Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 745/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_745/2008

Urteil vom 2. Dezember 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Kernen,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Parteien
N.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsdienst Integration Handicap,
Schützenweg 10, 3014 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 21.
Juli 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1989 geborene N.________ wurde von ihrem Vater am 5. April 1991 wegen
Geburtsgebrechen (Hirnstammgliom und Neurofibromatose Typ I) bei der
Invalidenversicherung angemeldet. Die IV-Stelle Bern sprach ihr medizinische
und pädagogisch-therapeutische Massnahmen, Pflegebeiträge, Hilfsmittel und
Berufsberatung zu. Hingegen lehnte sie mit Verfügung vom 10. November 2006 den
von ihrem Berufsberater gestellten Antrag auf Übernahme der Kosten der vom 1.
August 2006 bis 31. Juli 2008 dauernden erstmaligen beruflichen Ausbildung
(Anlehre als hauswirtschaftliche Mitarbeiterin in der Stiftung X.________) ab.
Das dagegen eingeleitete Beschwerdeverfahren wurde als gegenstandslos
abgeschrieben, nachdem die Verwaltung die angefochtene Verfügung lite pendente
in Wiedererwägung gezogen hatte. Nach weiteren Abklärungen und Durchführung des
Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle den Anspruch mit Verfügung vom
27. Februar 2008 mangels eines invalidisierenden Gesundheitsschadens.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde der N.________ wies das Verwaltungsgericht des
Kantons Bern mit Entscheid vom 21. Juli 2008 ab.

C.
N.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 21.
Juli 2008 sei aufzuheben und die IV-Stelle zu verpflichten, Beiträge an die
erstmalige berufliche Ausbildung zu leisten.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das kantonale Gericht und
das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). Eine unvollständige
Sachverhaltsfeststellung stellt eine vom Bundesgericht ebenfalls zu
korrigierende Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 lit. a BGG dar (Seiler/von
Werdt/Güngerich, Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, Bern 20 N. 24 zu Art. 97
BGG).

2.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin wegen eines
Gesundheitsschadens für ihre Ausbildung zur hauswirtschaftlichen Mitarbeiterin
eines geschützten Rahmens bedurfte und sie bejahendenfalls grundsätzlich
Anspruch auf Übernahme der invaliditätsbedingten Mehrkosten im Zusammenhang mit
der bei der Stiftung X.________ vom 1. August 2006 bis 31. Juli 2008
absolvierten Anlehre hat.

3.
3.1 Versicherte, die noch nicht erwerbstätig waren und denen infolge
Invalidität bei der erstmaligen beruflichen Ausbildung in wesentlichem Umfange
zusätzliche Kosten entstehen, haben Anspruch auf Ersatz dieser Kosten, sofern
die Ausbildung den Fähigkeiten des Versicherten entspricht (Art. 16 Abs. 1
IVG).

Als erstmalige berufliche Ausbildung gilt jede Berufslehre oder Anlehre sowie,
nach Abschluss der Volks- oder Sonderschule, der Besuch einer Mittel-, Fach-
oder Hochschule und die berufliche Vorbereitung auf eine Hilfsarbeit oder auf
die Tätigkeit in einer geschützten Werkstätte (Art. 5 Abs. 1 IVV). Einem
Versicherten entstehen aus der erstmaligen beruflichen Ausbildung oder
Weiterbildung in wesentlichem Umfange zusätzliche Kosten, wenn seine
Aufwendungen für die Ausbildung wegen der Invalidität jährlich um 400 Franken
höher sind, als sie ohne Invalidität gewesen wären (Art. 5 Abs. 2 IVV). Die
zusätzlichen Kosten werden ermittelt, indem die Kosten der Ausbildung des
Invaliden den mutmasslichen Aufwendungen gegenübergestellt werden, die bei der
Ausbildung eines Gesunden zur Erreichung des gleichen beruflichen Zieles
notwendig wären (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 IVV).

3.2 Als invalid im Sinne von Art. 16 IVG gilt, wer aufgrund einer bleibenden
oder längere Zeit dauernden gesundheitlichen Beeinträchtigung (vgl. Art. 4 Abs.
1 IVG in Verbindung mit Art. 8 ATSG) bei der Ausbildung erhebliche Mehrkosten
(vgl. Art. 5 Abs. 2 IVV) auf sich nehmen muss (BGE 126 V 461 E. 1 S. 461; SVR
2008 IV Nr. 14 S. 41, I 659/06 E. 4.1). Die Frage nach der gesundheitlich
bedingten Notwendigkeit einer Massnahme hinsichtlich des beruflichen
Eingliederungsziels ist - wie jene nach den ausbildungsspezifischen Fähigkeiten
einer versicherten Person - prognostisch im Zeitpunkt vor Durchführung der
fraglichen Vorkehr zu beurteilen (vgl. Urteil 9C_796/2007 vom 20. Mai 2008 E.
3.2 mit Hinweisen).

Für die Beurteilung der Invalidität sind Verwaltung und Gerichte auf Unterlagen
angewiesen, die der Arzt und gegebenenfalls auch andere Fachleute zur Verfügung
zu stellen haben. Auch wenn eine erstmalige berufliche Ausbildung nach Art. 16
Abs. 1 IVG in Frage steht, hat der Arzt den Gesundheitszustand zu
diagnostizieren und zu dem sich daraus ergebenden Ausmass der Einschränkung
Stellung zu nehmen. Solche ärztliche Auskünfte sind auch dann erforderlich,
wenn die versicherte Person aus eigener Initiative einen Lehrgang begonnen hat
und dafür die Invalidenversicherung in Anspruch nehmen will (nicht
veröffentlichtes Urteil des EVG vom 4. Oktober 1993 [I 51/93] E. 1c).

