Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 782/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_782/2008, 9C_790/2008

Urteil vom 4. März 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Ettlin.

Parteien
9C_782/2008
Bundesamt für Sozialversicherungen,
Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,

und

9C_790/2008
IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel,
Beschwerdeführerin,

gegen

R.________, Brüglingerstrasse 5, 4053 Basel,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Advokat Erich Züblin, Spalenberg 20, 4051
Basel,

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerden gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom
16. Juli 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1948 geborene R.________ meldete sich am 6. November 2003 zum
Leistungsbezug bei der IV-Stelle Basel-Stadt an, welche nach Beizug
medizinischer und beruflicher Unterlagen eine psychiatrische Begutachtung
veranlasste (Expertise vom 3. Juli 2006). Nach durchgeführtem
Vorbescheidverfahren verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 19. Oktober 2007
den Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung (Invaliditätsgrad 37,5
%).

B.
Die von R.________ hiegegen eingereichte Beschwerde hiess das
Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt mit Entscheid vom 16. Juli 2008 gut und
sprach ihr mit Wirkung ab 1. November 2003 eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung zu.

C.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) und die IV-Stelle Basel-Stadt
führen je Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragen,
die Verfügung vom 19. Oktober 2007 sei, unter Aufhebung des angefochtenen
Entscheids, zu bestätigen. Sodann sei den Beschwerden die aufschiebende Wirkung
zu erteilen.

Die Versicherte lässt die Abweisung der Beschwerden beantragen; eventualiter
sei die Sache zu ergänzender Abklärung an die Verwaltung zurückzuweisen. Das
Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt vernimmt sich im abweisenden Sinne.

D.
Mit Verfügung vom 1. Dezember 2008 hat der Instruktionsrichter die
aufschiebende Wirkung der Beschwerden angeordnet.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerden 9C_782/2008 und 9C_790/2008 richten sich gegen denselben
letztinstanzlichen kantonalen Entscheid und betreffen den gleichen
Streitgegenstand. Es rechtfertigt sich daher, die Verfahren zu vereinigen und
in einem gemeinsamen Urteil zu erledigen (vgl. BGE 128 V 124 E. 1 S. 126 und
192 E. 1 S. 194, je mit Hinweisen; Urteil 9C_734/2007 vom 1. April 2008 E. 1).

1.2 Auf den Eventualantrag der Beschwerdegegnerin, die Sache sei zu weiterer
Abklärung an die Verwaltung zurückzuweisen, kann nicht eingetreten werden, da
das Bundesgerichtsgesetz das Institut der Anschlussbeschwerde nicht kennt und
die Beschwerdegegnerin nicht selbstständig Beschwerde erhoben hat (ULRICH
MEYER, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2008, N. 4 zu Art. 102 BGG).

2.
2.1 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff.
BGG) kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a
BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Artikel 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt
seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es
kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen
oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

2.2 Gemäss Art. 16 ATSG wird für die Bestimmung des Invaliditätsgrades das
Erwerbseinkommen, das die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität und
nach Durchführung der medizinischen Behandlung und allfälliger
Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener
Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen,
das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre. Sodann sieht
Art. 28 Abs. 1 IVG (in der bis zum 31. Dezember 2007 gültig gewesenen Fassung)
vor, dass bei einem Invaliditätsgrad von 40 % ein Anspruch auf eine
Viertelsrente der Invalidenversicherung besteht. Nach Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG
(in der bis zum 31. Dezember 2007 gültig gewesenen Fassung) entsteht der
Anspruch auf eine Invalidenrente, wenn der Versicherte während eines Jahres
ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens zu 40 % arbeitsunfähig
gewesen war.

3.
Streitig und zu prüfen ist die Höhe des Invaliditätsgrades, wobei BSV und
IV-Stelle die im angefochtenen Entscheid mit der Begründung eines
unterdurchschnittlichen Valideneinkommens vorgenommene Herabsetzung des
Invalidenlohnes um 2 % als rechtlich falsch rügen. Im Weiteren schliessen sie
mit Bezug auf die Gewährung eines behinderungsbedingten Abzuges von 5 % durch
das kantonale Gericht auf einen Rechtsfehler.

4.
4.1 Im Rahmen der Invaliditätsbemessung betrifft die Feststellung des
Gesundheitsschadens, d.h. die Befunderhebung und die gestützt darauf gestellte
Diagnose, ebenso eine Tatfrage wie die aufgrund von medizinischen
Untersuchungen gerichtlich festgestellte Arbeitsunfähigkeit (BGE 132 V 393 E.
3.2 S. 398). Demgegenüber charakterisieren sich auf der beruflich-erwerblichen
Stufe der Invaliditätsbemessung als Rechtsfragen die gesetzlichen und
rechtsprechungsgemässen Regeln über die Durchführung des Einkommensvergleichs
(BGE 130 V 343 E. 3.4 S. 348 f.; 128 V 29 E. 1 S. 30 f.; 104 V 135 E. 2a und b
S. 136 f.), einschliesslich derjenigen über die Anwendung der Schweizerischen
Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik (LSE; BGE 129 V 472 E. 4.2.1
S. 475 f.; 126 V 75 E. 3b/bb S. 76 f.; 124 V 321 E. 3b/aa S. 322 f.). Die
Bestimmung der beiden für den Einkommensvergleich erforderlichen hypothetischen
Vergleichseinkommen stellt sich als Tatfrage dar, soweit sie auf konkreter
Beweiswürdigung beruht, hingegen als Rechtsfrage, soweit sich der Entscheid
nach der allgemeinen Lebenserfahrung richtet. Letztes betrifft etwa die Frage,
ob Tabellenlöhne anwendbar sind, welches die massgebliche Tabelle ist und ob
ein behinderungsbedingt oder anderweitig begründeter Leidensabzug vorzunehmen
sei. Die Frage nach der Höhe eines in einem konkreten Fall grundsätzlich
angezeigten leidensbedingten Abzuges ist schliesslich eine typische
Ermessensfrage, deren Beantwortung letztinstanzlicher Korrektur nur mehr dort
zugänglich ist, wo das kantonale Gericht sein Ermessen rechtsfehlerhaft
ausgeübt hat (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399).

4.2 Das kantonale Gericht stellte nicht offensichtlich unrichtig und daher für
das Bundesgericht verbindlich ein Valideneinkommen von Fr. 47'499.- fest (Art.
97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 1 BGG), wobei es den im Jahr 2002 in der
angestammten Tätigkeit der Raumpflegerin erzielten Lohn von Fr. 46'844.- um die
Nominallohnentwicklung des Jahres 2002 anhob. Den Ablauf der Wartezeit gemäss
Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG verlegte es mithin auf das Jahr 2003. Anhand eines
Vergleichs des Validenlohnes mit dem sich aus der LSE 2002, Tabelle TA1, Total,
Frauen, Anforderungsniveau 4, ergebenden und die Lohnentwicklung 2002
einbeziehenden Betrages von Fr. 48'457.- schloss die Vorinstanz auf ein um 2 %
unterdurchschnittliches Valideneinkommen, welche Differenz sie mit der
Herabsetzung des Invalidenlohnes berücksichtigte.
4.2.1 Bezog eine versicherte Person aus invaliditätsfremden Gründen (z.B.
geringe Schulbildung, fehlende berufliche Ausbildung, mangelnde
Deutschkenntnisse) ein deutlich unterdurchschnittliches Einkommen, ist diesem
Umstand bei der Invaliditätsbemessung nach Art. 16 ATSG Rechnung zu tragen,
sofern keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie sich aus freien Stücken mit
einem bescheideneren Einkommensniveau begnügen wollte (BGE 125 V 146 E. 5c/bb
S. 157 mit Hinweisen). Nur dadurch ist der Grundsatz gewahrt, dass die auf
invaliditätsfremde Gesichtspunkte zurückzuführenden Lohneinbussen entweder
überhaupt nicht oder aber bei beiden Vergleichseinkommen gleichmässig zu
berücksichtigen sind (BGE 129 V 222 E. 4.4 S. 225). Diese Parallelisierung der
Einkommen kann praxisgemäss entweder auf Seiten des Valideneinkommens durch
eine entsprechende Heraufsetzung des effektiv erzielten Einkommens oder durch
Abstellen auf die statistischen Werte (vgl. Urteil I 697/05 vom 9. März 2007,
in: SVR 2008 IV Nr. 2 S. 3 und Urteil I 750/04 vom 5. April 2006 E. 5.5) oder
aber auf Seiten des Invalideneinkommens durch eine entsprechende Herabsetzung
des statistischen Wertes (vgl. Urteil U 454/05 vom 6. September 2006 E. 6.3.3
mit Hinweisen) erfolgen (zum Ganzen BGE 134 V 322 E. 4.1 S. 325 f.).
4.2.2 Auch nach der mit BGE 134 V 322 präzisierten Rechtsprechung führt nicht
jedes im Vergleich zum jeweiligen statistischen Lohn tiefere Valideneinkommen
zu einer Parallelisierung der Einkommen mittels Anhebung des Validen- oder
Reduktion des Invalidenlohnes um den Unterschied. Vielmehr bedarf es weiterhin
einer deutlichen Unterdurchschnittlichkeit. Die Klarstellung im genannten
Urteil bezog sich allein auf die Hervorhebung der Unterscheidung zwischen
leidensbedingtem Abzug und Korrektur der Vergleichseinkommen durch
Parallelisierung (BGE 134 V 322 E. 4.1 S. 325 und E. 6.2 S. 329).
4.2.3 Eine Differenz von 2 % zwischen hypothetischem Valideneinkommen und
statistischem Lohn liegt im Rahmen üblicher Streuungen und Schwankungen der
Löhne. Die Erfahrung zeigt, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wegen eines
so geringen Lohnunterschiedes die Arbeitsstelle nicht wechseln; Mindereinkommen
dieser Grössenordnung werden in Kauf genommen. Die Berufung der
Beschwerdegegnerin auf den Rechtsgleichheitsgrundsatz dringt mangels
Erheblichkeit nicht durch. Von einem deutlich unterdurchschnittlichen Lohn als
Voraussetzung für eine Parallelisierung der Einkommen kann nicht die Rede sein
(BGE 134 V 322 E. 4.1 S. 325 und E. 6.2 S. 329). Indem das kantonale Gericht
die Lohndifferenz von 2 % zum Anlass nahm, den Invalidenlohn um eben dieses
Mass herabzusetzen, hat es Bundesrecht verletzt (vgl. Urteil 9C_404/2007 vom
11. April 2008 E. 2.3, in: SVR 2008 IV Nr. 49 S. 163).

