Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 7/2008
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

9C_7/2008 {T 0/2}

Urteil vom 18. September 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Parteien
D.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch die Schweizerischen Bundesbahnen SBB,
Zentralbereich Personal, Sozialversicherungen, Mittelstrasse 43, 3000 Bern 65,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
20. November 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1947 geborene D.________ war als Spezialhandwerker in einer SBB-Werkstätte
tätig. Am 17. August 2001 erlitt er bei der Arbeit eine Quetschverletzung der
linken Hand. Mit Verfügung vom 2. September 2003 sprach ihm die SUVA bei einer
Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit von 30 % ab 1. Oktober 2003 eine
Invalidenrente und wegen einer Integritätseinbusse von 10 % eine
Integritätsentschädigung zu. Die hiegegen erhobene Einsprache wies sie mit
Entscheid vom 19. November 2004 ab. Dieser erwuchs in Rechtskraft.

Am 6. Juni 2003 meldete sich D.________ bei der IV-Stelle des Kantons Aargau
zum Bezug von Leistungen an. Diese holte die SUVA-Akten, verschiedene Arzt-
sowie zwei Arbeitgeberberichte ein. Mit Verfügung vom 28. April 2006 und
Einspracheentscheid vom 28. Juni 2007 verneinte sie den Anspruch auf eine
Invalidenrente.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 20. November 2007 ab.

C.
D.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt Rückweisung der Sache zur Zusprechung einer ganzen Rente ab 1. August
2002.

Vorinstanz, Verwaltung und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105
Abs. 2 BGG; vgl. BGE 132 V 393 zur auch unter der Herrschaft des BGG gültigen
Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen im Bereich der Invaliditätsbemessung [Art.
16 ATSG] für die Ermittlung des Invaliditätsgrades nach Art. 28 Abs. 1 IVG).

2.
Im angefochtenen Entscheid werden die Bestimmungen (in der bis Ende Dezember
2007 gültigen Fassung) über den Begriff der Invalidität (Art. 8 ATSG, Art. 4
IVG), die Voraussetzungen für einen Rentenanspruch und dessen Umfang (Art. 28
Abs. 1 IVG), die Ermittlung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen
Versicherten nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28
Abs. 2 IVG, Art. 16 ATSG) sowie die dazu ergangene Rechtsprechung zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
Es ist unbestritten, dass der am 17. August 2001 verunfallte Beschwerdeführer
bis August 2002 ohne wesentlichen Unterbruch (von mindestens 30 aufeinander
folgenden Tagen voller Arbeitsfähigkeit) durchschnittlich mindestens zu 40
Prozent arbeitsunfähig gewesen war und somit die Wartezeit auf den
Leistungsanspruch absolvierte (Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG i.V.m. Art. 29ter
IVV); damit konnte bei Erfüllung weiterer Voraussetzungen frühestens ab 1.
August 2002 ein Rentenanspruch entstehen (Art. 29 Abs. 2 IVG).

4.
Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe nicht berücksichtigt, dass er
nach Ablauf des Wartejahres (am 17. August 2002 und nicht wie im kantonalen
Entscheid sinngemäss erwogen am 20. August 2002) weiterhin zu mindestens 40 %
arbeitsunfähig gewesen sei. Diese vorinstanzliche Feststellung über eine
Tatfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397) ist für das Bundesgericht verbindlich,
sofern sie nicht offensichtlich unrichtig ist (Art. 105 Abs. 1 und Abs. 2 BGG),
was vorliegend der Fall ist: Die vorinstanzliche Feststellung, die
Arbeitsunfähigkeit im August 2002 sei ausschliesslich auf unfallbedingte Leiden
zurückzuführen (und habe lediglich 25 % betragen), ist nach den Akten nicht zu
halten. In den Berichten des Spitals L.________ vom 4. Juli und 20. August 2002
wurden eine (nicht auf den Unfall zurückzuführende) Osteonekrose des medialen
Femurkondylus und eine Adipositas permagna diagnostiziert. In der
Zwischenanamnese war angegeben, der Patient habe seit einer Woche die Stöcke
wieder weggelassen. Es wurde ihm vom 3. Juli bis zum 26. August 2002 eine volle
Arbeitsunfähigkeit und anschliessend für einen Arbeitsversuch eine
Arbeitsfähigkeit von 50 % attestiert, was die Vorinstanz übrigens in anderem
Zusammenhang selber feststellt. Somit bestand bei Ablauf des Wartejahres eine
mehr als 40-prozentige Arbeitsunfähigkeit.

