Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 719/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_719/2008

Urteil vom 31. Oktober 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Traub.

Parteien
U.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger,
Schwanenplatz 7, 6000 Luzern 5,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom
4. September 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1979 geborene U.________, als Callagentin und kaufmännische
Sachbearbeiterin tätig gewesen, erlitt am 12. März 2004 einen Verkehrsunfall,
bei welchem sie sich eine Distorsion der Halswirbelsäule zuzog. Unter Hinweis
auf die Unfallfolgen meldete sie sich am 14. März 2005 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Luzern
ermittelte einen Invaliditätsgrad von 18 Prozent und lehnte das Gesuch mit
Verfügung vom 12. März 2007 ab.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern wies die dagegen erhobene Beschwerde
ab, wobei es von einem Invaliditätsgrad von 39 Prozent ausging (Entscheid vom
4. September 2008).

C.
U.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, es sei ihr, nach Aufhebung von strittiger Verfügung und
angefochtenem Entscheid, mit Wirkung ab März 2005 eine ganze, eventuell eine
Dreiviertels- oder eine halbe Invalidenrente zuzusprechen.

IV-Stelle und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
1.1 Streitig ist, ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine Rente der
Invalidenversicherung hat. Das kantonale Gericht hat die zur Beurteilung des
Leistungsanspruchs einschlägigen Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt. Darauf
wird verwiesen.

1.2 Der Beurteilung von Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
(Art. 82 ff. BGG) liegt der Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Diesen kann das Bundesgericht von Amtes
wegen berichtigen oder ergänzen, wenn er offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG;
vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG; ohne Beschwerden gemäss Art. 97 Abs. 2 BGG und
Art. 105 Abs. 3 BGG).

Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist zu prüfen, ob der angefochtene
Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell- und
beweisrechtlichen Grundlagen (unter anderem) Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit.
a BGG), einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften
Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). Zu den
Rechtsverletzungen im Sinne von Art. 95 lit. a BGG gehört auch die
unvollständige Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen (Urteil 9C_40/2007
vom 31. Juli 2007 E. 1; Ulrich Meyer, in: Basler Kommentar zum
Bundesgerichtsgesetz, 2008, N. 25, 36 und 59 zu Art. 105; Hansjörg Seiler, in:
Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, 2007, N. 24 zu Art. 97) und die Verletzung
des Untersuchungsgrundsatzes als einer wesentlichen Verfahrensvorschrift
(Meyer, a.a.O., N. 60 zu Art. 105; Urteil 8C_364/2007 vom 19. November 2007 E.
3.3). Hingegen unterbleibt eine freie Überprüfung des vorinstanzlichen
Entscheides in tatsächlicher Hinsicht.

2.
2.1 Das kantonale Gericht hat nach Würdigung des medizinischen Dossiers
festgehalten, die Beschwerdeführerin sei aus somatischer Sicht für leichte,
wechselbelastende Tätigkeiten grundsätzlich vollständig arbeitsfähig. Infolge
erhöhten Pausenbedarfs sei die Leistungsfähigkeit aber um ein Viertel
eingeschränkt. Es bestehe also eine organisch begründete Arbeitsfähigkeit von
75 Prozent. Eine psychische Begleiterkrankung liege, bis auf eine anhaltende
somatoforme Schmerzstörung, nicht vor. Die von der Rechtsprechung im
Zusammenhang mit der somatoformen Schmerzstörung formulierten
Erheblichkeitskriterien führten nach Zumutbarkeitsgesichtspunkten nicht zur
Anerkennung einer zusätzlichen Arbeitsunfähigkeit.
2.2
2.2.1 Die Beschwerdeführerin lässt zunächst einwenden, die Beurteilung des
Rheumatologen Dr. J.________ vom 27. Februar und 6. April 2006, wonach sie -
wegen eines zervikozephalen Symptomenkomplexes bzw. Schmerzyndroms sowie einer
anhaltenden somatoformen Schmerzstörung - in der Tätigkeit einer Callagentin
ganz arbeitsunfähig, in einer wechselbelastenden Büroarbeit hingegen
vollständig arbeitsfähig sei (bzw. einer Einschränkung von bloss 25 Prozent
wegen vermehrten Pausenbedarfs unterliege), stelle sich als nicht haltbar dar;
die in einem Callcenter anfallenden Belastungen (stundenlanges Sitzen) fielen
in ähnlicher Weise auch bei allgemeiner Büroarbeit an. Dementsprechend erweise
sich die hierauf abgestützte vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung als
willkürlich.

Dem ist nicht beizupflichten. Da die Tätigkeit einer Callagentin keinerlei
Bewegungsfreiheit erlaubt, die Ausübung einer Sachbearbeiterfunktion hingegen
in weitaus höherem Mass leidensorientiert entlastend ausgestaltet werden kann,
erscheint es nicht offensichtlich unrichtig, dass die Vorinstanz die zitierte
ärztliche Angabe für die Bestimmung der Arbeitsunfähigkeit übernommen hat (vgl.
oben E. 1.2).
2.2.2 Im Rahmen der Streitfrage nach dem Vorliegen einer psychischen
Begleiterkrankung lässt die Versicherte vortragen, einerseits sei das vom
kantonalen Gericht als massgebende Entscheidungsgrundlage beigezogene Gutachten
des Psychiaters Dr. I.________ vom 10. Juli 2006 nicht überzeugend; die dort
attestierte fehlende Krankheitseinsicht dürfe nicht mit einem fehlenden Befund
gleichgesetzt werden. Anderseits sprächen die Fallumstände insgesamt dafür,
dass die auch vom Psychiater diagnostizierte anhaltende somatoforme
Schmerzstörung nicht überwindbar sei (vgl. BGE 131 V 49 mit Hinweisen).

