regel nach dem Sachverhalt, der bis zum
Abschluss des Verwaltungsverfahrens (hier am 30. Januar 2008) eingetreten war.
Tatsachen, die jenen Sachverhalt seither verändert haben, sollen im Normalfall
Gegenstand einer neuen Verwaltungsverfügung sein (BGE 131 V 242 E. 2.1 S. 243;
121 V 362 E. 1b S. 366). Nach dem Schreiben des behandelnden Arztes Dr. med.
T.________ vom 2. Juni 2008 unterzog sich die Beschwerdeführerin am 20. Mai
2008 der Abtragung eines Handrückenhöckers ("Carpe bossu") an der rechten Hand.
Erst am 21. November 2008 berichtete Dr. med. L.________, Facharzt FMH für
Chirurgie und Handchirurgie, es habe mittels MRI und Sonographie ein dorsales
Handgelenkganglion im radioscapholunären Bereich dargestellt werden können.
Ähnlich verhielt es sich mit der angerufenen Arthroseproblematik. Zunächst
berichtete Dr. med. L.________ zwar am 9. Januar 2008, es habe sich beidseits
eine Arthrose im radiokarpalen Bereich entwickelt, eine Carpaltunnelsymptomatik
bestehe nicht. Am 27. Februar 2008 gab er an, im Vorjahr durchgeführte
Abklärungen hätten gezeigt, dass es sich um einen progredienten degenerativen
Prozess im Sinne einer rechtsseitig betonten Radiokarpalarthrose beidseits
handelt. Am 1. September 2008 konstatiert er, klinisch seien keine Anzeichen
für eine Rhizarthrose vorhanden, zwar bestünden zum Teil etwas irreführende
Schmerzmanifestationen, aber ohne dass wesentliche Zeichen einer Arthrose im
radioscaphidalen Anteil zu erkennen wären. Bei einer solch unbestimmten
Sachlage bestand für die Vorinstanz mit Recht kein Anlass zu Abklärungen. Sie
hat die Beschwerdeführerin richtigerweise auf den Weg der Neuanmeldung
verwiesen. Da letztinstanzlich neue Tatsachen und Beweismittel nur so weit
vorgebracht werden dürfen, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass
gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG), sind die vor Bundesgericht nachgereichten
Arztberichte nicht zu berücksichtigen. Es wird rein appellativ ausgeführt, was
bereits der Vorinstanz vorgelegt worden ist.

3.
Die Zumutbarkeit einer leidensangepassten Tätigkeit ist nicht aus der
subjektiven Sicht der Patientin zu beurteilen, sondern allein relevant aufgrund
objektiver ärztlicher Einschätzung wie hier im Rahmen der Begutachtung. Nach
der nicht offensichtlich unrichtigen Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz
kann die Beschwerdeführerin die bisherige Arbeit mit eingeschränktem Pensum
verrichten und darum grundsätzlich auch ein dem neuen Anstellungsgrad
angepasstes Einkommen erzielen. Es erübrigt sich darum die Beurteilung der Rüge
einer unrichtigen betraglichen Festsetzung des Valideneinkommens durch die
Verwaltung. Korrekt ist ebenso, dass die Vorinstanz keinen leidensbedingten
Abzug ("von 20 % bis 25 %") zugestanden hat (oben E. 2.1). Der Abzug hat nicht
automatisch zu erfolgen, sondern dann, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass
die versicherte Person wegen eines oder mehrerer Merkmale (leidensbedingte
Einschränkung, Alter, Dienstjahre, Nationalität/Aufenthaltskategorie und
Beschäftigungsgrad) die verbliebene Arbeitsfähigkeit nur mit
unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann. Da bei der
Beschwerdeführerin der gesundheitlichen Einschränkung mit der Reduktion des
Pensums in der bisherigen Tätigkeit Rechnung getragen wird, rechtfertigt sich
dafür kein zusätzlicher Abzug; für eine Berücksichtigung der übrigen Kriterien
gibt es keinen Anlass.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 7. April 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz