Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 813/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_813/2008

Urteil vom 8. April 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Traub.

Parteien
P.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Marco Büchel,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom
20. August 2008.

Sachverhalt:

A.
Der 1979 geborene P.________ bezieht seit September 2003 eine halbe
Invalidenrente (Verfügung der IV-Stelle des Kantons Thurgau vom 13. Oktober
2004). Mit Entscheid vom 20. September 2006 hiess die IV-Stelle eine Einsprache
unter anderem gegen ihre Verfügung vom 9. Februar 2006, mit welcher die
Leistung per August 2003 auf eine Viertelsrente herabgesetzt werden sollte, gut
und bestätigte den bisherigen Anspruch auf eine halbe Invalidenrente. Bereits
am 29. Januar 2006 hatte die behandelnde Psychiaterin ein Revisionsgesuch
eingereicht. Gestützt auf die Ergebnisse einer interdisziplinären Begutachtung
durch die Medizinische Abklärungsstelle (MEDAS) (Expertise vom 22. November
2007) sprach die Verwaltung P.________ für den Zeitraum von Februar 2006 bis
November 2007 eine ganze sowie mit Wirkung ab Dezember 2007 wiederum eine halbe
Invalidenrente zu (Verfügung vom 14. April 2008).

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau hiess die dagegen erhobene
Beschwerde teilweise gut und sprach dem Versicherten für den Zeitraum von
Februar 2006 bis Dezember 2007 eine ganze und mit Wirkung ab Januar 2008 eine
halbe Invalidenrente zu (Entscheid vom 20. August 2008).

C.
P.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit den Rechtsbegehren, es sei ihm, nach Aufhebung des angefochtenen Entscheids
und der strittigen Verfügung, mit Wirkung ab Februar 2006 eine ganze
Invalidenrente zuzusprechen. Eventuell sei festzustellen, dass er mit Wirkung
ab Februar 2006 Anspruch auf eine Dreiviertelsrente habe. Subeventuell sei die
Sache zur Einholung eines Obergutachtens unter Miteinbezug eines Infektiologen
an die IV-Stelle zurückzuweisen.

Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Stellungnahme.
Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 97
Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. BGE 132 V 393 zur auch unter der
Herrschaft des BGG gültigen Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen im Bereich der
Invaliditätsbemessung [Art. 16 ATSG]).

2.
2.1 Nach dem vorinstanzlichen Entscheid wird die seit September 2003 laufende
halbe Invalidenrente für den Zeitraum Februar 2006 bis Dezember 2007 auf eine
ganze Rente erhöht. Strittig ist, ob mit Wirkung ab Januar 2008 wieder eine
halbe Invalidenrente geschuldet sei, wie es die Vorinstanz vorsieht, oder ob
entsprechend dem beschwerdeführerischen Antrag Anspruch auf eine Dreiviertels-
oder eine ganze Invalidenrente besteht (vgl. Art. 28 Abs. 2 IVG).

2.2 Das kantonale Gericht hat die zur Beurteilung des Leistungsanspruchs
einschlägigen Rechtsgrundlagen und die dazu ergangene Rechtsprechung zutreffend
dargelegt, weshalb darauf verwiesen wird. Insbesondere hat die Vorinstanz
richtig festgehalten, dass bei rückwirkender Zusprechung einer abgestuften und/
oder befristeten Invalidenrente die für die Rentenrevision (Art. 17 ATSG)
geltenden Bestimmungen analog anzuwenden sind (BGE 133 V 263 E. 6.1 mit
Hinweisen).

