Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 883/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_883/2008

Urteil vom 9. Juli 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Seiler,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Parteien
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Marco Unternährer,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom
3. Oktober 2008.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 13. November 2000 sprach die IV-Stelle Luzern dem 1944
geborenen A.________ eine halbe Invalidenrente mit Wirkung ab 1. Januar 1999 zu
(Invaliditätsgrad: 50 %). Auf ein vom Versicherten im November 2002 gestelltes
Begehren um Erhöhung der Rente trat die IV-Stelle mit Verfügung vom 27. Februar
2003 nicht ein. Im Rahmen eines im September 2003 von Amtes wegen eingeleiteten
Revisionsverfahrens bestätigte die Verwaltung die halbe Invalidenrente bei
einem Invaliditätsgrad von 50 % (Verfügung vom 29. Juli 2004, bestätigt mit
Einspracheentscheid vom 23. September 2005).

Im Mai 2007 ersuchte A.________ erneut um Erhöhung der Invalidenrente, wobei er
einen Arztbericht des Dr. med. M.________, Allgemeinmedizin FMH, vom 7. Mai
2007 zu den Akten gab. Mit Verfügung vom 11. Juni 2007 wies die IV-Stelle, nach
Durchführung des Vorbescheidverfahrens, das Gesuch ab mit der Begründung, eine
rentenbeeinflussende Verschlechterung des Gesundheitszustandes sei nicht
ausgewiesen.

B.
Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung der
Verfügung und auf Zusprechung einer ganzen Invalidenrente ab Einreichung des
Revisionsgesuchs wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Entscheid
vom 3. Oktober 2008 ab.

C.
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und es sei ihm
ab Einreichung des Revisionsgesuchs eine ganze Invalidenrente zuzusprechen.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105
Abs. 2 BGG).

2.
2.1 Die Vorinstanz hat geprüft, ob sich der Gesundheitszustand des
Beschwerdeführers in der Zeit zwischen dem Einspracheentscheid vom 23.
September 2005 und der Verfügung vom 11. Juni 2007 revisionsbegründend
verschlechtert hat. Demgegenüber macht der Beschwerdeführer unter Berufung auf
BGE 133 V 108 geltend, zeitliche Vergleichsbasis bilde das Jahr 2002. Eine
Anwendung der Rechtsprechung gemäss BGE 133 V 108, wonach bei der
Rentenrevision zeitlicher Ausgangspunkt für die Beurteilung einer
anspruchserheblichen Änderung des Invaliditätsgrades die letzte rechtskräftige
Verfügung ist, welche auf einer materiellen Prüfung des Rentenanspruchs mit
rechtskonformer Sachverhaltsabklärung, Beweiswürdigung und Durchführung eines
Einkommensvergleichs beruht (BGE 133 V 108 E. 5 S. 110 ff.), auf den
vorliegenden Fall ergibt jedoch, dass die Vorinstanz die massgebende zeitliche
Vergleichsbasis richtig ermittelt hat, beruhte doch der Einspracheentscheid vom
23. September 2005 auf einer materiellen Prüfung des Rentenanspruchs mit
rechtskonformer Sachverhaltsabklärung und Beweiswürdigung (für die Durchführung
eines Einkommensvergleichs bestand mangels Anhaltspunkten für eine Änderung in
den erwerblichen Auswirkungen des Gesundheitszustandes kein Anlass; vgl. auch
BGE 133 V 108 E. 5.4 S. 114).

2.2 Auch im letztinstanzlichen Verfahren ist demnach zu prüfen, ob der
Gesundheitszustand des Beschwerdeführers in der Zeit zwischen dem
Einspracheentscheid vom 23. September 2005 und der Verfügung vom 11. Juni 2007
eine anspruchsrelevante Änderung erfahren hat. Die für die Beurteilung dieser
Frage einschlägigen Rechtsgrundlagen werden im angefochtenen Entscheid
zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
3.1 Dem den Anspruch auf eine halbe Rente bestätigenden Einspracheentscheid vom
23. September 2005 liegt die Annahme zugrunde, dass dem Versicherten die
bisherige Tätigkeit als Schweisser aus psychiatrischen Gründen
(Somatisierungsstörung) nach wie vor nur noch zu 50 % zumutbar ist.

