Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 817/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

9C_817/2008 {T 0/2}

Urteil vom 15. Januar 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Helfenstein Franke.

Parteien
G.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch
B.________

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Bern, Abteilung Beiträge und Zulagen,
Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 2.
September 2008.

Sachverhalt:

A.
Die am ... gegründete Firma H.________ war der Ausgleichskasse des Kantons Bern
als beitragspflichtige Arbeitgeberin angeschlossen. G.________ war bis 8. Juni
2005 als Gesellschafterin und Geschäftsführerin mit einem Stammanteil von Fr.
7'000.- und Einzelunterschrift im Handelsregister eingetragen, ebenso
L.________, allerdings mit einem Stammanteil von Fr. 13'000.-, wobei er ab 8.
Juni 2005 die Stammanteile von G.________ übernahm. Am ... wurde über die
Gesellschaft der Konkurs eröffnet und am ... mangels Aktiven eingestellt. Mit
Verfügung vom 18. Januar 2008 verpflichtete die Ausgleichskasse G.________ zur
Bezahlung von Schadenersatz für unbezahlt gebliebene
Sozialversicherungsbeiträge für das 1. Quartal 2005 in der Höhe von Fr.
1'431.45. Die dagegen von G.________ erhobene Einsprache wies die
Ausgleichskasse mit Einspracheentscheid vom 21. April 2008 ab.

B.
Die hiegegen von G.________ erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des
Kantons Bern mit Entscheid vom 2. September 2008 ab.

C.
G.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 2. September 2008 und der
Einspracheentscheid vom 21. April 2008 seien aufzuheben.

Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf
einzutreten ist. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf
eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die II. sozialrechtliche Abteilung ist zuständig zum Entscheid über die
streitige Schadenersatzpflicht nach Art. 52 AHVG (Art. 82 lit. a BGG sowie Art.
35 lit. a des Reglements für das Bundesgericht vom 20. November 2006 [BgerR]).
Nach Art. 34 lit. e BgerR fällt die kantonale Sozialversicherung (insbesondere
Familien- und Kinderzulagen) zwar in die Zuständigkeit der I. sozialrechtlichen
Abteilung. Es ist indessen aus prozessökonomischen Gründen sinnvoll, dass die
II. sozialrechtliche Abteilung auch über die Schadenersatzpflicht entscheidet,
soweit sie entgangene Sozialversicherungsbeiträge nach kantonalem Recht
betrifft (Urteil 9C_465/2007 vom 20. Dezember 2007).

2.
Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG
erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106
Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Gemäss Art. 42 Abs. 1 BGG ist
die Beschwerde hinreichend zu begründen, andernfalls wird darauf nicht
eingetreten (Art. 108 Abs. 1 lit. b BGG). Das Bundesgericht prüft grundsätzlich
nur die geltend gemachten Rügen; es ist nicht gehalten, wie eine
erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu prüfen,
wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen wurden. Es kann die
Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht nur
insofern prüfen, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und
begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG). Ferner darf das Bundesgericht nicht
über die Begehren der Parteien hinausgehen (Art. 107 Abs. 1 BGG). Neue
Tatsachen und Beweismittel dürfen gemäss Art. 99 Abs. 1 BGG nur so weit
vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt.

3.
In Frage steht die Schadenersatzpflicht der Beschwerdeführerin.

3.1 Nach Art. 52 AHVG hat ein Arbeitgeber, der durch absichtliche oder
grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften einen Schaden verschuldet, diesen
der Ausgleichskasse zu ersetzen. Ist der Arbeitgeber eine juristische Person,
so können subsidiär gegebenenfalls die verantwortlichen Organe in Anspruch
genommen werden (BGE 123 V 12 E. 5b S. 15; 122 V 65 E. 4a S. 66; 119 V 401 E. 2
S. 405, je mit Hinweisen). Die Vorinstanz hat die zu den einzelnen
Haftungsvoraussetzungen nach Art. 52 AHVG (Schaden, Widerrechtlichkeit,
Kausalität, qualifiziertes Verschulden) ergangene Rechtsprechung, soweit für
die Beurteilung der Sache im vorliegenden Fall von Belang, zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.2 In tatsächlicher Hinsicht (vgl. E. 2 hiervor zur grundsätzlichen
Verbindlichkeit der vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung für das
Bundesgericht) hat die Vorinstanz festgestellt, dass die nachmals konkursite
Arbeitgeberfirma im Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis 31. März 2005 die
geschuldeten Lohnbeiträge in der Höhe von Fr. 1'431.45 (1. Quartalsrechnung
2005) nicht entrichtet, damit gegen die ihr obliegenden
Beitragsablieferungspflicht (Art. 14 Abs. 1 AHVG) verstossen und deshalb den
Beitragsverlust nach Art. 52 AHVG widerrechtlich verursacht hat. Weiter stellte
das kantonale Gericht fest, die Beschwerdeführerin habe in keiner Weise zu
belegen vermocht, dass sie im massgeblichen Zeitraum jemals den gesetzlichen
Überwachungspflichten als Geschäftsführerin nachgekommen wäre. Selbst wenn sie
keinen Zugriff auf die Bankkonten der Firma H.________ gehabt haben sollte,
wäre es ihr als einzelzeichnungsberechtigter Geschäftsführerin ohne Weiteres
möglich gewesen, bei der Ausgleichskasse die notwendigen Auskünfte einzuholen
und die Einhaltung der Verpflichtungen gegenüber der Ausgleichskasse zu
verlangen. Dabei handelt es sich um Sachverhaltsfeststellungen, die auf Grund
von Art. 105 Abs. 2 OG für das Bundesgericht verbindlich sind.

3.3 Umstritten und als Rechtsfrage frei zu prüfen ist demgegenüber, ob in
diesem Verhalten der Beschwerdeführerin eine Grobfahrlässigkeit im Sinne von
Art. 52 AHVG liegt. Während diese erneut geltend macht, eine grobfahrlässige
Verletzung ihrer Pflichten liege nicht vor, nachdem sie gemäss öffentlicher
Urkunde, dem notariell beurkundeten Abtretungsvertrag vom ..., effektiv per ...
aus der Gesellschaft ausgeschieden sei, verneint die Vorinstanz ein
tatsächliches Ausscheiden aus der Gesellschaft vor dem 1. Juni 2005 und
schliesst von der Nichteinhaltung der Überwachungspflichten als
Geschäftsführerin in diesem Zeitraum auf ein grobfahrlässiges Verhalten.

3.4 Zwar schliesst ein geringfügiger Schadensbetrag und eine (relativ) kurze
Dauer des Beitragsausstandes nach der Rechtsprechung (BGE 121 V 243 E. 4b S.
244) ein grobes Verschulden nicht zwingend aus. So vermag beispielsweise auch
ein kurzer Ausstand im Sinne der Rechtsprechung zu den Entlastungsgründen (BGE
108 V 183 E. 1b S. 186, 199 E. 1 S. 200) nicht zwangsläufig zu einer Entlastung
des verantwortlichen Organes zu führen, wenn vorher die Beitragsabrechnung
nicht klaglos war (vgl. Urteil H 67/06 vom 11. Juli 2006). Vielmehr muss auch
hier die verschuldensmässige Wertung der Beitragspflichtverletzung in Würdigung
sämtlicher konkreten Umstände des Einzelfalles (BGE 121 V 243 E. 4b S. 244 mit
Hinweis, vgl. auch Urteile H 179/01 vom 2. Juli 2003 und H 404/99 vom 13.
Februar 2001), die zum Zahlungsrückstand geführt haben, erfolgen, wobei das
Verhalten des Organs und seine Funktion in der Gesellschaft wie auch die
Zahlungs- und Abrechnungsmodalitäten zu berücksichtigen sind.

Obwohl hier nur eine einzige unbezahlte Quartalsrechnung in Frage steht und
damit von einer kurzen Dauer des Beitragsausstandes auszugehen ist, nennt die
Vorinstanz solche weiteren Umstände jedoch nicht, und es sind auch keine
ersichtlich. Indem das kantonale Gericht direkt von der Nichteinhaltung der
Überwachungspflichten der Beschwerdeführerin auf Grobfahrlässigkeit geschlossen
hat, übersieht sie, dass ein kurzer Beitragsausstand für sich allein - in
Abwesenheit anderer Umstände - nicht als grobfahrlässig gewertet werden kann;
denn nicht jede Ausrichtung von Lohn, auf welchem die
Sozialversicherungsbeiträge nicht bezahlt werden, ist als grobfahrlässiges
Verhalten zu qualifizieren (SVR 2007 AHV Nr. 13 S. 37). Wenn die
Beschwerdeführerin in ihrer Eigenschaft als Gesellschafterin und
Geschäftsführerin der Gesellschaft der Bezahlung einer einzigen
Quartals-Rechnung nicht nachgegangen ist, ist dies allenfalls als fahrlässig zu
werten, Grobfahrlässigkeit begründet es jedoch nicht. Denn grobe Fahrlässigkeit
begeht nur, wer das ausser Acht lässt, was jedem verständigen Menschen in
gleicher Lage und unter gleichen Umständen als beachtlich hätte einleuchten
müssen (BGE 108 V 199 E. 3a 202). Eine Pflicht zur Nachfrage bei der
Ausgleichskasse, also dem Kreditor selbst, besteht entgegen der Auffassung der
Vorinstanz im Rahmen von Art. 52 AHVG nicht (Urteile H 182/06 vom 29. Januar
2008 und H 320/99 vom 14. März 2001), es sei denn, es lägen besondere Umstände
vor, die eine Anfrage nahelegen würden, was vorliegend wie ausgeführt nicht
zutrifft. Damit fällt ein haftungsbegründendes qualifiziertes Verschulden, wie
es Art. 52 AHVG für die Schadenersatzverpflichtung verlangt, entgegen der
Auffassung von Vorinstanz und Verwaltung im vorliegenden Fall ausser Betracht.

4.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens werden die Gerichtskosten der
Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die obsiegende
Beschwerdeführerin hat Anspruch auf eine Parteientschädigung zulasten der
Ausgleichskasse (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 2. September 2008
und der Einspracheentscheid der Ausgleichskasse des Kantons Bern vom 21. April
2008 werden aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 15. Januar 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Helfenstein Franke