Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 754/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_754/2008

Urteil vom 15. Mai 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Parteien
A.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsdienst Integration Handicap,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 11. Juli 2008.

Sachverhalt:

A.
A.a A.________ wurde 1972 in Kolumbien geboren und reiste 1981 zur Adoption in
die Schweiz ein. Von Mai 1982 bis Juni 1989 besuchte er die Kleinklasse im
Schulheim C.________. Ab August 1989 absolvierte er in der Ausbildungsstätte
D.________ die Schreiner-Anlehre (nach der Einbürgerung 1990 im Rahmen einer
Eingliederungsmassnahme der Invalidenversicherung). Im August 1992 trat
A.________ eine Stelle als Hilfsschreiner in der Möbelfabrik E.________ AG an.
Mit Verfügung vom 10. September 1992 sprach ihm die Ausgleichskasse des Kantons
Bern ab 1. August 1992 bei einem Invaliditätsgrad von 42 % eine Viertelsrente
zu; mit Verfügung vom 8. Februar 1993 hob sie diese auf Ende März 1993 auf,
weil der Versicherte ab 1. Januar 1993 ein höheres Einkommen erzielte.
Mit Schreiben vom 3. Februar 2000 wurde A.________ die Stelle in der
Möbelfabrik fristlos auf Ende Januar 2000 gekündigt. Im IV-Fragebogen für den
Arbeitgeber (vom 10. Januar 2003) wurden als Gründe für die Entlassung
"psychische Probleme" und "Arbeitsverweigerung" angegeben. A.________ arbeitete
danach als Officemitarbeiter bei der M.________ AG (vom 1. bis 30. November
2001) und dann in befristeter Anstellung als Betriebsmitarbeiter in der
Abwaschküche des Betriebes U.________ (vom 11. März bis 31. Mai 2002 mit vollem
Pensum und vom 29. Oktober 2002 bis 7. Februar 2003 drei Stunden täglich).
A.b Am 13. Dezember 2002 stellte A.________ Antrag auf Ausrichtung einer
Invalidenrente. Die IV-Stelle Bern lehnte dies mit Verfügung vom 16. April 2003
ab, weil eine Invalidität nicht ausgewiesen sei. Mit Einspracheentscheid vom
17. November 2003 beschloss sie weitere Abklärungen. Sie beauftragte Dr. phil.
S.________, Neuropsychologie und Psychotherapie FSP, mit einer
neuropsychologischen Untersuchung und Beurteilung (Gutachten und Ergänzung vom
15. März 2004 und 11. Mai 2004).
A.c Mit Verfügung vom 19. Mai 2004 wies die IV-Stelle das Leistungsbegehren bei
einem Invaliditätsgrad von 20 % erneut ab, beschloss jedoch mit
Einspracheentscheid vom 10. August 2004 weitere Abklärungen über die berufliche
Kompetenz und Eingliederungsmassnahmen.
A.d Vom 4. Juli 2005 bis 3. Oktober 2005 fand in der Stiftung G.________ eine
berufliche Abklärung statt. Aufgrund einer Empfehlung der Stiftung G.________
und auf entsprechenden Antrag der IV-Abteilung für berufliche Eingliederung
schloss sich ein 3-monatiges Arbeitstraining mit externem Praktikum in der
Kantine des Pflegezentrums I.________ an (Berichte Stiftung G.________ vom 14.
September 2005 und 15. Dezember 2005). Am 6. Februar 2006 trat A.________ in
der Arbeits- und Wohngemeinschaft K.________ eine 70 %-Stelle mit Wirkungsfeld
"Reinigungsarbeiten in und ums Haus, Abwaschen und Mitarbeit beim Kochen" an.
Die IV-Stelle ermittelte nun einen Invaliditätsgrad von 32 % und wies das
Rentenbegehren mit Verfügung vom 7. April 2006 und Einspracheentscheid vom 25.
April 2007 erneut ab.

B.
Die von A.________ erhobene Beschwerde mit dem Antrag auf Rückweisung der Sache
zur Vornahme medizinischer Abklärungen und zum Neuentscheid über den
Rentenanspruch wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom
11. Juli 2008 ab.

C.
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
ersucht um Aufhebung des angefochtenen Entscheids und Zusprechung einer ganzen
Invalidenrente ab Dezember 2001; ferner beantragt er die unentgeltliche
Rechtspflege.
Die Verwaltung schliesst auf Abweisung der Beschwerde; Vorinstanz und Bundesamt
für Sozialversicherungen verzichten auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht, wozu auch
die unvollständige Tatsachenermittlung zählt.

2.
Streitig ist der Anspruch auf eine Invalidenrente. Das kantonale Gericht hat
die zur Beurteilung einschlägigen Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt.

3.
Es steht fest, dass der Beschwerdeführer nicht an einem körperlichen Gebrechen
leidet; umstritten ist, ob ein eingeschränktes geistiges Leistungsvermögen die
Arbeits- und Erwerbsfähigkeit in einer für den Rentenanspruch erheblichen Weise
beeinträchtigt.

3.1 Die Vorinstanz verneint dies mit der Begründung, die festgestellte
Leistungsschwäche habe keinen Krankheitswert. Sie stützt sich auf den Experten
Dr. phil. S.________, der beim Beschwerdeführer eine leichte
Intelligenzminderung diagnostizierte und die Leistungsfähigkeit auf 80-90 %
(bei einem 100 %-Pensum) festlegte, wobei er zunächst bemerkte, ein solcher
Arbeitsplatz könne nur in geschütztem Rahmen realisiert werden. Nach der
Intervention des IV-Stellen-Arztes, wonach die Leistungsschwäche die Folge
soziokultureller Umstände sei, relativierte Dr. phil. S.________ seine
ursprüngliche Aussage und räumte ein, es seien hier nicht zu berücksichtigende
Gründe (mangelhafte Sprachkenntnisse; schlechte Integration), die einen
geschützten Arbeitsplatz indizierten.

3.2 Der Beschwerdeführer hält dagegen, er sei in seiner Leistungsfähigkeit
keineswegs durch invaliditätsfremde Gründe eingeschränkt, da er seit dem 10.
Altersjahr in der Schweiz lebe und hier integriert sei; wenn er trotzdem nicht
in der Lage sei, einen Test in deutscher Sprache zu absolvieren, müsse dies mit
krankheitswertigen Beeinträchtigungen zu tun haben. In der Tat ist die Sachlage
unklar. Zwar liegt mit den beiden Berichten der Stiftung G.________ die gemäss
Rz. 1011 des Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit [KSIH]
erforderliche objektive Beschreibung der Auswirkungen der Intelligenzminderung
des Versicherten auf sein Verhalten, auf die berufliche Tätigkeit, die normalen
Tätigkeiten des täglichen Lebens und das soziale Umfeld vor (vgl. Urteil I 775/
06 vom 14. August 2007, E. 5.2). Die eingeschränkte geistig-psychische
Leistungsfähigkeit ist jedoch medizinisch nicht genügend abgeklärt. Angesichts
der in früher Kindes- und Jugendzeit erlittenen traumatisierenden Erlebnisse
und den offensichtlich eingeschränkten psychischen Ressourcen in Verbindung mit
der aktenmässig belegten Tatsache, dass der Beschwerdeführer nach erfolgter
beruflicher Eingliederung in der Arbeitswelt mit den Anforderungen nur knapp
Schritt halten konnte, haben Verwaltung und Vorinstanz durch die Unterlassung
der Einholung eines psychiatrischen Fachgutachtens den Sachverhalt
unvollständig festgestellt (E. 1). Die Sicht des IV-Arztes, der
Beschwerdeführer habe mit der Störung sieben Jahre gut gearbeitet, lässt ausser
Acht, dass es bei dieser Anstellung immer wieder zu kritischen Situationen kam
und dass an deren Ende die Entlassung wegen psychischer Probleme und
Arbeitsverweigerung stand. In allen späteren Anstellungen hat er jeweils von
Beginn weg oder nach kurzer Zeit das Pensum reduziert oder reduzieren müssen,
wobei nicht geklärt ist, wieweit dafür gesundheitliche Gründe verantwortlich
sind. Die Sache ist zur Einholung eines unabhängigen psychiatrischen
Administrativgutachtens an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer die
Parteikosten zu ersetzen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Dessen Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege ist demzufolge gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung,
vom 11. Juli 2008 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle Bern vom 25. April
2008 aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen wird,
damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den
Rentenanspruch neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 15. Mai 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz