Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 876/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_876/2008

Urteil vom 14. April 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Parteien
A.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Hebeisen,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 10. September 2008.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 6. Dezember 2007 verneinte die IV-Stelle des Kantons Thurgau
den Anspruch des 1960 geborenen A.________ auf eine Rente der
Invalidenversicherung.

B.
A.________ liess hiegegen Beschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, es sei ihm
spätestens ab 1. Juni 2000 rückwirkend und für die Zukunft eine ganze
Invalidenrente auszurichten. Des Weitern seien ihm berufliche Massnahmen,
insbesondere eine Umschulung, und sämtliche anderen gesetzlichen Leistungen
zuzusprechen. Mit Entscheid vom 10. September 2008 hiess das Verwaltungsgericht
des Kantons Thurgau die Beschwerde teilweise gut, soweit es darauf eintrat. Es
stellte fest, dass A.________ ab dem Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung vom
6. Dezember 2007 keinen Anspruch auf eine Invalidenrente habe. In Bezug auf die
rückwirkende Leistungsabweisung hob es die Verfügung vom 6. Dezember 2007 auf
und wies die Sache an die IV-Stelle zurück, damit sie weitere Abklärungen im
Sinne der Erwägungen treffe und anschliessend über den rückwirkenden
Rentenanspruch neu verfüge.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________
beantragen, der angefochtene Entscheid sei insoweit aufzuheben, als darin
festgestellt werde, dass er ab dem Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung vom 6.
Dezember 2007 keinen Anspruch auf eine Invalidenrente mehr habe. Es sei die
Sache auch hinsichtlich der Leistungsfestlegung ab dem Zeitpunkt des Erlasses
der Verfügung vom 6. Dezember 2007 an die Vorinstanz, eventualiter die
IV-Stelle, zurückzuweisen. Eventualiter sei ihm ab 1. Juni 2000 und auch über
den Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung vom 6. Dezember 2007 hinaus eine
ganze, eventualiter zumindest eine Viertelsrente der Invalidenversicherung
zuzusprechen.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde an das Bundesgericht ist zulässig gegen Endentscheide, das
heisst gegen Entscheide, die das Verfahren abschliessen (Art. 90 BGG), und
gegen Teilentscheide, die nur einen Teil der gestellten Begehren behandeln,
wenn diese unabhängig von den anderen beurteilt werden können, oder die das
Verfahren nur für einen Teil der Streitgenossen und Streitgenossinnen
abschliessen (Art. 91 BGG). Gegen selbständig eröffnete Vor- und
Zwischenentscheide ist hingegen die Beschwerde nur zulässig, wenn sie die
Zuständigkeit oder den Ausstand betreffen (Art. 92 BGG), einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil bewirken können (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) oder wenn
die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit
einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges
Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG).
Rückweisungsentscheide, mit denen eine Sache zur neuen Entscheidung an die
Vorinstanz zurückgewiesen wird, sind Zwischenentscheide, die nur unter den
genannten Voraussetzungen beim Bundesgericht angefochten werden können (BGE 133
V 477 E. 4.2 S. 481 f.). Anders verhält es sich nur, wenn der unteren Instanz,
an welche zurückgewiesen wird, kein Entscheidungsspielraum mehr verbleibt und
die Rückweisung bloss noch der Umsetzung des oberinstanzlich Angeordneten dient
(SVR 2008 IV Nr. 39 S. 131, 9C_684/2007 E. 1.1).

2.
In Bezug auf die Verneinung eines Leistungsanspruches für die Zeit bis zum 6.
Dezember 2007 hat das kantonale Gericht die Sache zu weiteren Abklärungen an
die Verwaltung zurückgewiesen; insoweit liegt ein Zwischenentscheid vor, der
nur unter den hier nicht erfüllten Voraussetzungen von Art. 92 oder 93 BGG
angefochten werden könnte und vom Beschwerdeführer denn auch nicht angefochten
wird.

3.
Für die Zeit ab 6. Dezember 2007 hat die Vorinstanz demgegenüber materiell
entschieden, dass kein Rentenanspruch bestehe. Es fragt sich, ob diesbezüglich
ein selbständig anfechtbarer Teilentscheid vorliegt.

4.
4.1 Die Abgrenzung zwischen Teil- und Zwischenentscheid erfolgt auf der Ebene
des Streitgegenstandes: Massgebend ist, ob der Entscheid ein Begehren
behandelt, das unabhängig von anderen beurteilt werden kann (Art. 91 lit. a
BGG), d.h. auch Gegenstand eines selbständigen Verfahrens hätte bilden können
(Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl
2001 S. 4332 Ziff. 4.1.4.1); solche Entscheide sind (anders als die
Zwischenentscheide) selbständig der materiellen Rechtskraft zugänglich (BGE 128
III 191 E. 4a S. 194; Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG],
2007, N. 6 zu Art. 91 und N. 2 zu Art. 93 BGG).

4.2 Wird von mehreren an sich denkbaren, derart unabhängigen Begehren nur eines
überhaupt prozessual thematisiert, so bildet einzig dieser Punkt
Prozessgegenstand; der darüber ergehende Entscheid ist ein Endentscheid im
Sinne von Art. 90 BGG. Das zuständige Gericht kann aber auch zur Vereinfachung
des Verfahrens von mehreren gleichzeitig gestellten Rechtsbegehren nur einen
Teil beurteilen (vgl. Art. 123 lit. a des bundesrätlichen Entwurfs vom 28. Juni
2006 zu einer Schweizerischen Zivilprozessordnung [E-ZPO]; BBl 2006 7413); in
diesem Fall handelt es sich um Teilentscheide im Sinne von Art. 91 BGG, welche
selbständig anfechtbar sind und später nicht mehr angefochten werden können
(Hans Peter Walter, Neue Zivilrechtspflege, in: Pierre Tschannen [Hrsg.], Neue
Bundesrechtspflege, Berner Tage für die juristische Praxis [BTJP], 2007, S. 113
ff., 132 f.; vgl. Urteil 5A_512/2007 vom 17. April 2008 E. 1.4, nicht publ. in:
BGE 134 III 433; 4A_85/2007 vom 11. Juni 2007 E. 3.3). Unzulässig ist dies
gemäss Art. 91 lit. a BGG dann, wenn solche Teil-Rechtsansprüche nicht
unabhängig von den anderen Begehren beurteilt werden können. Ob dies der Fall
ist, richtet sich nach materiellrechtlichen Gesichtspunkten. Ist nach dem
materiellen Recht eine unabhängige Beurteilung einzelner Punkte nicht möglich,
so ist ein Entscheid, mit dem über diese Punkte befunden wird, ein
Zwischenentscheid (BGE 134 III 426 E. 1.2 S. 428 f.).

4.3 Das Rentenverhältnis ist ein Dauerrechtsverhältnis, welches naturgemäss
eine längere Zeitspanne beschlägt. Im Rahmen von Dauerrechtsverhältnissen ist
es unter dem Vorbehalt des Rechtsmissbrauchs grundsätzlich möglich,
Rechtsansprüche, welche bestimmte Teile der gesamten Dauer betreffen, je zum
Gegenstand selbständiger Verfahren zu machen, die zu einem rechtskräftigen
Entscheid nur in Bezug auf die betreffende Teilperiode führen. Im Zivilprozess
spricht man dabei von einer (individualisierten oder unechten) Teilklage (vgl.
Art. 84 E-ZPO; Sutter-Somm, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2007, S. 108 Rz.
526; Staehelin/Staehelin/Grolimund, Zivilprozessrecht, 2008, S. 199 f. Rz. 40;
Leuch/Marbach/Kellerhals/Sterchi, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern,
5. Aufl. 2000, N. 1 e zu Art. 138, N. 12 c bb zu Art. 192 ZPO; vgl. Urteil
4C.204/1995 vom 22. Februar 1996 E. 2). Das ist auch im öffentlichen Recht,
namentlich in der Sozialversicherung, der Fall: Im Klageverfahren wird der
Streitgegenstand durch das klägerische Begehren bestimmt; beschränkt sich
dieses beispielsweise im Rahmen einer Klage (Art. 73 BVG) auf Rentenleistungen
der beruflichen Vorsorge nur auf einen bestimmten Teilzeitraum, so kann nur
dieser beurteilt werden. Im Bereich der nachträglichen
Verwaltungsgerichtsbarkeit bestimmt die angefochtene Verfügung den zulässigen
Streitgegenstand: Unter dem Vorbehalt einer ausnahmsweisen Ausdehnung des
Streitgegenstands (BGE 130 V 138 E. 2.1 S. 140 f.) kann die Beschwerdeinstanz
nur beurteilen, was verfügt worden ist; ist nur über einen Teilzeitraum verfügt
worden, kann auch nur dieser beurteilt werden (vgl. z.B. Urteil 9C_603/2007 vom
8. Januar 2008 E. 2).

5.
5.1 Steht eine Dauerleistung während einer längeren Zeitperiode zur Diskussion
und hat die Vorinstanz nur für einen Teil dieses Zeitraums in der Sache
entschieden, so liegt nach dem Gesagten grundsätzlich ein Teilentscheid vor,
der selbständig anfechtbar ist. Das Bundesgericht hat denn auch mit Urteil
9C_728/2008 vom 6. April 2009 E. 1.4.6 erkannt, dass ein Entscheid, mit welchem
eine Vorinstanz des Bundesgerichts eine bestimmte, vorangehende Teilperiode des
Rentenanspruchs materiell abschliessend beurteilt und für eine darauf folgende
Teilperiode die Sache zu neuer Beurteilung an die Verwaltung zurückweist, in
Bezug auf die materiell abschliessend beurteilte Phase ein Teilentscheid im
Sinne von Art. 91 lit. a BGG ist, der selbständig anfechtbar ist und innert der
Frist des Art. 100 BGG angefochten werden muss, wenn der Eintritt der
Rechtskraft verhindert werden soll (Urteil 1B_206/2007 vom 7. Januar 2008 E.
3.3; 1C_82/2007 vom 19. November 2007 E. 1.2).

5.2 Hier liegt jedoch die gegenteilige Situation vor: Die Vorinstanz hat in
Bezug auf die vorangehende Periode zurückgewiesen, in Bezug auf die darauf
folgende Zeitspanne aber einen materiellen Entscheid gefällt. Wie der
Beschwerdeführer richtig bemerkt, ist in dieser Konstellation aus spezifischen
sozialversicherungsrechtlichen Gründen ein abschliessender materieller
Entscheid für die folgende Phase nicht zulässig: Streitgegenstand ist der
Rentenanspruch als Ganzes (BGE 131 V 164 E. 2.2 S. 165, 125 V 413 E. 2 S. 415
ff.). In zeitlicher Hinsicht ergibt sich freilich zwangsläufig eine Staffelung
der Beurteilung, indem die Rentenzusprache jeweils (nur) bis zu einem
bestimmten Zeitpunkt (in der Regel bis zum Zeitpunkt des Verfügungserlasses)
verbindlich festgelegt werden kann, weshalb ein solcher Entscheid selbständig
rechtskräftig werden kann und als End- oder Teilentscheid selbständig
anfechtbar ist. Diese einmal rechtskräftig festgelegte Rente bleibt (unter
Vorbehalt der prozessualen Revision oder der Wiedererwägung; Art. 53 Abs. 1
oder 2 ATSG) auch für die Zukunft verbindlich, bis sie gegebenenfalls in einem
neuen Verfahren wegen erheblicher Änderung des Invaliditätsgrades erhöht,
herabgesetzt oder aufgehoben wird (Art. 17 Abs. 1 ATSG). Daraus folgt, dass die
Rente für eine folgende Teilperiode nicht endgültig festgelegt werden kann,
solange sie für die vorangehende Teilperiode nicht rechtskräftig beurteilt ist,
da die Rentenrevision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG eine Änderung (in medizinischer
oder erwerblicher Hinsicht) voraussetzt: Führten hier die noch vorzunehmenden
Abklärungen zum Ergebnis, dass für die Zeit bis zum 6. Dezember 2007 ein
Rentenanspruch besteht, könnte ein solcher ab diesem Zeitpunkt nur verneint
werden, wenn in diesem Moment eine rechtserhebliche Änderung in den
massgebenden Verhältnissen vorliegt. Hinzu kommt, dass die für eine
vorangehende Phase zu treffenden weiteren Abklärungen auch zu Erkenntnissen
führen können, welche die bisherige Beurteilung der folgenden Phase als
fraglich erscheinen lassen, welch letzte somit nicht losgelöst von der
vorangehenden materiell beurteilt werden kann. Im Lichte der Einheit des
Rentenverhältnisses (BGE 125 V 413) ist deshalb grundsätzlich davon abzusehen,
eine spätere Periode materiell zu beurteilen, solange in Bezug auf einen
vorangehenden Anspruchszeitraum die Sache noch zu näheren Abklärungen
zurückgewiesen wird. Geschieht dies trotzdem, so liegt in Bezug auf die
materiell beurteilte spätere Phase ebenfalls ein Zwischenentscheid vor. Es sind
zwar durchaus Konstellationen denkbar, in denen das Vorliegen der
Revisionsvoraussetzungen auf der Hand liegt oder es sonst wie möglich wäre, die
folgende Phase zu beurteilen, auch wenn die vorangehende noch nicht endgültig
beurteilt ist. Es würde jedoch zu unpraktikablen Differenzierungen und
entsprechender Rechtsunsicherheit führen, die Anfechtbarkeit von der
Konstellation im Einzelfall abhängig zu machen. Im Hinblick auf die erhebliche
Auswirkung der Unterscheidung (selbständiges Rechtskräftigwerden bei
Unterlassung der Anfechtung bei Teilentscheiden; spätere Anfechtbarkeit bei
Zwischenentscheiden) ist eine möglichst klare Regelung erforderlich, weshalb
von derartigen Differenzierungen abzusehen ist.

5.3 Zusammenfassend ist festzuhalten: Ein Entscheid, mit welchem eine
Vorinstanz des Bundesgerichts eine bestimmte, vorangehende Teilperiode des
Rentenanspruchs materiell abschliessend beurteilt und für eine darauf folgende
Teilperiode die Sache zu neuer Beurteilung an die Verwaltung zurückweist, ist
in Bezug auf die materiell abschliessend beurteilte Phase ein Teilentscheid,
der selbständig anfechtbar ist, bei Nichtanfechtung selbständig rechtskräftig
wird und später nicht mehr angefochten werden kann (Urteil 9C_728/2008 vom 6.
April 2009 E. 1.4.6). Demgegenüber ist ein Entscheid, mit welchem eine
Vorinstanz des Bundesgerichts für eine vorangehende Teilperiode des
Rentenanspruchs die Sache zu neuer Beurteilung an die Verwaltung zurückweist
und für eine darauf folgende Teilperiode den Rentenanspruch abschliessend
beurteilt, gesamthaft ein Zwischenentscheid, der nur unter den Voraussetzungen
der Art. 92 oder 93 BGG angefochten werden kann, wobei in den Fällen des Art.
93 BGG das im Zwischenentscheid Beurteilte - anders als in den Fällen des Art.
92 BGG (vgl. Art. 92 Abs. 2 BGG) - zusammen mit dem Endentscheid noch
angefochten werden kann (Art. 93 Abs. 3 BGG).

5.4 Nach dem Gesagten ist auf die Beschwerde nicht einzutreten. Die Verwaltung
wird die von der Vorinstanz angeordneten Abklärungen treffen und neu verfügen.
Im Anschluss daran bleibt dem Versicherten die Möglichkeit gewahrt, die
Verfügung in ihrer Gesamtheit - auch für den Zeitraum ab 6. Dezember 2007 -
mittels Beschwerde gerichtlich überprüfen zu lassen (Art. 57, Art. 62 ATSG).

6.
Auf die Erhebung von Verfahrenskosten wird verzichtet, da die Rechtslage bis zu
diesem Urteil unklar war (Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 14. April 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Keel Baumann