5.
5.1 Die Vorinstanz erkannte auf der Basis der Leistungsfähigkeitsschätzung des
Dr. med. A.________, Facharzt für Angiologie, vom 29. Mai 2007 und der von Dr.
med. B.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, erstellten
Expertise vom 3. Juli 2006 nicht offensichtlich unrichtig ein noch zumutbares
wöchentliches Arbeitspensum von 32,5 Std. sowie eine zusätzliche
Leistungsbeeinträchtigung von 20 % und ermittelte einen Lohn von Fr. 29'616.-
(inkl. Abzug von 2 %, vgl. E. 4.2.3). Dabei stützte sie sich gleich wie bei der
Feststellung der Unterdurchschnittlichkeit des Valideneinkommens auf die LSE
2002, Tabelle TA 1, Total, Frauen, Anforderungsniveau 4, und reduzierte den
nach Berücksichtigung der Lohnentwicklung für 2002 errechneten Jahreslohn von
Fr. 48'457.- (vgl. E. 4.2) gemäss den ärztlichen Leistungsvorgaben, was unter
dem Gesichtswinkel der gesetzlichen Kognition zu keiner Beanstandung Anlass
gibt (Art. 97 Abs. 1 BGG). Aufgrund des in Erwägung 4 hievor Dargelegten
entfällt unter dem Titel des unterdurchschnittlichen Valideneinkommens hingegen
eine Herabsetzung des Invalidenlohnes um 2 %, womit Letzter auf Fr. 30'286.- zu
liegen kommt.

5.2 Wie es sich mit dem von BSV und IV-Stelle beanstandeten leidensbedingten
Abzug von 5 % verhält, kann offen bleiben; selbst wenn dieser mit kantonalem
Gericht zugestanden wird, erreicht der Invaliditätsgrad bei einem Validenlohn
von Fr. 47'499.- (E. 4.2) und einem Invalideneinkommen von Fr. 28'771.- mit
39,43 % bzw. abgerundet 39 % (BGE 130 V 121) das leistungsbegründende Mass von
40 % nicht. Damit sind die Beschwerden begründet.

6.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verfahren 9C_782/2008 und 9C_790/2008 werden vereinigt.

2.
Die Beschwerden werden gutgeheissen und der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom 16. Juli 2008 wird aufgehoben.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 4. März 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Ettlin