5.
Die vorinstanzliche Feststellung, der Invaliditätsbegriff der
Invalidenversicherung stimme mit demjenigen in der obligatorischen
Unfallversicherung grundsätzlich überein, ist dahingehend zu präzisieren, dass
mit dem In-Kraft-Treten von Art. 8 ATSG der Invaliditätsbegriff
positivrechtlich für beide Versicherungszweige identisch definiert ist. Jedoch
unterscheidet die Invalidenversicherung als final konzipierte Versicherung
nicht zwischen krankheits- oder unfallbedingter Invalidität, die
Unfallversicherung berücksichtigt aber nur die unfallbedingte Invalidität. Dies
verkennt die Vorinstanz mit dem Hinweis, das Abweichen von bereits
rechtskräftigen Invaliditätsbemessungen anderer Versicherer müsse die Ausnahme
bleiben und sei nur bei Vorliegen von streng zu prüfenden Voraussetzungen und
mit gebotener Zurückhaltung zu bejahen. Damit schränkt sie den
invalidenversicherungsrechtlich relevanten Sachverhalt in unzulässiger Weise
ein, wenn sie für die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit während und nach
Ablauf des Wartejahres alleine auf die Angaben der SUVA abstützt; denn diese
berücksichtigt nur unfallkausale Elemente; es sind aber zusätzlich durch
Krankheit bedingte Beschwerden diagnostiziert (vgl. unten E. 6).

6.
Wie die Vorinstanz zu Recht darlegt, genügen die im Verfahren der
Invalidenversicherung erhobenen medizinischen Berichte den beweisrechtlichen
Anforderungen nicht. Es trifft zu, dass der Arzt des Regionalen Ärztlichen
Dienstes (RAD) für seine Aussage, es lägen keine unfallfremden Leiden vor,
welche die unfallbedingt eingeschränkte Arbeitsfähigkeit zusätzlich herabsetzen
würden, eine medizinische Begründung schuldig geblieben ist. Für die Vorinstanz
ergibt sich eine solche jedoch aus den Berichten des Hausarztes Dr. med.
B.________, Facharzt FMH für Innere Medizin. Diese nehmen aber auf
ausdrückliche Vorgabe der IV-Stelle nur zu den unfallfremden Leiden Stellung.
Dabei gibt Dr. med. B.________ im Bericht vom 15. September 2003 eine
Verminderung der Leistungsfähigkeit von 30 %, im Bericht vom 3. Juni 2005 dann
aber eine Einschränkung von 50 % an. Wie die Vorinstanz zutreffend anführt,
fehlt jedoch eine differenzierte Begründung für diese Einschätzung. Die
konkreten Auswirkungen der einzelnen diagnostizierten Leiden auf die
Arbeitsfähigkeit werden nicht dargelegt und die Berichte sind daher in Bezug
auf die Arbeitsfähigkeit nicht schlüssig, wie das kantonale Gericht mit Recht
feststellt. Es verweist deshalb für die medizinische Begründung der vom
Hausarzt festgestellten Arbeitsfähigkeit weiter auf die Berichte des Orthopäden
Dr. med. H.________, Facharzt FMH für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie
des Bewegungsapparates im Spital L.________, vom 28. Juni, 4. Juli, 20. August,
23. September und 2. Dezember 2002. Diese Verknüpfung der Berichte des RAD, des
Haus- und des Spezialarztes ist problematisch; denn keiner der erwähnten
Berichte erfüllt für sich allein die rechtsprechungsgemässen Anforderungen an
eine beweiskräftige medizinische Stellungnahme (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352).
Sodann hat die IV-Stelle bisher keine Gesamtbeurteilung der aus unfallkausalen
sowie unfallfremden Leiden resultierenden Arbeitsunfähigkeit vorgenommen. Der
rechtserhebliche Sachverhalt, wie er sich bis zum Einspracheentscheid am 28.
Juni 2007 entwickelt hat, ist weder vollständig noch mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit festgestellt.

7.
Aus den erwähnten Berichten ergeben sich im Gegenteil Anhaltspunkte für eine
zusätzliche Leistungseinschränkung auf Grund unfallfremder Leiden, dies
zumindest für eine gewisse Zeit nach Ablauf des Wartejahres und damit des
grundsätzlichen Entstehens eines Leistungsanspruches auf den 1. August 2002.
Unter diesen Umständen waren IV-Stelle und Vorinstanz auf Grund des
Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG) gehalten,
weitere Abklärungen vorzunehmen; denn es konnte noch nicht mit der für eine
antizipierte Beweiswürdigung vorauszusetzenden Verlässlichkeit ausgeschlossen
werden, dass daraus zusätzliche relevante Erkenntnisse resultieren könnten. Die
Sache ist folglich zur medizinisch erforderlichen Begutachtung an die
Verwaltung zurückzuweisen, welche nach deren Durchführung über den
Rentenanspruch neu verfügen wird.

8.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons Aargau vom 20. November 2007 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle
des Kantons Aargau vom 28. Juni 2007 werden aufgehoben. Die Sache wird an die
IV-Stelle des Kantons Aargau zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen
verfahre.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an
das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. September 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz