Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 850/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_850/2008

Urteil vom 6. Februar 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Traub.

Parteien
B.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Giuseppe Dell'Olivo-Wyss, Stadtturmstrasse 10,
5401 Baden,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 27. August 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1958 geborene B.________ war bis Ende Januar 2005 als Sortiererin in einem
Briefzentrum der Post angestellt. Seit Sommer 2002 litt sie zunehmend an
Beschwerden im Bereich von Nacken und Schulter/Arm. Am 17. Juni 2003 meldete
sie sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des
Kantons Aargau holte im Rahmen der erwerblichen und medizinischen Abklärungen
unter anderem ein Gutachten der Klinik X.________ vom 7. November 2005 ein. Mit
- durch Einspracheentscheid vom 10. August 2007 bestätigter - Verfügung vom 5.
April 2006 stellte die Verwaltung fest, mangels eines invalidisierenden
Gesundheitsschadens bestehe kein Anspruch auf Leistungen (berufliche
Massnahmen, Invalidenrente).

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die gegen den
Einspracheentscheid erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 27. August 2008).

C.
B.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, es sei ihr, nach Aufhebung des vorinstanzlichen und des
Einspracheentscheids, eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. Eventuell seien
weitere medizinische Abklärungen durchzuführen, insbesondere ein
Ergänzungsgutachten der Klinik X.________ einzuholen.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
Streitig ist, ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine Rente der
Invalidenversicherung hat. Das kantonale Gericht hat die zur Beurteilung des
Leistungsanspruchs einschlägigen Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt. Darauf
wird verwiesen.

2.
2.1 Der Beurteilung von Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
(Art. 82 ff. BGG) liegt der Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Diesen kann das Bundesgericht von Amtes
wegen berichtigen oder ergänzen, wenn er offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG;
vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG; ohne Beschwerden gemäss Art. 97 Abs. 2 BGG und
Art. 105 Abs. 3 BGG).

2.2 Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist zu prüfen, ob der angefochtene
Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell- und
beweisrechtlichen Grundlagen Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a BGG),
einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung
(Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). Zu den Rechtsverletzungen im Sinne von
Art. 95 lit. a BGG gehört auch die unvollständige Feststellung der
rechtserheblichen Tatsachen (Urteil 9C_40/2007 vom 31. Juli 2007 E. 1; Ulrich
Meyer, in: Basler Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, 2008, N. 25, 36 und 59 zu
Art. 105; Hansjörg Seiler, in: Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, 2007, N. 24
zu Art. 97) und die Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes als einer
wesentlichen Verfahrensvorschrift (Meyer, a.a.O., N. 60 zu Art. 105; Urteil
8C_364/2007 vom 19. November 2007 E. 3.3). Hingegen unterbleibt eine freie
Überprüfung des vorinstanzlichen Entscheids in tatsächlicher Hinsicht.

2.3 Für die Beurteilung, ob eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung oder ein
vergleichbarer pathogenetisch unklarer syndromaler Zustand (BGE 132 V 393 E.
3.2 S. 399) mit invalidisierender Wirkung vorliegt, gilt: Zu den vom
Bundesgericht nur eingeschränkt überprüfbaren Tatsachenfeststellungen zählt
zunächst, ob eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung vorliegt, und -
bejahendenfalls -, ob eine psychische Komorbidität oder weitere Umstände
gegeben sind, welche die Schmerzbewältigung behindern. Als Rechtsfrage frei
überprüfbar ist, ob eine festgestellte psychische Komorbidität hinreichend
erheblich ist und ob einzelne oder mehrere der festgestellten weiteren
Kriterien in genügender Intensität und Konstanz vorliegen, um gesamthaft den
Schluss auf eine nicht mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbare
Schmerzstörung und somit auf eine invalidisierende Gesundheitsschädigung zu
gestatten (SVR 2008 IV Nr. 23 S. 71 E. 2.2, I 683/06).

3.
3.1 Das Vorliegen eines fachärztlich ausgewiesenen psychischen Leidens mit
Krankheitswert ist aus rechtlicher Sicht wohl Voraussetzung, nicht aber
hinreichende Grundlage für die Annahme einer invalidisierenden Einschränkung
der Leistungsfähigkeit (BGE 130 V 396). Entscheidend bleibt bei der
invaliditätsrechtlichen Beurteilung auch von Schmerz- und anderweitigen
Beeinträchtigungszuständen, ob die betroffene Person, von ihrer psychischen
Verfassung her besehen, objektiv an sich die Möglichkeit hat, trotz ihrer
subjektiv erlebten Schmerzen einer Arbeit nachzugehen (BGE 130 V 352 E. 2.2.4
S. 355). Dazu hat sich der psychiatrische Gutachter in jedem Fall - auch unter
Berücksichtigung der Morbiditätskriterien (BGE 130 V 352 E. 2.2.3 S. 353 ff.) -
zu äussern; die entsprechenden Stellungnahmen unterliegen der freien
Beweiswürdigung durch die rechtsanwendenden Stellen, wobei sich die Verwaltung
- und im Streitfall das Gericht - zwar nicht die ärztlichen Einschätzungen und
Schlussfolgerungen zur (Rest-)Arbeitsfähigkeit unbesehen ihrer konkreten
sozialversicherungsrechtlichen Relevanz und Tragweite zu eigen machen, sich
aber andererseits auch nicht über die den beweisrechtlichen Anforderungen
genügenden medizinischen Tatsachenfeststellungen hinwegsetzen darf (BGE 130 V
352 E. 2.2.5 S. 355 unten f.).
3.2
3.2.1 Eine Untersuchung der Beschwerdeführerin in der rheumatologischen
Abteilung des Spitals Y.________ ergab, dass die schmerzhaften
Funktionsstörungen im Bereich der Wirbelsäule und der Gelenke in somatischer
Hinsicht keiner ätiopathogenetischen Erklärung zugänglich sind (Gutachten des
Dr. M.________, Ärztlicher Leiter, vom 27. Januar 2005). Nach dem auf einer
stationären Abklärung (7. bis 11. November 2005) und den medizinischen Akten
beruhenden Gutachten der Klinik X.________ (durch Frau Dr. H.________,
Chefärztin Psychosomatik) führen die Befunde (chronisches multilokuläres
Schmerzsyndrom im Bereich von Kopf, Nacken, Armen, Kreuz, Knie im Verein mit
einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung mit funktioneller
Bewegungsstörung des rechten Armes und Symptomausweitung sowie
Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion und ängstlichen Anteilen)
einzig aus psychiatrischer Sicht zu einer Einschränkung der Arbeitsfähigkeit.
Diese sei seit Beginn des Jahres 2003 - bezogen auf angepasste Tätigkeiten
(leichte, wechselbelastende Arbeit ohne Notwendigkeit zu Verrichtungen auf
Schulterhöhe und über Kopf) - in einem Umfang von 50 Prozent gegeben.
Die Gutachterin beschreibt das Krankheitsgeschehen folgendermassen: Bis zum
Auftreten der Schmerzsymptomatik ab Juli 2002 hätten keine Hinweise auf eine
psychische Störung bestanden; die Versicherte sei über viele Jahre hinweg trotz
Mehrfachbelastung sehr leistungsfähig gewesen. Bevor die Funktionserkrankung
des Bewegungsapparats und der Umstand, dass eine organische Veränderung nicht
im Vordergrund stehe, erkannt worden seien, hätten viele Therapien
(Medikamente, manuelle und Physiotherapie, invasive Behandlung durch lokale
Infiltrationen, chinesische Medizin) stattgefunden, auf welche die Symptomatik
nicht angesprochen habe. Somit sei aus psychosomatischer Sicht eine anhaltende
somatoforme Schmerzstörung zu diagnostizieren. Aus dieser habe sich eine
funktionelle (dissoziative) Bewegungsstörung entwickelt, aufgrund welcher die
rechte Schulter aktiv nur minimal bewegt und der rechte Arm nicht mehr
eingesetzt werde. Zudem finde sich eine "Anpassungsstörung mit längerer
depressiver Reaktion und ängstlichen Anteilen", die für sich keine (weitere)
Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit bewirke. Die Versicherte zeige eine
perfektionistische Persönlichkeitsstruktur "mit hohen Anforderungen an sich
selbst und ein Schwarz-Weiss-Denken, indem sie wie viele Patienten mit
chronischen Schmerzen entweder nur gleichsam über ihre Kräfte hinaus oder gar
nicht arbeiten" könne. Im Übrigen schloss sich die Sachverständige der bereits
im rheumatologischen Gutachten vom 27. Januar 2005 enthaltenen Einschätzung an,
die Vielzahl von Behandlungen und angewandten Behandlungsmethoden habe zur
Chronifizierung beigetragen.
3.2.2 Der Rheumatologe Dr. M.________ schliesst aus diskrepanten
Untersuchungsbefunden auf "eine gewisse Aggravation" (Gutachten des Spitals
Y.________ vom 27. Januar 2005). Dem psychosomatischen Gutachten ist
hinsichtlich auf bewusstem oder bewusstseinsnahem Verhalten fussenden
Beeinträchtigungen zu entnehmen, es sei in Anbetracht der Selbstlimitierung bei
Bewegungen und Belastungen der rechten Schulter und der Tatsache, dass sich die
Versicherte selbst als vollständig arbeitsunfähig wahrnehme, nicht damit zu
rechnen, dass sie die medizinisch-theoretische Restarbeitsfähigkeit ausschöpfen
werde. Mit der funktionellen Bewegungsstörung des rechten Armes mache die
Versicherte auf körperlicher Ebene deutlich, dass sie nicht mehr in der Lage
sei, die zuvor lange Jahre bewältigte Arbeitslast weiter zu tolerieren. Bei
dissoziativer Symptomatik stelle sich dem Gutachter immer die Frage,

"inwiefern der Patient nicht wollen kann (krankheitsbedingtes Fehlen des
Willens, bewusstseinsferner Prozess) und wie weit der Patient nicht können will
(bewusste Aggravation, bewusstseinsnaher Anteil, Vermeidung der
Auseinandersetzung mit eigenen Grenzen). Üblicherweise liegt bei dissoziativer
Symptomatik eine Mischung beider Komponenten vor. Die krankheitsbedingte
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit durch Schmerzsymptomatik durch Komorbidität
von somatoformer Schmerzstörung und funktioneller Bewegungseinschränkung
schätze ich bei 50 % ein" (S. 18).

3.3 Die Vorinstanz hat das psychosomatische Administrativgutachten (Frau Dr.
H.________), welches eine 50%ige Arbeitsunfähigkeit annimmt, als beweiskräftig
bezeichnet, sich davon jedoch gestützt auf die Stellungnahme des Regionalen
ärztlichen Dienstes (Dr. O.________) sowie den vom Rheumatologen (Dr.
M.________) geäusserten Aggravationsverdacht entfernt, in Anwendung der
Rechtsprechung die Morbiditätskriterien (psychiatrische relevante Komorbidität
und weitere Merkmale, vgl. BGE 130 V 354 f.) geprüft und eine invalidisierende
psychische Störung verneint. Dabei hat das kantonale Gericht übersehen, dass
Frau Dr. H.________ an keiner Stelle ihres Gutachtens, insbesondere nicht bei
der Beurteilung und Prognose (Gutachten S. 13), den Ausführungen zur Arbeits-
(S. 14 ff.) und Eingliederungsfähigkeit (S. 16 f.) oder den Bemerkungen und
weiteren Fragen (S. 17 f.), ausdrücklich dazu Stellung bezogen hat, ob die
Beschwerdeführerin trotz der an sich einleuchtend aufgezeigten
psychosomatischen Einschränkungen noch die nötigen Ressourcen hat, um eine
Arbeit zu verrichten. Dabei hat eine solche - in komplexen Fällen wie bei der
Beschwerdeführerin unerlässliche - psychiatrische Einschätzung nicht aus der
subjektiven Sicht der Explorandin heraus zu geschehen - die hier durch
Selbstlimitierung und vollständige Krankheitshaltung imponiert (Gutachten S. 17
Ziff. 3) -, sondern im Sinne einer objektivierenden Betrachtung und
Einschätzung, welche die erwähnten normativen Kriterien mit berücksichtigt, zu
erfolgen. Das ist hier nicht geschehen, weshalb die Ablehnung des
vorinstanzlich gestellten Beweisantrages, es müssten der Klinik X.________
ergänzende Fragen gestellt werden, im Lichte der normativen Vorgaben von BGE
130 V 352 an die Schmerzbegutachtung vor Bundesrecht nicht standhält.

4.
Eine abschliessende Beurteilung des Rentenanspruchs entfällt im Übrigen auch
aus Gründen des zeitlich massgebenden Sachverhalts (BGE 129 V 1 E. 1.2 S. 4).
Bei Abschluss des Verwaltungsverfahrens (Einspracheentscheid vom 10. August
2007) lag die psychosomatische Begutachtung in der Klinik X.________ (November
2005) bereits eindreiviertel Jahre zurück. Mit Blick auf den Umstand, dass die
psychosomatische Gutachterin aufgrund ihrer vorsichtig positiven Prognose eine
Neubeurteilung innert eines bis zwei Jahren empfohlen hatte, wäre eine
Aktualisierung des medizinischen Dossiers vor Abschluss des
Verwaltungsverfahrens angezeigt gewesen (vgl. auch den Bericht des Neurologen
und Psychiaters Dr. S.________ vom 30. Juni 2007). Die entsprechenden
Abklärungen werden bei Gelegenheit der Beantwortung der Ergänzungsfragen durch
die Expertin Frau Dr. H.________ nachzuholen sein. Je nach Entwicklung des
Gesundheitszustands gemäss der gutachtlichen Reevaluation fällt ein bloss
zeitlich begrenzter Rentenanspruch in Betracht.

5.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 4 lit. a BGG). Die
Beschwerdegegnerin trägt als unterliegende Partei die Gerichtskosten (Art. 66
Abs. 1 BGG). Die Ausnahmeregelung von Art. 66 Abs. 4 BGG ist nicht anwendbar
(Urteil 8C_67/2007 vom 25. September 2007 E. 6; vgl. BGE 133 V 637, 640 und
642). Der obsiegenden, anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin steht eine
Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 27. August 2008 wird aufgehoben.
Die Sache wird an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen,
damit es nach Aktenergänzung im Sinne der Erwägungen 3.3 und 4 über die
Beschwerde gegen den Einspracheentscheid vom 10. August 2007 neu befinde.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 6. Februar 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Traub