3.2 In seinem Revisionsgesuch berief sich der Versicherte auf den Bericht des
Dr. med. M.________ vom 7. Mai 2007, in welchem unter Hinweis auf verschiedene
fachärztliche Berichte ausgeführt wird, dass sich sein Gesundheitszustand seit
Herbst 2005 bzw. in den letzten eineinhalb Jahren in vielerlei Hinsicht
verschlechtert habe. Subjektiv werde eine Zunahme der anstrengungsabhängigen
Dyspnoe, der generalisierten Schmerzen, der körperlichen Leistungsfähigkeit
sowie der psychischen Verfassung beschrieben. Eine kardiologische
Standortbestimmung habe die zunehmende Dyspnoe nicht erklären können.
Anlässlich der pneumologischen Untersuchung sei eine chronische Bronchitis
diagnostiziert worden. Eine wirbelsäulenorthopädische Untersuchung habe im MRI
eine Segmentdegeneration auf der Höhe C5/6 ergeben, wobei eine Operation
empfohlen worden sei. Insbesondere diese neu diagnostizierte
Segmentdegeneration erkläre die Zunahme der Nacken- und Armbeschwerden. Aus
hausärztlicher Sicht sei dem Versicherten eine Arbeit auch nur in geringem
Masse nicht mehr zumutbar; inwiefern die verschiedenen Krankheitsbilder die
Arbeitsfähigkeit beeinflussen würden, sei aus nichtfachärztlicher Sicht sehr
schwierig zu beurteilen.

Der von der IV-Stelle beigezogene RAD hielt gemäss Protokolleintrag vom 16. Mai
2007 eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes für nicht ausgewiesen, da
die Somatisierungsstörung ausgewiesen und "rentenbeanspruchend gemacht" sei und
sich weitere psychiatrische Störungen davon nicht abgrenzen liessen. In einem
weiteren Protokolleintrag vom 3. September 2007 führte der RAD zudem aus, dass
die Facharztberichte generalisierte Weichteil- und Gelenksschmerzen erwähnten,
ohne objektivierbare morphologische Korrelate, und die Gelenke sowie die
Wirbelsäule frei beweglich und ohne Entzündungszeichen seien. Im
konventionellen Röntgen der Halswirbelsäule (22. Oktober 2004) würden
unspezifische degenerative Befunde (Osteochondrose C5/6) nebst Knochenzacken im
Brustwirbelbereich (spondylophytäre Ausziehungen im mittleren BWS) beschrieben.
Es könne von einem weiteren Fortschreiten der degenerativen Befunde ausgegangen
werden, wie sie auch bei einer gesunden Querschnittspopulation vorliege und als
normalpsychologisch angesehen werden müsse. Entscheidend für das
Tätigkeitsprofil seien letztlich die klaren objektivierbaren funktionellen
Befunde und nicht die unspezifischen Röntgenbefunde, welche hier keine
Erklärung für die Ganzkörperweichteilbeschwerden lieferten. Eine wesentliche
Verschlechterung sei damit nicht ausgewiesen.

3.3 Nach Würdigung des Berichtes des Dr. med. M.________ vom 7. Mai 2007 und
der Protokolleinträge des RAD vom 16. Mai und 3. September 2007 gelangten
Vorinstanz (Entscheid vom 3. Oktober 2008) und IV-Stelle (Verfügung vom 11.
Juni 2007) zum Ergebnis, dass sich der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers
im massgebenden Vergleichszeitraum (vgl. dazu E. 2 hiervor) nicht
revisionsbegründend verändert habe.