3.
3.1 Hinsichtlich der medizinischen Eckdaten stellte das kantonale Gericht auf
das Gutachten der MEDAS vom 22. November 2007 ab, wonach der Beschwerdeführer
an einer Neurasthenie, einer Persönlichkeitsstörung mit histrionischen,
narzisstischen und passiv-aggressiven Zügen, einer HIV-Infektion (Stadium A3),
einer chronischen Hepatitis B sowie an einem rezidivierenden lumbovertebralen
belastungsabhängigen Schmerzsyndrom leide. Aus psychiatrischer Sicht werde von
einer um die Hälfte verminderten Leistungsfähigkeit ausgegangen. Aufgrund der
belastungsabhängigen Rückenbeschwerden sei die bisherige Tätigkeit des
Zustellbeamten vollumfänglich zumutbar; diese umfasse weder ein wiederholtes
Anheben von Lasten über zehn Kilogramm noch "Tätigkeiten in Zwangshaltung". Die
diagnostizierten Infektionserkrankungen sprächen gut auf die verordnete
antiretrovirale Therapie an. Bedingt durch Nebenwirkungen der im Januar 2007
begonnenen Therapie (Transaminaseanstieg, ausgeprägte Müdigkeit, Übelkeit,
Durchfall) und wegen der Mandeloperation im März 2007 sowie einer ab November
2005 dokumentierten Verschlechterung der Abwehrfunktion bzw. damit
einhergehenden psychischen Reaktion habe seit dem 7. November 2005
vorübergehend vollständige Arbeitsunfähigkeit bestanden. Jedenfalls für die
Zeit nach der Untersuchung durch die MEDAS (17.-19. September 2007)
attestierten die Gutachter - unter Vorbehalt der bestehenden "qualitativen
Einschränkungen" - eine Arbeitsunfähigkeit von noch 50 Prozent. Diese sei
vorzugsweise im Rahmen eines zeitlichen Pensums von 70-75 Prozent bei einem
Leistungsgrad von ungefähr 75 Prozent umzusetzen.

Die Vorinstanz erkannte, die gutachtlichen Feststellungen seien schlüssig. Im
Hinblick auf die Vorschrift des Art. 88a IVV greife die - auf der Annahme einer
Arbeitsfähigkeit von 50 Prozent beruhende - Reduktion der Rente mit Wirkung ab
Januar 2008.

3.2 Der Beschwerdeführer rügt, sein Gesundheitszustand habe sich nicht wie von
den Gutachtern der MEDAS angenommen nur vorübergehend sondern dauerhaft
verschlechtert. Er bestreitet mithin den Bestand eines ab Januar 2008 zum
Tragen kommenden leistungsmindernden Revisionsgrundes.
3.2.1 Entgegen der Auffassung des Versicherten ist aber zum einen nicht
ersichtlich, inwiefern das Gutachten dem Rückenschaden bloss unzureichend
Rechnung trage und insofern nicht beweiswertig wäre (vgl. BGE 125 V 351 E. 3a
S. 352). Zum andern stellt auch der fehlende Beizug eines Infektiologen keinen
Mangel der Expertise dar. Die Sachverständigen stellten bei ihrer Begutachtung
im Herbst 2007 auf aktuelle Berichte des Fachbereichs Infektiologie am Spital
G._______ vom 16. Mai und 15. August 2007 ab, wonach die objektiven Befunde
einen guten Erfolg der Therapie von HIV und Hepatitis auswiesen. Es ist nicht
ersichtlich, inwiefern sich diesbezüglich weitere Abklärungen aufgedrängt haben
sollten. Im Übrigen erscheint auch die Antriebsstörung, sei diese nun organisch
oder psychisch begründet, im Rahmen der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit in
nachvollziehbarer Weise berücksichtigt. Eine allfällige Verschlechterung des
Gesundheitszustands nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens (mit Verfügung vom
14. April 2008) wäre nicht mehr Gegenstand dieses Prozesses (vgl. BGE 129 V 1
E. 1.2 S. 4).
3.2.2 Die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz, die hinsichtlich des
medizinischen Tatbestands in vollem Umfang auf die gutachtliche Stellungnahme
abgestellt hat, sind nach dem Gesagten nicht offensichtlich unrichtig, weshalb
das Bundesgericht daran gebunden ist (oben E. 1). Mithin ist die
vorinstanzliche Feststellung, auf Ende des Jahres 2007 sei eine
revisionsrechtlich massgebende Verbesserung des Gesundheitszustandes
eingetreten, nicht zu beanstanden.

