Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 73/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_73/2008

Urteil vom 21. Mai 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Lustenberger, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Parteien
A.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Procap, Schweizerischer
Invaliden-Verband, Froburgstrasse 4, 4600 Olten,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 2. November 2007.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 20. Dezember 2002 sprach die IV-Stelle des Kantons St. Gallen
dem 1962 geborenen A.________ ab 1. November 2001 eine halbe Rente der
Invalidenversicherung zu. Unter Hinweis auf einen aktuellen Bericht seines
Hausarztes Dr. med. M.________ ersuchte A.________ am 23. März 2004 um
Überprüfung der Rente. Nach Abklärungen hob die IV-Stelle mit Verfügung vom 24.
Januar 2006 die Rente revisionsweise auf Ende Februar 2006 auf mit der
Begründung, der Gesundheitszustand des Versicherten habe sich verbessert und
die Erzielung eines rentenausschliessenden Einkommens sei möglich. Mit
Einspracheentscheid vom 16. August 2006 bestätigte die Verwaltung die
Rentenaufhebung.

B.
Die Beschwerde des A.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 2. November 2007 ab.

C.
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 2. November 2007 sei aufzuheben und
die Angelegenheit sei zu weiteren medizinischen Abklärungen an die IV-Stelle
zurückzuweisen. Ferner lässt er um unentgeltliche Rechtspflege ersuchen.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das kantonale Gericht und
das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Eine unvollständige
Sachverhaltsfeststellung stellt eine vom Bundesgericht ebenfalls zu
korrigierende Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 lit. a BGG dar (Seiler/von
Werdt/Güngerich, Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, Bern 2007, N. 24 zu Art.
97 BGG).

1.2 Die am 1. Januar 2008 in Kraft getretenen materiellen Änderungen des IVG
und der IVV im Rahmen der 5. IV-Revision (Bundesgesetz vom 6. Oktober 2006 und
Verordnung vom 28. September 2007) sind nach den allgemeinen
übergangsrechtlichen Grundsätzen vorliegend nicht anwendbar (vgl. BGE 130 V
445, 129 V 1 E. 1.2 S. 4; Urteil U 604/06 vom 16. Januar 2008 E. 1.2).

2.
Die IV-Stelle hob mit Verfügung vom 24. Januar 2006 die halbe Rente des
Beschwerdeführers in Anwendung von Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV auf Ende
Februar 2006 auf. Unter Berücksichtigung des Berichts des behandelnden
Psychiaters Dr. med. B.________ vom 14. Juni 2006 bestätigte sie die
Rentenaufhebung mit Einspracheentscheid vom 16. August 2006. In der dagegen
erhobenen Beschwerde wurde geltend gemacht, der Versicherte sei ab 11. Juli
2006 bis 2. November 2006 in der Psychiatrischen Klinik X.________
hospitalisiert gewesen. Aufgrund der mindestens seit Klinikeintritt bestehenden
höheren Arbeitsunfähigkeit sei das Revisionsverfahren nochmals durchzuführen.

3.
Nach Auffassung der Vorinstanz gehört der Klinikaufenthalt nicht zum
Streitgegenstand, sondern ist im Rahmen eines Neuanmeldeverfahrens (Art. 87
Abs. 3 und 4 IVV) zu beurteilen. Zur Begründung führt sie an, gemäss Art. 88bis
Abs. 2 lit. a IVV bestimme sich der Wirkungszeitpunkt der Herabsetzung oder
Aufhebung der Invalidenrente nicht nach der Sachverhaltsänderung, sondern nach
der das Revisionsverfahren abschliessenden Verfügung. Die Anpassung erfolge auf
den Beginn des zweiten auf den Erlass der Revisionsverfügung folgenden Monats.
Nur ausnahmsweise, insbesondere bei Meldepflichtverletzungen, setze die Wirkung
mit der relevanten Sachverhaltsänderung ein (Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV). Mit
dem Inkrafttreten des ATSG und der damit verbundenen Einführung des
Einspracheverfahrens am 1. Januar 2003 habe Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV keine
Änderung erfahren. Insbesondere sei der Wirkungszeitpunkt nicht an einen
allfälligen Einspracheentscheid geknüpft worden. Nach dem klaren Wortlaut sei
der Beginn des zweiten auf die Verfügung folgenden Monats massgebend geblieben.
Da eine Einsprache ohne Einfluss auf den Wirkungszeitpunkt bleibe, könne eine
während des Einspracheverfahrens eintretende Sachverhaltsänderung nichts daran
ändern, dass nur die Verhältnisse bis zum Erlass der Revisionsverfügung
relevant seien. Sonst wäre im Rahmen des Einspracheverfahrens eine zweite
Revision durchzuführen, und gegebenenfalls wären im Einspracheentscheid zwei
Anordnungen über einen Rentenanspruch mit verschiedenen Wirkungszeitpunkten zu
treffen. Trete eine revisionsrechtlich relevante Änderung der Tatsachen erst
nach Einspracheerhebung ein, bildeten ausnahmsweise nur die tatsächlichen
Verhältnisse bis zum Erlass der angefochtenen Verfügung den Streitgegenstand.
Im vorliegenden Fall sei demnach nur zu prüfen, ob die Sachverhaltsentwicklung
bis zum 24. Januar 2006 die Aufhebung der halben Invalidenrente des
Beschwerdeführers rechtfertige.
Der Beschwerdeführer rügt die vorinstanzliche Argumentation als
bundesrechtswidrig. Der Eintritt in die Psychiatrische Klinik X.________ am 11.
Juli 2006 und der bis zum 2. November 2006 dauernde Aufenthalt hätten zwingend
berücksichtigt werden müssen.

4.
4.1 Ändert sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin oder eines
Rentenbezügers erheblich, so wird die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin
für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (Art. 17 Abs.
1 ATSG). Anlass zur Rentenrevision gibt somit jede wesentliche Änderung in den
tatsächlichen Verhältnissen, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit
den Rentenanspruch zu beeinflussen (BGE 130 V 343 E. 3.5 S. 349; Urteil U 35/07
vom 28. Januar 2008 E. 3).

Bei einer Verbesserung der Erwerbsfähigkeit ist die anspruchsbeeinflussende
Änderung für die Herabsetzung oder Aufhebung der Leistung in jedem Fall zu
berücksichtigen, nachdem sie ohne wesentliche Unterbrechung drei Monate
angedauert hat und voraussichtlich weiterhin andauern wird (Art. 88a Abs. 1
IVV). Die Herabsetzung oder Aufhebung der Renten erfolgt, von hier nicht
interessierenden Ausnahmen abgesehen, frühestens vom ersten Tag des zweiten der
Zustellung der Verfügung folgenden Monats an (Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV).

Bei einer Verschlechterung der Erwerbsfähigkeit ist die anspruchsbeeinflussende
Änderung zu berücksichtigen, sobald sie ohne wesentliche Unterbrechung drei
Monate angedauert hat. Artikel 29bis IVV ist sinngemäss anwendbar (Art. 88a
Abs. 2 IVV). Wurde die Rente nach Verminderung des Invaliditätsgrades
aufgehoben, erreicht dieser jedoch in den folgenden drei Jahren wegen einer auf
dasselbe Leiden zurückzuführenden Arbeitsunfähigkeit erneut ein
rentenbegründendes Ausmass, so werden bei der Berechnung der Wartezeit nach
Artikel 29 Absatz 1 IVG früher zurückgelegte Zeiten angerechnet (Art. 29bis
IVV, in der bis am 31. Dezember 2007 in Kraft gestandenen Fassung).

4.2 Massgeblicher Zeitpunkt zur Beurteilung der Frage, ob sich die
tatsächlichen Verhältnisse seit der ursprünglichen Rentenverfügung geändert
haben, bildet der Einspracheentscheid der IV-Stelle (Urteil I 502/04 vom 16.
März 2005 E. 1.1). Dieser schliesst auch formell das Verwaltungsverfahren ab.
Im Beschwerdefall erstreckt sich der gerichtliche Prüfungszeitraum bis zum
Erlass des strittigen Einspracheentscheids (BGE 131 V 407 E. 2.1.2.1 S. 412,
116 V 246 E. 1a S. 248).