Zur Begründung führte die Vorinstanz, sich auf die Stellungnahmen des RAD
abstützend, aus, dass die vom Beschwerdeführer geltend gemachte
Segmentdegeneration auf der Höhe C5/6 bereits im Jahre 2004 beim
konventionellen Röntgen festgestellt worden sei und eine allfällige
altersentsprechend fortgeschrittene Degeneration die Beschwerden nicht zu
erklären vermöchte. Auf den Bericht des Dr. med. M.________ vom 7. Mai 2007
könne aus verschiedenen Gründen nicht abgestellt werden. Erstens betreue dieser
Arzt den Versicherten erst seit 18. Januar 2007 und sei damit kaum in der Lage,
eine gesundheitliche Verschlechterung seit Herbst 2005 festzustellen. Zweitens
stütze er sich insbesondere auf die subjektiven Angaben des Versicherten.
Drittens sei er in der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit widersprüchlich, indem
einerseits ausgeführt werde, dass aus hausärztlicher Sicht keine Arbeit mehr
zumutbar sei, und andererseits festgehalten werde, dass aus nicht
fachärztlicher Sicht sehr schwierig zu beurteilen sei, inwiefern die
verschiedenen Krankheitsbilder die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen würden.

3.4 Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe den medizinischen
Sachverhalt mangelhaft festgestellt, insbesondere den Bericht des Dr. med.
M.________ vom 7. Mai 2007 willkürlich interpretiert. Des Weitern beanstandet
er, dass die IV-Stelle überhaupt keine eigenen medizinischen Untersuchungen
seit der geltend gemachten medizinischen Verschlechterung des
Gesundheitszustandes sowie der daraus resultierenden erhöhten
Arbeitsunfähigkeit getätigt, sondern nur eine aktenbeurteilende Stellungnahme
des RAD-Arztes eingeholt habe, was als Untersuchungsmangel im Sinne von Art. 43
ATSG zu betrachten sei.

3.5 Mit ihrem Eintreten auf das Revisionsgesuch hat die Verwaltung dargetan,
dass sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer anspruchserheblichen
Veränderung des Gesundheitszustandes als erfüllt betrachtet hat. Wird in diesem
Sinne glaubhaft gemacht, dass sich der Invaliditätsgrad anspruchserheblich
verändert hat, ist die Verwaltung zur Abklärung der Verhältnisse verpflichtet
(vgl. ZAK 1966 S. 277). Dieser Pflicht ist die IV-Stelle nur unvollständig
nachgekommen. Denn zum Gesundheitszustand des Versicherten im massgebenden
Zeitraum äussern sich nur der (vom Versicherten eingereichte) Bericht des Dr.
med. M.________ vom 7. Mai 2007 und die Protokolleinträge des RAD vom 16. Mai
und 3. September 2007. In den Akten fehlen namentlich die sieben fachärztlichen
Stellungnahmen, auf welche sich Dr. med. M.________ in seinem Bericht vom 7.
Mai 2007 stützt; der an sie gerichteten Aufforderung, diese dem Bundesgericht
mit der Vernehmlassung einzureichen, ist die IV-Stelle nicht nachgekommen. Des
Weitern fällt auf, dass die IV-Stelle die Einschätzungen des RAD nicht in der
originalen Fassung, sondern lediglich zitatweise im (dem eigentlichen Dossier
vorangestellten) Verlaufsprotokoll (Protokolleinträge vom 16. Mai und 3.
September 2007) zu den Akten gegeben hat (wobei die Frage der beweisrechtlichen
Bedeutung dieses Umstandes mit Blick auf die ohnehin angezeigte Rückweisung zu
weiteren Abklärungen offen gelassen werden kann, vgl. auch Urteil 9C_622/2007
vom 9. September 2008 E.2.2). Wurde der Sachverhalt damit unvollständig
festgestellt, ist die Angelegenheit an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie
den Gesundheitszustand des Versicherten im massgebenden Zeitraum prüfe und
anschliessend über das Revisionsgesuch neu befinde.

4.
Bei diesem Verfahrensausgang hat die IV-Stelle die Gerichtskosten zu tragen
(Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Versicherten eine Parteientschädigung zu
entrichten (Art. 68 Abs. 2 BGG; vgl. BGE 132 V 215 E. 6.1 S. 235).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Luzern vom 3. Oktober 2008 und die Verfügung der IV-Stelle Luzern vom
11. Juni 2007 werden aufgehoben. Es wird die Sache an die IV-Stelle Luzern
zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen,
über das Revisionsgesuch des Beschwerdeführers neu befinde.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 9. Juli 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Keel Baumann