3.3 Sind Vollständigkeit und Richtigkeit der umstrittenen
Tatsachenfeststellungen nicht in Zweifel zu ziehen, so hat das kantonale
Gericht zu Recht und ohne das rechtliche Gehör zu verletzen in antizipierter
Beweiswürdigung von weiterer Beweiserhebung abgesehen (Urteil 8C_364/2007 vom
19. November 2007 E. 3.2; vgl. BGE 124 V 90 E. 4b S. 94; 122 V 157 E. 1d S.
162).

4.
Beim Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG) hat die IV-Stelle in der strittigen
Verfügung vom 14. April 2008 sowohl für das Valideneinkommen (hypothetisches
Einkommen ohne Gesundheitsschaden) wie auch für das Invalideneinkommen den mit
der früheren Tätigkeit des Postangestellten erzielbaren Lohn eingesetzt,
nachdem sie sich anlässlich der ursprünglichen Zusprechung einer halben
Invalidenrente (ab September 2003) für die Bemessung des Invalideneinkommens
noch auf statistische Werte (Tabellenlöhne gemäss Lohnstrukturerhebung [LSE]
des Bundesamts für Statistik) gestützt hatte (Verfügung vom 13. Oktober 2004).

4.1 Im Rahmen einer materiellen Revision (Art. 17 ATSG) ist die Verwaltung
verpflichtet, das neue Leistungsbegehren in tatsächlicher und rechtlicher
Hinsicht allseitig, das heisst nicht nur mit Bezug auf jenes
Sachverhaltssegment, in welchem eine Änderung glaubhaft gemacht worden ist, zu
prüfen (BGE 125 V 413 E. 2d S. 417; 117 V 198 E. 4b S. 200; SVR 2008 IV Nr. 20
S. 63 E. 4, 9C_237/2007; Meyer-Blaser, Die Abänderung formell rechtskräftiger
Verwaltungsverfügungen in der Sozialversicherung, in: ZBl 95/1994, S. 345).
Dementsprechend ist das Sozialversicherungsgericht befugt (und verpflichtet),
bei Bedarf Teilaspekte des Rechtsverhältnisses von Amtes wegen aufzugreifen,
selbst wenn diese bereits in der früheren rechtskräftigen Verfügung beurteilt
wurden (SVR 2008 IV Nr. 35 S. 117 E. 3.1, I 822/06).

4.2 Für die Festsetzung des Invalideneinkommens ist nach der Rechtsprechung
primär von der beruflich-erwerblichen Situation auszugehen, in welcher die
versicherte Person konkret steht. Übt sie nach Eintritt der Invalidität eine
Erwerbstätigkeit aus, bei der - kumulativ - besonders stabile
Arbeitsverhältnisse gegeben sind und anzunehmen ist, dass sie die ihr
verbleibende Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft, und
erscheint zudem das Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und nicht
als Soziallohn, gilt grundsätzlich der tatsächlich erzielte Verdienst als
Invalidenlohn. Ist kein solches tatsächlich erzieltes Erwerbseinkommen gegeben,
namentlich weil die versicherte Person nach Eintritt des Gesundheitsschadens
keine oder jedenfalls keine ihr an sich zumutbare neue Erwerbstätigkeit
aufgenommen hat, so können nach der Rechtsprechung entweder Tabellenlöhne
gemäss LSE oder Belege aus der Dokumentation von Arbeitsplätzen (DAP) der SUVA
herangezogen werden (BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475; Urteil 8C_72/2008 vom 26.
Juni 2008 E. 4.1). Tabellenlöhne können für die Bemessung des
Invalideneinkommens allenfalls um maximal 25 Prozent herabgesetzt werden, um
verschiedenen Faktoren Rechnung zu tragen, die Auswirkungen auf die Lohnhöhe
haben können (BGE 126 V 75 E. 5 S. 78).

4.3 Entsprechend ihrem Vorgehen beim Einkommensvergleich haben die Vorinstanzen
nicht mehr geprüft, ob eine Herabsetzung des nach Eintritt der Invalidität
erzielbaren Einkommens im Sinne von BGE 126 V 75 angezeigt sei. Die Verwaltung
hatte mit rechtskräftiger Verfügung vom 13. Oktober 2004 noch festgehalten,
eine "zusätzliche Kürzung" erscheine "nicht als angemessen". Die
kürzungsrelevanten Faktoren sind seither im Gutachten der MEDAS neu umschrieben
worden (vgl. unten E. 4.3.2).
4.3.1 Die Bestimmung der Höhe eines getätigten Abzuges ist - der
letztinstanzlichen Kontrolle entzogene - Ermessensfrage; die Frage, ob ein sog.
Leidensabzug vorzunehmen sei, ist rechtlicher Natur und damit vom Bundesgericht
frei überprüfbar (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399).
4.3.2 Die aus orthopädischer Sicht einzuhaltenden Vorgaben (kein wiederholtes
Heben von Lasten über zehn Kilogramm; Vermeiden von Zwangshaltungen) allein
mindern die allgemeine wirtschaftliche Verwertbarkeit des
Restleistungsvermögens kaum erheblich. Der mit Blick auf mögliche
Verweisungstätigkeiten zu beachtende Umstand, dass die Arbeitsfähigkeit von 50
Prozent aus psychiatrischer Sicht "am ehesten" in Form einer Kombination von
zeitlicher Einschränkung (70-75 Prozent) und vermindertem Rendement (75
Prozent) umsetzbar ist, kann Anlass eines Leidensabzugs sein, sofern erwartet
werden muss, die Restarbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen ausgeglichenen
Arbeitsmarkt sei so nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg
verwertbar. Zudem ist der Verschiedenartigkeit der sich je auf die
Arbeitsfähigkeit auswirkenden Beeinträchtigungen (gemäss gutachtlichem
Diagnosekatalog; oben E. 3.1) Rechnung zu tragen. Allerdings reichte auch die
unter diesen Umständen praxisgemässe Korrektur des Tabellenlohns um etwa 15
Prozent nicht aus, um eine anspruchserhebliche Erhöhung des Invaliditätsgrades
zu bewirken. Ein höherer Abzug liesse sich entgegen der Ansicht des
Beschwerdeführers nicht rechtfertigen, da die Einschränkung in der
Leistungsfähigkeit bereits mit dem Pensum von 50 Prozent berücksichtigt ist,
welches nach der ärztlichen Stellungnahme (E. 3.1) zeitlich und leistungsmässig
überproportional verwertet werden kann.
4.3.3 Wird nämlich das gemäss Verfügung vom 14. April 2008 massgebende
Jahresvalideneinkommen von Fr. 56'534.- (2007) einem Invalideneinkommen von Fr.
25'560.- (LSE 2006 Tabelle A1 [vgl. oben E. 4.2], Total der monatlichen
Bruttolöhne im privaten Sektor, Anforderungsniveau 4 [Fr. 4732.-], umgerechnet
auf eine betriebsübliche wöchentliche Arbeitszeit [2007] von 41,7 Stunden,
einschliesslich der Nominallohnentwicklung per 2007 [1,6 Prozent gegenüber
Vorjahr] und abzüglich eines Leidensabzugs von angenommenen 15 Prozent, x 12 x
0,5 [Einschränkung der Arbeitsfähigkeit um 50 Prozent]) gegenübergestellt,
errechnet sich ein Invaliditätsgrad von 55 Prozent. Der vorinstanzliche
Entscheid, wonach mit Wirkung ab Januar 2008 Anspruch auf Bezug einer halben
Invalidenrente besteht, ist daher im Ergebnis zu bestätigen.

5.
Dem Verfahrensausgang entsprechend werden die Gerichtskosten dem
Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau,
der Eidgenössische Ausgleichskasse und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 8. April 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Traub