Die in der Beschwerdeschrift aufgeworfenen Fragen beschränken sich auf eine
rein appellatorische Kritik am psychiatrischen Gutachten und am angefochtenen
Entscheid, lassen aber die vorinstanzliche Feststellung nicht als
offensichtlich unrichtig erscheinen, wonach die Kriterien für eine
ausnahmsweise invalidisierende Wirkung einer somatoformen Schmerzstörung nicht
oder nur in sehr geringer Ausprägung erfüllt sind. Die mit dieser Diagnose
begründete, von Psychiater angenommene Arbeitsunfähigkeit von 36 % (80%-Pensum
mit 20 % Leistungsreduktion) ist daher invalidenversicherungsrechtlich nicht
ausschlaggebend.

2.3 Insgesamt ergibt sich, dass die vorinstanzliche Feststellung, es bestehe
eine zurechenbare Arbeitsfähigkeit im Umfang von 75 Prozent, zumindest nicht
offensichtlich unrichtig ist.

3.
3.1 Im Hinblick auf die Invaliditätsbemessung ging die Vorinstanz trotz
methodischer Bedenken bezüglich der von der Verwaltung genutzten Datenquelle
(Salärempfehlungen des Kaufmännischen Vereins) davon aus, das Valideneinkommen
(hypothetisches Einkommen ohne Gesundheitsschaden) betrage Fr. 54'132.- (2005).
Zur Bemessung des Invalideneinkommens stellte sie auf den Zentralwert der im
gesamten Produktionssektor bezahlten Löhne für einfache Tätigkeiten in der
Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) des Bundesamtes für Statistik ab;
unter anderem unter Berücksichtigung eines "leidensbedingten Abzugs" (BGE 129 V
472 E. 4.2.3 S. 481; 126 V 75) von 10 Prozent ergebe sich so bei einem Pensum
von 75 Prozent für das Jahr 2005 ein anrechenbares Einkommen von Fr. 33'160.-.
Der Invaliditätsgrad liege somit bei (gerundeten) 39 Prozent, was nicht zu
einer Invalidenrente berechtige.

3.2 Aufgrund des nicht stark einschränkenden medizinischen Anforderungsprofils
sind zunächst entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin keine höheren
Anforderungen an den Grad der Konkretisierung zumutbarer Verweisungstätigkeiten
(im kaufmännischen Sektor) zu stellen.

3.3 Die Beschwerdeführerin rügt sodann das Vorgehen des kantonalen Gerichts,
zwar den Umstand zu kritisieren, dass die Verwaltung für die Bemessung des
Valideneinkommens auf Salärempfehlungen eines Berufsverbandes abgestellt hat,
es sodann aber ohne nähere Einlassungen beim betreffenden Wert bewenden zu
lassen mit dem Hinweis, der Beizug von Daten der LSE führe nicht zu einem
anderen Ergebnis. Darin liege eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Die
Beschwerdeführerin verfüge über einen Sekundarschulniveau entsprechenden
Abschluss nach dem 10. Schuljahr. Später habe sie nicht nur als Callagentin
gearbeitet, sondern während einiger Zeit auch eine Tätigkeit als
Sachbearbeiterin ausgeübt. Sie habe also Kenntnisse im kaufmännischen Bereich,
so dass der ohne gesundheitliche Beeinträchtigung erzielbare Lohn nach
Anforderungsniveau 3 der LSE ("Berufs- und Fachkenntnisse vorausgesetzt") zu
bestimmen sei. Aufgrund der entsprechenden Frauenlöhne im Sektor
Dienstleistungen errechne sich ein Valideneinkommen von Fr. 58'812.-. Werde
dieser Wert dem Einkommensvergleich zugrunde gelegt, resultiere ein
rentenberechtigender Invaliditätsgrad.

Wird diesem Vorbringen folgend davon ausgegangen, dass die Beschwerdeführerin
mit ihrer Ausbildung ein Valideneinkommen erzielen könnte, das dem
Anforderungsniveau 3 entspricht, so gilt dasselbe für das Invalideneinkommen;
die Versicherte ist in Büro-Berufen, die den ärztlich definierten Anforderungen
bezüglich Haltungswechseln gerecht werden (vgl. den Bericht des Dr. J.________
vom 6. April 2006), im genannten Rahmen arbeitsfähig und kann insoweit die
gleiche Tätigkeit ausüben wie als Gesunde.

4.
4.1 Weitere Parameter der Invaliditätsbemessung liegen nicht im Streit (zum
Rügeprinzip: BGE 119 V 347 E. 1a S. 349 mit Hinweis).

4.2 Mit Blick auf die Identität der Bemessungsgrundlage (oben E. 3.3; vgl. dazu
RKUV 2006 Nr. U 568 S. 67 E. 2.2) entspricht die ärztlich attestierte
Einschränkung von 25 Prozent, unter zusätzlicher Berücksichtigung eines Abzugs
von 10 Prozent, dem Invaliditätsgrad. Dieser beträgt somit 32,5 Prozent.
Aufgrund dessen kann die Beschwerdeführerin keine Invalidenrente beanspruchen
(Art. 28 Abs. 1 IVG).

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend trägt die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 31. Oktober 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Traub