4.
4.1 Gestützt auf den neuropsychologischen Bericht des Dr. phil. A.________ vom
5. März 2007 und den Untersuchungsbericht der Frau Dr. med. G.________
(Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie) vom 1. Mai 2007 ist die
Vorinstanz der Auffassung, die Versicherte sei nicht darauf angewiesen, ihre
Ausbildung im geschützten Rahmen absolvieren zu können. Die gesundheitlichen
Einschränkungen (Verlangsamung, Schwäche der rechten Hand, Sprachstörung,
motorische Beeinträchtigungen) sowie die aspontane und zurückhaltende Art der
Beschwerdeführerin erschwerten die Lehrstellensuche zweifellos. Ein
Eingliederungsbedarf werde dadurch jedoch nicht begründet.

4.2 Frau Dr. med. G.________ hielt - unter Berücksichtigung der Ergebnisse der
Untersuchungen des Dr. phil A.________ - im Bericht vom 1. Mai 2007 fest, eine
psychiatrische Diagnose im Sinne des ICD-10 mit Auswirkung auf die
Arbeitsfähigkeit habe nicht gestellt werden können; im neurokognitiven Bereich
erreiche die Versicherte bei einem IQ von 93 das Niveau einer Realschülerin.
Dies spricht jedoch nicht gegen die Annahme, es sei aus gesundheitlichen
Gründen erforderlich, die Ausbildung im geschützten Rahmen der Stiftung
X.________ zu absolvieren (vgl. ZAK 1982 S. 457 f. E. 1c, in dem das Eidg.
Versicherungsgericht den Anspruch auf erstmalige berufliche Ausbildung bei
einem IQ bis 89 bejahte).
4.2.1 Es steht fest und ist unbestritten, dass bei der Beschwerdeführerin
Geburtsgebrechen diagnostiziert wurden und sie infolgedessen an einem
motorischen Hemisyndrom mit daraus resultierender Verlangsamung und einer
Sprachstörung leidet. Damit liegen in körperlicher Hinsicht bleibende und
schwerwiegendere gesundheitliche Beeinträchtigungen vor, die grundsätzlich
geeignet sind, die Beschwerdeführerin in ihrer Ausbildungs- und
Erwerbsfähigkeit zu beeinträchtigen.
4.2.2 In rechtlicher Hinsicht übersieht die Vorinstanz, dass sich die
Notwendigkeit der streitigen Massnahme nicht nur aus dem gesundheitlichen
Status ergibt, sondern dass sie in Verbindung mit den gestiegenen Anforderungen
des heutzutage bestehenden ausgeglichenen Ausbildungsmarktes zu beurteilen ist.
In dieser Hinsicht hat die Vorinstanz weder die bei den Akten liegenden
Unterlagen gewürdigt noch entsprechende Feststellungen getroffen. Immerhin
bejahten nebst dem Berufsberater der Invalidenversicherung (Antrag vom 22.
November 2005, interne Mitteilung vom 16. Januar 2006) und den Fachpersonen der
Stiftung X.________ (Bericht vom 5. Dezember 2005 und Nachtrag in undatiertem
Schreiben an den Rechtsdienst für Behinderte, Bericht vom 25. April 2007) auch
der Klassenlehrer im 10. Schuljahr der Berufsfachschule Y.________ (Bericht vom
10. August 2006) die Erforderlichkeit eines geschützten Ausbildungsplatzes,
während die Arbeitsbestätigung vom 22. Mai 2006 über ein vier Wochen dauerndes
Haushalt-Praktikum die Schwierigkeiten der Versicherten bei einer regulären
Berufsausbildung illustriert. Die fehlenden vorinstanzlichen
Sachverhaltsfeststellungen lassen sich auf Grund des Dossiers von Amtes wegen
ergänzen (Art. 105 Abs. 2 BGG): Die aus den Vorakten klar hervorgehenden
vielfachen und erheblichen Behinderungen der Beschwerdeführerin - u.a. ein
Status nach durchgemachter Hirntumoroperation im Kleinkindalter mit
nachfolgender Halbseitensymptomatik, eine leichte psychomotorische
Verlangsamung, eine Einschränkung der rohen Kraft der rechten oberen
Extremitäten, eine Beeinträchtigung der Feinmotorik der rechten Hand, eine
diskrete Gangstörung, eine Sprachstörung - beeinträchtigen die für die
Beschwerdeführerin nach ihren persönlichen Verhältnissen in Betracht fallenden
Ausbildungs- und Erwerbsmöglichkeiten in offensichtlicher, aktenmässig klar
belegter Weise. Die gegenteilig lautenden medizinischen Berichte vermögen
hieran nichts zu ändern. Der Anspruch auf berufliche Massnahmen ist im
Grundsatz ausgewiesen; die Beschwerdeführerin hat Anspruch auf Übernahme der
invaliditätsbedingten Mehrkosten im Zusammenhang mit der in der Stiftung
X.________ absolvierten Lehre.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine
Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs.2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern vom 21. Juli 2008 und die Verfügung der IV-Stelle Bern vom 27.
Februar 2008 werden aufgehoben. Die Sache wird an die Verwaltung
zurückgewiesen, damit diese in masslicher Hinsicht über die
invaliditätsbedingten Mehrkosten im Zusammenhang mit der bei der Stiftung
X.________ vom 1. August 2006 bis 31. Juli 2008 absolvierten erstmaligen
beruflichen Ausbildung verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 2. Dezember 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Dormann