Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 805/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_805/2008

Urteil vom 13. März 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Seiler,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Parteien
S.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Fürsprecher Peter Kaufmann,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10,
3007 Bern, Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 1. September 2008.

Sachverhalt:

A.
A.a Mit Verfügung vom 13. Mai 2004, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 4.
November 2004, sprach die IV-Stelle Bern S.________ (geb. 1960) mit Wirkung ab
1. November 2002 bei einem Invaliditätsgrad von 50 % eine halbe Invalidenrente
(samt Zusatzrente für den Ehegatten und Kinderrenten) zu. Die von S.________
dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern ab und
hob den Einspracheentscheid insoweit auf, als es S.________ - nach Androhung
einer reformatio in peius (am 7. Februar 2005) - für die Zeit ab 1. Januar 2004
lediglich eine Viertelsrente zusprach (Entscheid vom 24. August 2005). Im
selben Sinne entschied das Eidg. Versicherungsgericht auf Beschwerde der
Versicherten hin (Urteil I 708/05 vom 31. Januar 2007).
A.b Die IV-Stelle forderte in der von ihr daraufhin erlassenen Verfügung vom
22. September 2005 betreffend die Viertelsrente ab 1. Januar 2004 von der
Versicherten zu viel ausgerichtete Leistungen im Betrage von Fr. 10'398.-
zurück. Mit separater Verfügung (ohne Datum; mit Kopie an die Versicherte)
forderte die Verwaltung vom Sozialdienst den Betrag von Fr. 3'255.- zurück für
die von Januar bis Mai 2004 an diesen überwiesenen Leistungen. Einspracheweise
machte der Sozialdienst geltend, die Verfügung sei dahingehend abzuändern, dass
als Adressatin S.________ gelte. Gegen beide Rückerstattungsverfügungen erhob
S.________ am 3. und 4. Oktober 2005 Einsprache. Die IV-Stelle sistierte das
Verfahren bis zum Abschluss des vor dem Eidg. Versicherungsgericht hängigen
Prozesses. Nach Eröffnung des Urteils I 708/05 vom 31. Januar 2007 zog
S.________ ihre Einsprache vom 3. Oktober 2005 zurück und erklärte jene vom 4.
Oktober 2005 als hinfällig, weshalb die IV-Stelle das Verfahren am 8. Februar
2007 als gegenstandslos vom Protokoll abschrieb.
A.c Die IV-Stelle erliess am 4. April 2007 eine (die Verfügung vom 22.
September 2005 ersetzende) Verfügung, mit welcher sie den Rechtsanspruch der
Versicherten ab 1. Januar 2004 zufolge Änderung der Berechnungsgrundlagen
(Neuberechnung mit Einkommenssplitting, da der Ehemann ebenfalls Anspruch auf
eine Rente hat; Wegfall der Zusatzrente für den Ehegatten) neu festsetzte und
von S.________ nunmehr die Rückerstattung von zu Unrecht bezogenen Leistungen
im Betrage von Fr. 14'711.- forderte. Gleichzeitig wies sie das von der
Versicherten am 16. März 2007 gestellte Gesuch um Erlass der Rückerstattung
mangels guten Glaubens ab.

B.
Die von S.________ dagegen erhobene Beschwerde mit dem Antrag, es sei ihr die
Rückerstattung zu erlassen, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit
Entscheid vom 1. September 2008 ab, wobei es in der Begründung ebenfalls vom
Fehlen gutgläubigen Leistungsbezuges ausging.

C.
S.________ erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die IV-Stelle sei zu
verpflichten, auf eine Rückforderung zumindest für die Zeit vor März 2005 zu
verzichten.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen lässt sich nicht vernehmen.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105
Abs. 2 BGG).

2.
Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführerin die Rückerstattung zu
erlassen ist.

2.1 Unrechtmässig bezogene Leistungen sind zurückzuerstatten. Wer Leistungen in
gutem Glauben empfangen hat, muss sie nicht zurückerstatten, wenn eine grosse
Härte vorliegt (Art. 25 Abs. 1 ATSG). Der Erlass setzt somit einerseits den
gutgläubigen Leistungsbezug und andererseits das Vorliegen einer grossen Härte
voraus.

Im angefochtenen Entscheid werden die nach der Rechtsprechung für die
Beurteilung des guten Glaubens des Leistungsbezügers entscheidenden Kriterien
(BGE 112 V 97 E. 2c S. 103, 110 V 176 E. 3c S. 180 f.; vgl. ferner BGE 122 V
221 E. 3 S. 223) und die Voraussetzungen für die Annahme einer grossen Härte
(Art. 5 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 2 ATSV) richtig dargelegt. Darauf wird
verwiesen.

2.2 Die Vorinstanz erwog, dass über den Leistungsanspruch der
Beschwerdeführerin erst mit Urteil des Bundesgerichts I 708/05 vom 31. Januar
2007 endgültig und rechtskräftig entschieden worden sei und die zugesprochene
halbe Invalidenrente bis zu diesem Zeitpunkt stets unter dem Vorbehalt der
rechtskräftigen Beurteilung durch die übergeordneten Instanzen gestanden habe.
Eine solche Bestätigung sei mindestens für die Zeit ab 1. Januar 2004 nicht
erfolgt. Unter den gegebenen Umständen habe die Beschwerdeführerin nicht darauf
vertrauen dürfen, dass die ursprüngliche Rentenzusprechung beibehalten bleibe,
zumal eine Rechtsmittelinstanz den bei ihr angefochtenen Verwaltungsakt gemäss
Art. 61 lit. d ATSG auch zu Ungunsten der Beschwerde führenden Person abändern
könne, wie dies vorliegend im kantonalen Beschwerdeverfahren erfolgt und
letztinstanzlich bestätigt worden sei.

2.3 Zu Unrecht hat die Vorinstanz damit den guten Glauben der
Beschwerdeführerin mit dem Argument verneint, die Voraussetzungen für den
öffentlich-rechtlichen Vertrauensschutz (Art. 9 BV) seien nicht gegeben. Denn
diesem Aspekt kommt zwar hinsichtlich des Entstehens der Rückforderungsschuld
Bedeutung zu, indem es der Vertrauensschutz gebieten kann, bei Vorliegen
bestimmter Sachverhalte auf eine Rückforderung zu verzichten (vgl. Kieser,
ATSG-Kommentar, 2. Aufl., N. 16 zu Art. 25 ATSG mit Hinweis auf BGE 118 V 214
und SVR 1995 IV Nr. 58 S. 165, I 151/94). Bei der erst in einem zweiten Schritt
zu prüfenden und vorliegend einzig noch streitigen Frage des Erlasses ist
demgegenüber (unter anderem) der gute Glauben beim Leistungsempfänger
massgebend (vgl. ARV 2006 S. 158, C 80/05; Urteil C 264/05 vom 25. Januar 2006
E. 2.1).

2.4 Wenn das kantonale Gericht - wie im vorliegenden Fall - nach Androhung
einer reformatio in peius die von der Verwaltung zugesprochene Rente reduziert
oder aufhebt, muss die versicherte Person ab Eröffnung des kantonalen, in peius
reformierenden Entscheides damit rechnen, dass sie die ihr während des
Beschwerdeverfahrens vor dem Bundesgericht weiterhin ausgerichtete Rente bei
Abweisung des Rechtsmittels zurückzuerstatten hat; mit anderen Worten ist ab
diesem Zeitpunkt der gute Glaube zu verneinen. Wie das Bundesgericht bereits im
Urteil I 422/02 vom 25. November 2002 (E. 3) ausgeführt hat, verhält es sich
gleich wie wenn eine versicherte Person gegen den von der IV-Stelle in der
Rentenaufhebungsverfügung angeordneten Entzug der aufschiebenden Wirkung
erfolgreich Beschwerde führt, indem die versicherte Person diesfalls von
vornherein mit einer Rückforderung rechnen muss und sich deshalb trotz
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde nicht auf ihren
guten Glauben berufen kann (vgl. AHI 2000 S. 181, I 267/98 E. 5; BGE 105 V 266
E. 3 S. 269). Bis zur Eröffnung des kantonalen Entscheides indessen fehlt der
versicherten Person in derartigen Konstellationen, in welchen eine
Meldepflichtverletzung nicht vorliegt, regelmässig das Unrechtsbewusstsein und
steht einer Berufung auf den guten Glauben nichts im Wege.

2.5 Ist die erste Erlassvoraussetzung des gutgläubigen Leistungsbezugs bis zur
Eröffnung des kantonalen Entscheides zu bejahen, stellt sich die Frage nach dem
Vorliegen einer grossen Härte (vgl. dazu Art. 5 ATSV). Für deren Beantwortung
sind die Verhältnisse im Zeitpunkt, in welchem über die Rückforderung
rechtskräftig entschieden wurde, massgebend (Art. 4 Abs. 2 ATSV). Im
angefochtenen Entscheid bestand kein Anlass, dazu Feststellungen zu treffen.
Weil sich die hierfür gemäss Art. 5 Abs. 1 ATSV relevanten, vom Bundesgesetz
über die Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und
Invalidenversicherung (ELG) anerkannten Ausgaben und die zusätzlichen Ausgaben
nach Art. 5 Abs. 4 ATSV und die nach ELG anrechenbaren Einnahmen aufgrund der
vorliegenden Akten nicht zuverlässig ermitteln lassen, ist die Sache an die
Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie die erforderlichen Abklärungen treffe und
anschliessend über den Erlass der Rückerstattungsschuld unter Berücksichtigung
des in E. 2.4 Ausgeführten entscheide.

3.
Die unterliegende Beschwerdegegnerin trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1
BGG). Die Beschwerdeführerin hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68
Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung,
vom 1. September 2008 aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen
wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über die
Beschwerde neu entscheide.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2000.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse Berner Arbeitgeber
(AKBA) und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 13. März 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Keel Baumann