4.3 Die vorinstanzliche Auffassung, wonach der Klinikaufenthalt nicht zum
Streitgegenstand gehöre, sondern im Rahmen eines Neuanmeldeverfahrens zu
beurteilen sei, steht im Widerspruch zu dieser Rechtsprechung. Zu einer
Praxisänderung (vgl. zu den Voraussetzungen BGE 132 V 257 E. 2.4 S. 262)
besteht indessen vorliegend kein Anlass.
4.3.1 Mit dem Inkrafttreten des ATSG am 1. Januar 2003 wurde auch im Bereich
der Invalidenversicherung das Einspracheverfahren eingeführt. Seit 1. Juli 2006
gilt allerdings wieder die frühere Regelung mit dem Vorbescheidverfahren (Art.
57a IVG; AS 2006 S. 2003). Nach zutreffender Feststellung der Vorinstanz wurde
Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV nicht geändert, insbesondere wurde der Begriff
"Verfügung" nicht durch "Einspracheentscheid" oder "Verfügung oder
Einspracheentscheid" ersetzt. Dies bedeutet indessen nicht, dass der
Verordnungsgeber damit zum Ausdruck bringen wollte, Gegenstand des
Einspracheverfahrens und des nachgelagerten gerichtlichen Beschwerdeverfahrens
sei lediglich die Rente (Anspruchsberechtigung und -umfang sowie Beginn, Dauer
und Höhe der Leistung) auf der tatsächlichen Grundlage bis zur
Revisionsverfügung. In den Gesetzesmaterialien finden sich denn auch keine
diesbezüglichen Anhaltspunkte. Abgesehen davon entfaltet die Rentenanpassung
über die von Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV gesetzte zeitliche Grenze hinaus
insofern Wirkung, als ein Rentenanspruch für die Zukunft entweder im
herabgesetzten Umfang bejaht oder gänzlich verneint wird. Ein das
Verwaltungsverfahren abschliessender Einspracheentscheid kann somit ohne
weiteres als (materiellrechtliche) Verfügung im Sinne von Art. 88bis Abs. 2
lit. a IVV aufgefasst werden.
4.3.2 Entgegen der Auffassung der Vorinstanz wird damit nicht missbräuchlichem
Verhalten Vorschub geleistet, weil der Wirkungszeitpunkt durch unbegründete
Einsprachen hinausgeschoben werden könnte. Die Anwendung von Art. 88bis Abs. 2
lit. a IVV bezogen auf den Einspracheentscheid setzt eine anspruchserhebliche
Tatsachenänderung während des Einspracheverfahrens voraus. Im Übrigen bestimmt
sich der Rentenanspruch in zeitlicher Hinsicht nach Art. 88a IVV (BGE 125 V 413
E. 2d S. 417). Fällt der Invaliditätsgrad unter anspruchsbegründende 40 % (vgl.
Art. 28 Abs. 1 IVG), ist Art. 29bis IVV direkt anwendbar, soweit die
tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind.

4.4 Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz zu Unrecht nur auf den Sachverhalt bis
zur Revisionsverfügung vom 24. Januar 2006 abgestellt und die Tatsache, dass
der Beschwerdeführer vor dem Einspracheentscheid vom 16. August 2006 am 11.
Juli 2006 in die Psychiatrische Klinik X.________ eintrat und sich dort bis am
2. November 2006 aufhielt, unberücksichtigt gelassen.

5.
5.1 Die Vorinstanz stellte fest, aus rein orthopädischer Sicht sei eine
erhebliche Verbesserung des Gesundheitszustandes und damit eine Erhöhung der
Arbeitsfähigkeit von 50 % auf 100 % nachgewiesen, und aus psychiatrischer Sicht
sei der Beschwerdeführer im September 2005 zu maximal 20 % arbeitsunfähig
gewesen. Am 24. Januar 2006 sei er mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in
einer dem körperlichen Leiden angepassten Erwerbstätigkeit zu 20 %
arbeitsunfähig gewesen. Auf dieser unbestrittenen und nicht offensichtlich
unrichtigen Grundlage ermittelte die Vorinstanz einen Invaliditätsgrad von 32
%, was vom Beschwerdeführer nicht beanstandet wird. Es besteht kein Anlass für
eine nähere Prüfung von Amtes wegen (BGE 125 V 413 E. 1b und 2c S. 415 ff; BGE
110 V E. 4a S. 53)

5.2 Aufgrund der Tatsache des Klinikeintritts und -aufenthalts und der damit
verbundenen Arbeitsunfähigkeit von 100 % ist nicht auszuschliessen, dass vor
Erlass des Einspracheentscheids wieder ein Rentenanspruch entstanden ist.
Notwendige Voraussetzungen sind eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes,
und dass es sich dabei um dasselbe Leiden handelt, welches der ursprünglichen
Rentenzusprache zugrunde lag (Art. 29bis IVV). Trifft dies nicht zu, kann ein
Rentenanspruch vor Erlass des Einspracheentscheids mangels erfüllter Wartefrist
(Art. 29 Abs. 1 IVG, seit 1. Januar 2008 Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG) nicht
entstanden sein. In diesem Fall hat es mit der Aufhebung der Rente auf Ende
Februar 2006 sein Bewenden.
Die IV-Stelle wird die offenen Fragen abzuklären und danach über den
Rentenanspruch bis zum Einspracheentscheid vom 16. August 2006 zu verfügen
haben. In diesem Sinne ist die Beschwerde begründet.

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine
Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Dessen Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege ist demzufolge gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Beschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons St. Gallen vom 2. November 2007 und der Einspracheentscheid der
IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 16. August 2006 aufgehoben. Die Sache wird
an die IV-Stelle zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne
der Erwägungen, über den Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Rente der
Invalidenversicherung neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1500.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 21. Mai 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Die Gerichtsschreiberin:

Lustenberger Dormann