Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 854/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_854/2008

Urteil vom 17. Dezember 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler,
nebenamtlicher Bundesrichter Bühler,
Gerichtsschreiberin Helfenstein Franke.

Parteien
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

S.________, Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Marco Bivetti, Oberer Graben 42, 9000 St. Gallen.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 3. September 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1965 geborene S.________ leidet an multipler Sklerose, schubförmiger
Verlauftyp und ist seit 23. Februar 2004 in ihrer bisherigen erwerblichen
Tätigkeit als Verkäuferin beim Unternehmen C.________ vollständig
arbeitsunfähig. Am 18. Februar 2005 meldete sie sich bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärung der erwerblichen,
haushaltlichen und medizinischen Verhältnisse holte die IV-Stelle des Kantons
St. Gallen von der MEDAS ein interdisziplinäres Gutachten vom 10. Oktober 2006
ein. Gestützt darauf ermittelte die IV-Stelle einen Invaliditätsgrad von 32 %
für den erwerblichen Bereich und von 8,8 % für den Tätigkeitsbereich als
Hausfrau. Mit Verfügungen vom 5. und 19. Juni 2007 sprach sie der Versicherten
nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens rückwirkend ab 1. Februar 2005 bei
einem Invaliditätsgrad von 41 % eine Viertelsrente sowie zwei
Viertels-Kinderrenten und ab 1. Juni 2007 noch eine Viertels-Kinderrente zu.

B.
Beschwerdeweise liess S.________ beantragen, es sei ihr eine ganze
Invalidenrente nebst einer Kinderrente zuzusprechen; eventuell sei die
Streitsache zur weiteren (medizinischen) Abklärung und Neubeurteilung an die
IV-Stelle zurückzuweisen, wobei das Gutachten der MEDAS aus dem Recht zu weisen
sei. Mit Entscheid vom 3. September 2008 hiess das Versicherungsgericht des
Kantons St. Gallen die Beschwerde gut, hob die angefochtenen Verfügungen vom 5.
und 19. Juni 2007 auf und sprach S.________ mit Wirkung ab 1. Februar 2005 eine
ganze Invalidenrente zu.

C.
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Entscheid sei
aufzuheben und die Verfügungen vom 5. und 19. Juni 2007 seien zu bestätigen.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann diese Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Streitig ist der Umfang des Anspruches der Beschwerdegegnerin auf eine
Invalidenrente. Dabei steht nurmehr die erwerbliche Verwertbarkeit der gemäss
MEDAS-Gutachten geschätzten Restarbeitsfähigkeit in Frage.

2.1 Bei erwerbstätigen Versicherten ist der Invaliditätsgrad aufgrund eines
Einkommensvergleichs zu bestimmen. Dazu wird das Erwerbseinkommen, das die
versicherte Person nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung der
medizinischen Behandlung und allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine
ihr zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in
Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht
invalid geworden wäre (Art. 16 ATSG).
Das kantonale Gericht hat zutreffend festgehalten, dass im Rahmen der
Invaliditätsbemessung bei der Bestimmung des trotz gesundheitlicher
Beeinträchtigung zumutbarerweise erzielbaren Einkommens nicht von
realitätsfremden Einsatzmöglichkeiten ausgegangen werden darf. Insbesondere
kann dort nicht von einer Arbeitsgelegenheit gesprochen werden, wo die
zumutbare Tätigkeit nur in so eingeschränkter Form möglich ist, dass sie der
ausgeglichene Arbeitsmarkt praktisch nicht kennt oder sie nur unter nicht
realistischem Entgegenkommen eines durchschnittlichen Arbeitgebers möglich und
das Finden einer entsprechenden Stelle daher zum vorneherein als ausgeschlossen
erscheint (ZAK 1991 S. 318 E. 3b). Ferner ist die Vorinstanz vom zutreffenden
Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes (Art. 16 ATSG) ausgegangen, wonach
dieser nicht nur von seiner Struktur her einen Fächer verschiedenartiger
Stellen offen hält, und zwar sowohl bezüglich der dafür verlangten beruflichen
und intellektuellen Voraussetzungen wie auch hinsichtlich des körperlichen
Einsatzes (BGE 110 V 273 E. 4b S. 276; ZAK 1991 S. 318 E. 3b). Weder gestützt
auf die Pflicht zur Selbsteingliederung noch im Rahmen der der versicherten
Person auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt offen stehenden Möglichkeiten der
Verwertung ihrer Restarbeitsfähigkeit dürfen von ihr Vorkehren verlangt werden,
die unter Berücksichtigung der gesamten objektiven und subjektiven
Gegebenheiten des Einzelfalles nicht zumutbar sind (vgl. BGE 113 V 22 E. 4a S.
28 mit Hinweisen).

2.2 Ausgehend von diesen zutreffenden Leitlinien hat das kantonale Gericht die
wirtschaftliche Verwertbarkeit der verbliebenen Restarbeitsfähigkeit aufgrund
folgender krankheitsbedingter Behinderungen verneint, für welche es sich auf
das MEDAS-Gutachten vom 10. Oktober 2006 gestützt hat:
- Beeinträchtigung der körperlichen Fähigkeiten durch gut sichtbare
Gangataxien;
- Schwäche der oberen und unteren Extremitäten und Unfähigkeit zu
längerem Stehen und Gehen, Sitzen, Bücken und Tragen sowie
Heben von Lasten;
- keine grossen Anforderungen an die feinmotorischen und intellektuellen
Fähigkeiten zufolge deutlicher kognitiver Beeinträchtigungen im Bereich
von Aufmerksamkeit und Gedächtnis;
- ängstlich-depressive Reaktion und affektive Beeinträchtigung;
- rasche körperliche Ermüdung, erhöhte Erschöpfbarkeit und ständige
Schmerzen;
- Aufteilung der zumutbaren Arbeitszeit auf zwei Phasen von 2 - 2½ Stunden
pro Tag;
- Risiko der weiteren Verschlimmerung der Erkrankung.

3.
3.1 Die IV-Stelle wendet sich gegen die Annahme, die Beschwerdegegnerin könne
ihre Restarbeitsfähigkeit nicht mehr verwerten und vertritt die Auffassung, die
wirtschaftliche Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit auf dem ausgeglichenen
Arbeitsmarkt stelle eine vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfrage dar.
Dem kann nicht beigepflichtet werden.

3.2 Die wirtschaftliche Verwertbarkeit der noch zumutbaren Restarbeitsfähigkeit
auf dem als ausgeglichen gedachten Arbeitsmarkt bedeutet eine Einschätzung der
Chancen der versicherten Person, trotz der im Einzelfall einzuhaltenden
Restriktionen bezüglich Arbeitsplatz, Arbeitshaltung, Arbeitszeit und Art der
Tätigkeit von einem durchschnittlichen Arbeitgeber noch angestellt zu werden.
Es geht dabei um die konkrete Beurteilung der für die versicherte Person
realistischerweise noch vorhandenen oder nicht mehr vorhandenen
Arbeitsmarktchancen. Erfolgt die arbeitsmarktliche Chancenbeurteilung auf der
Grundlage der im konkreten Einzelfall von einem potenziellen Arbeitgeber zu
beachtenden Einschränkungen, handelt es sich dabei um eine Tatfrage. Anders
verhält es sich nur, wenn sich das kantonale Sozialversicherungsgericht oder
der Sozialversicherungsrichter hiefür auf einen aus der allgemeinen
Lebenserfahrung gewonnenen Erfahrungssatz stützt, welchem allgemeine Geltung
für gleichgelagerte Fälle und damit normativer Charakter zukommt (vgl. BGE 132
V 393 E. 3.2 S. 398 betreffend zumutbare Arbeit; Ulrich Meyer, N 35 zu Art.
105, in: Niggli/Uebersax/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar
Bundesgerichtsgesetz, Basel 2008 [BSK BGG]).

3.3 Das kantonale Gericht hat seinen Entscheid über die Verwertbarkeit der
verbliebenen Restarbeitsfähigkeit konkret auf die multiplen krankheitsbedingten
sachlichen und zeitlichen Limitierungen der Leistungsfähigkeit gestützt. Daraus
zog die Vorinstanz den Schluss, die Beschwerdegegnerin könne nicht damit
rechnen, dass ein (durchschnittlicher) Arbeitgeber sowohl auf alle bereits
vorhandenen Beeinträchtigungen ihrer Leistungsfähigkeit Rücksicht als auch
zusätzlich das Risiko einer weiteren Verschlimmerung ihrer Krankheit in Kauf
nehmen würde. Diese Schlussfolgerungen sind tatsächlicher Natur und daher für
das Bundesgericht verbindlich, ausser wenn sie offensichtlich unrichtig oder
unvollständig sind, was hier nicht zutrifft. Von einer unvollständigen
Tatsachenfeststellung, die nach Art. 105 Abs. 2 BGG eine Rechtsverletzung
darstellt, könnte gesprochen werden, wenn die Vorinstanz bezüglich der
Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit der Beschwerdegegnerin überhaupt keine
Feststellungen getroffen hätte. Das ist nicht der Fall. Soweit die IV-Stelle
den Sachverhaltsfeststellungen des kantonalen Gerichts davon abweichende eigene
Sachbehauptungen bezüglich der Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit der
Beschwerdegegnerin entgegensetzt, handelt es sich um unzulässige
appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid (Art. 105 BGG; Urteil 9C_882/
2007 vom 11. April 2008 E. 5.1.)

4.
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdeführerin als unterliegender Partei
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse C.________ und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 17. Dezember 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Helfenstein Franke