Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 825/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_825/2008, 9C_829/2008

Urteil vom 6. November 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Parteien
9C_825/2008
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

L.________,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Fürsprecher Gerhard Lanz,
Kirchenfeldstrasse 68, 3005 Bern,

und

9C_829/2008
L.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Gerhard Lanz,
Kirchenfeldstrasse 68, 3005 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerden gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 27. August 2008.

Sachverhalt:

A.
A.a Die IV-Stelle Bern sprach L.________ (geb. 1963) mit Verfügung vom 23.
September 1999 eine halbe Invalidenrente mit Wirkung ab 1. Januar 1996 zu. Auf
Beschwerde der Versicherten hin hob das Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
nach vorgängiger Androhung einer reformatio in peius, die Verfügung auf und
verneinte den Anspruch auf eine Invalidenrente (Entscheid vom 9. Januar 2001).
Das hierauf angerufene Eidg. Versicherungsgericht hiess die von L.________
erhobene Beschwerde insoweit teilweise gut, als es den kantonalen Entscheid und
die Verwaltungsverfügung aufhob und die Sache an die IV-Stelle zurückwies,
damit sie die Versicherte begutachten lasse und anschliessend über den
Rentenanspruch neu verfüge (Urteil I 116/01 vom 27. November 2001).
A.b In der Folge holte die IV-Stelle beim Zentrum für Medizinische Begutachtung
(ZMB) MEDAS X.________ ein interdisziplinäres Gutachten vom 24. Februar 2004
ein. Gestützt darauf verneinte sie den Anspruch auf eine Invalidenrente
(Verfügung vom 7. April 2004, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 23. Januar
2006).

Die von der Versicherten hiegegen erhobene Beschwerde hiess das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 18. April 2007 gut, hob
den Einspracheentscheid auf und wies die Akten zum weiteren Vorgehen im Sinne
der Erwägungen (d.h. Durchführung weiterer Abklärungen) an die Verwaltung
zurück.
A.c Am 28. Mai 2007 teilte die Verwaltung der Versicherten mit, dass sie
beabsichtige, beim ZMB MEDAS X.________ eine Untersuchung anzuordnen. Von der
ihr gleichzeitig eingeräumten Gelegenheit, innert 10 Tagen Einwendungen gegen
die Person der Gutachterin oder des Gutachters oder gegen die begutachtende
Stelle vorzubringen und allfällige Gegenvorschläge zu unterbreiten, machte die
Versicherte mit Schreiben vom 4. Juni 2007 Gebrauch. Sie machte geltend, beim
ZMB MEDAS X.________ als einem Institut, welches bereits einmal ein
"fehlerhaftes Gutachten" abgeliefert habe, bestehe objektiv betrachtet der
Anschein der Befangenheit, wenn es aufgefordert werde, die bereits gestellte
Diagnose noch einmal zu überprüfen. Da es nicht um eine Verlaufskontrolle oder
ein Ergänzungsgutachten gehe, sei eine andere Gutachtensstelle, z.B. die MEDAS
Y.________, zu beauftragen. Sofern die IV-Stelle diesem Antrag nicht stattgeben
könne, ersuche sie um den Erlass einer anfechtbaren Verfügung mit
gleichzeitiger Nennung der Namen der konkreten Gutachter.

Am 30. Juli 2007 wies die IV-Stelle den Antrag der Versicherten auf Bezeichnung
einer anderen Gutachtensstelle ab und forderte L.________ auf, ihrer
Mitwirkungspflicht nachzukommen. Sie machte darauf aufmerksam, dass für
materielle Einwendungen keine anfechtbare Zwischenverfügung erlassen werden
müsse.

Mit Schreiben vom 28. August 2007 liess die Versicherte erneut beantragen, die
Begutachtung sei bei der MEDAS Y.________ in Auftrag zu geben; eine
Begutachtung beim ZMB MEDAS X.________ würde eine unzulässige
Verfahrensverzögerung bedeuten. Die IV-Stelle hielt an der vorgesehenen
Begutachtung durch das ZMB MEDAS X.________ fest (Mitteilung vom 4. September
2007).

B.
Am 21. September 2007 liess L.________ beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern
eine Rechtsverzögerungsbeschwerde einreichen und beantragen, die IV-Stelle sei
anzuweisen, sie umgehend von der MEDAS Y.________ begutachten zu lassen oder
von einer anderen geeigneten Gutachtensstelle, deren Wartezeit aktuell zwei
Monate nicht übersteige. Des Weitern brachte sie vor, die Gutachter des ZMB
MEDAS X.________ seien befangen; die IV-Stelle sei zu verpflichten, darüber
mittels einer anfechtbaren Zwischenverfügung zu befinden. Mit Entscheid vom 27.
August 2008 hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die Beschwerde
insoweit teilweise gut, als es die IV-Stelle verpflichtete, über die formellen
Einwendungen im Zusammenhang mit der angeordneten Begutachtung im ZMB MEDAS
X.________ eine anfechtbare Zwischenverfügung zu erlassen. Soweit die
Rechtsverzögerung betreffend wies es die Beschwerde ab.

C.
Gegen den kantonalen Entscheid erheben sowohl das Bundesamt für
Sozialversicherungen (BSV) als auch L.________ Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten.

Das BSV stellt das Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei insoweit
aufzuheben, als die IV-Stelle verpflichtet werde, im Zusammenhang mit der
angeordneten Begutachtung im ZMB MEDAS X.________ eine anfechtbare
Zwischenverfügung zu erlassen. Der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu
erteilen.

L.________ beantragt, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die IV-Stelle
anzuweisen, sie umgehend von der MEDAS Y.________ oder einer anderen geeigneten
Gutachtensstelle, deren Wartezeit aktuell zwei Monate nicht übersteige,
begutachten zu lassen.

Es wurde kein Schriftenwechsel durchgeführt.

Erwägungen:

1.
Da den beiden Beschwerden derselbe Sachverhalt zugrunde liegt und sie den
nämlichen vorinstanzlichen Entscheid betreffen, werden die beiden Verfahren
vereinigt und in einem einzigen Urteil erledigt (BGE 128 V 124 E. 1 S. 126 mit
Hinweisen, welche Rechtsprechung auch unter der Herrschaft des BGG weiterhin
anwendbar ist: vgl. Urteil 9C_55/2007 vom 18. Oktober 2007 E. 1).

2.
Die Versicherte hat ihre an die Vorinstanz gerichtete Beschwerde mit zwei
verschiedenen Argumentationen begründet: Erstens sei über die Frage der
Befangenheit des ZMB MEDAS X.________ in einer anfechtbaren Verfügung zu
entscheiden. Zweitens würde es zu einer ungebührlichen Verfahrensverlängerung
führen, wenn das ZMB MEDAS X.________ mit der Begutachtung beauftragt werde,
weil bei diesem bedeutend längere Wartezeiten als bei anderen Gutachtensstellen
bestünden. Die beiden Argumentationen stehen insofern in einem Zusammenhang,
als die erste gegenstandslos würde, wenn man der zweiten folgte. Dennoch
handelt es sich um zwei verschiedene Begehren, die grundsätzlich auch
unabhängig voneinander beurteilt werden können und daher zu selbstständig
anfechtbaren Teilentscheiden (Art. 91 lit. a BGG) führen. Die Vorinstanz hat
das erste Begehren gutgeheissen und die Sache an die IV-Stelle zurückgewiesen
zum Erlass einer anfechtbaren Verfügung; insoweit handelt es sich um einen
Zwischenentscheid (BGE 133 V 477 E. 4.2 S. 481 f.). Das zweite Begehren hat sie
abgewiesen; insoweit liegt ein selbstständig anfechtbarerer Teil-Endentscheid
vor.

3.
Das BSV wendet sich in seiner Beschwerde nur gegen den Zwischenentscheid. In
diesem wurde nicht über das Vorliegen von Ausstandsgründen beim ZMB MEDAS
X.________ entschieden, sondern nur angeordnet, die IV-Stelle habe über
dieselben in einer anfechtbaren Verfügung zu befinden. Die Zulässigkeit der
Beschwerde richtet sich damit nicht nach der die Anfechtung von Vor- und
Zwischenentscheiden über die Zuständigkeit und den Ausstand regelnden
Bestimmung des Art. 92 BGG, sondern nach der der Anfechtung anderer Vor- und
Zwischenentscheiden gewidmeten Norm des Art. 93 BGG, gemäss welcher die
Beschwerde unter anderem zulässig ist, wenn der Entscheid einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Abs. 1 lit. a). Ein derartiger Nachteil
besteht rechtsprechungsgemäss für die Verwaltung, wenn der
Rückweisungsentscheid durch nach Auffassung der Verwaltung rechtswidrige
materiellrechtliche Anordnungen den Beurteilungsspielraum der unteren Instanz
einschränkt (BGE 133 V 477 E. 5.2 S. 483 ff.). Diese Voraussetzung ist hier
nicht gegeben. Denn die Vorinstanz hat nur festgestellt, dass die Versicherte
Ausstandsgründe im Sinne von Art. 36 ATSG behauptet habe, sich aber nicht dazu
geäussert, ob diese Gründe zutreffen; in der Würdigung und Beurteilung der
vorgebrachten Ausstandsgründe bleibt die IV-Stelle damit frei. In diesem Sinne
stellt der blosse Umstand, dass die IV-Stelle eine (inhaltlich in keiner Weise
präjudizierte) Verfügung erlassen muss, keinen nicht wieder gutzumachenden
Nachteil dar. Auf die Beschwerde des BSV ist daher nicht einzutreten. Damit
wird auch das von ihm gestellte Gesuch um Gewährung der aufschiebenden Wirkung
gegenstandslos.

4.
4.1 Die Beschwerde der Versicherten richtet sich einzig gegen die Abweisung
ihrer Rechtsverzögerungsbeschwerde durch das kantonale Gericht und damit gegen
den Teil-Endentscheid; sie ist damit ohne weiteres zulässig (Art. 90 und 91
BGG).

4.2 Die Versicherte lässt geltend machen, eine Beauftragung des ZMB MEDAS
X.________ führe zu einer unzulässigen Verfahrensverzögerung, betrage doch die
Wartezeit für Begutachtungen bei dieser Stelle sechs Monate mehr als bei einer
alternativen Gutachtensstelle und komme dem Beschleunigungsgebot angesichts der
überlangen Verfahrensdauer von mittlerweile zwölf Jahren absolute Priorität zu.

4.3 Eine Gerichts- oder Verwaltungsbehörde muss jeden Entscheid binnen einer
Frist fassen, die nach der Natur der Sache und nach den gesamten übrigen
Umständen angemessen erscheint (BGE 131 V 407 E. 1.1 S. 409; 119 Ib 311 E. 5 S.
323; Rüedi, Die Bedeutung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts für die
Verwirklichung des Sozialversicherungsrechts des Bundes, ZBJV 1994 S. 74 ff.;
Schmuckli, Die Fairness in der Verwaltungsrechtspflege, Freiburg 1990, S. 100
ff.), ansonsten sie dem Rechtsverweigerungs- und Rechtsverzögerungsverbot
zuwiderhandelt (Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 29 Abs. 1 BV; vgl. dazu Jörg Paul
Müller/Markus Schefer, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 840 ff.).
Dabei kann eine verfassungswidrige Rechtsverweigerung oder -verzögerung auch
durch eine positive Anordnung begangen werden, wobei rechtsprechungsgemäss
vorausgesetzt wird, dass die fragliche Anordnung rechtsmissbräuchlich getroffen
wurde, und sich ein Eingreifen des Gerichts hinsichtlich angeordneter
Abklärungsmassnamen nur rechtfertigt, wenn die Behörde ihr Ermessen
offensichtlich überschritten hat (Urteil I 91/07 vom 20. März 2007).

4.4 Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass das vorliegende Verfahren
ausserordentlich lange dauert (vgl. auch SVR 2007 IV Nr. 44 S. 144, I 946/05 E.
5.4). Indessen ist die lange Dauer nicht einem vorwerfbaren Verhalten einzelner
Akteure wie beispielsweise der IV-Stelle zuzuschreiben; vielmehr ergibt sie
sich aus einer Kumulation der für die einzelnen Verfahrensschritte benötigten
Zeit. Wenn es auch zutrifft, dass sich einzelne Abschnitte wie die Begutachtung
durch das ZMB MEDAS X.________ oder das Einspracheverfahren vor der IV-Stelle
in die Länge zogen, kann auch bei diesen (inzwischen abgeschlossenen und nicht
mehr zur Diskussion stehenden) Schritten nicht von einer übermässigen Dauer die
Rede sein.

Es steht fest und ist unbestritten, dass die hier einzig streitige Begutachtung
durch das ZMB MEDAS X.________ (anstelle einer anderen Gutachtensstelle) zu
einer weiteren Verfahrensverzögerung von einigen Monaten führt. Angesichts der
bisherigen Gesamtdauer des Verfahrens wäre es grundsätzlich höchst wünschbar,
eine Gutachtensstelle mit möglichst kurzen Wartezeiten zu beauftragen. Indessen
hat die Vorinstanz erwogen, dass es im Sinne der mit Entscheid vom 18. April
2007 angeordneten Einholung eines Ergänzungsgutachtens sinnvoll sei, wenn sich
diejenigen Gutachter mit den offenen Fragen befassen könnten, die bereits
Kenntnis der gesamten Verhältnisse hätten. Das ist eine sachlich haltbare
Überlegung. Hinzu kommt, dass durch die (von der Versicherten nicht
angefochtene) Rückweisung an die IV-Stelle zum Erlass einer anfechtbaren
Verfügung über die geltend gemachte Befangenheit der Gutachtensstelle ohnehin
eine gewisse Verzögerung eintreten wird, insbesondere wenn diese Verfügung
ihrerseits wieder angefochten wird. Allerdings kann eine Kumulation der
Verzögerungen vermieden werden, wenn die IV-Stelle den Gutachtensauftrag dem
ZMB MEDAS X.________, sofern sie dessen Befangenheit verneint, sogleich erteilt
mit dem Hinweis, dass er hinfällig werde, falls die Befangenheit in einem
späteren Rechtsmittelverfahren bejaht werden sollte. Bei dieser Sachlage dringt
die Versicherte mit ihrer Rechtsverzögerungsrüge nicht durch.

5.
Die Versicherte, welche mit ihrer Beschwerde unterliegt, trägt die
Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Für das BSV besteht von vornherein keine
Kostenpflicht (Art. 66 Abs. 4 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verfahren 9C_825/2008 und 9C_829/2008 werden vereinigt.

2.
Auf die Beschwerde des Bundesamtes für Sozialversicherungen wird nicht
eingetreten.

3.
Die Beschwerde der L.________ wird abgewiesen.

4.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden L.________ auferlegt.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 6. November 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Keel Baumann