Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 715/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_715/2008

Urteil vom 28. Oktober 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Kernen,
Gerichtsschreiber Traub.

Parteien
R.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat
Dr. Heinz Lüscher, Weisse Gasse 14, 4001 Basel,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 9. Juli 2008.

Sachverhalt:

A.
Der 1959 geborene R.________, bis Frühjahr 2001 als Werkstattmitarbeiter tätig
gewesen, leidet an einem chronischen Schmerzsyndrom im Bereich des
Beckengürtels und des rechten Beins, an Nacken- und Kopfschmerzen sowie an
Störungen depressiver Art. Am 4. März 2002 meldete er sich bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich hiess die gegen einen leistungsablehnenden Einspracheentscheid
vom 4. September 2003 eingereichte Beschwerde in dem Sinne gut, als es die
IV-Stelle des Kantons Zürich verpflichtete, die Sache vorab in
neuropsychologischer Hinsicht näher abklären zu lassen (Entscheid vom 29.
September 2004). Die Verwaltung holte eine (am 7. Dezember 2006 erstattete)
Expertise des Abklärungszentrums X.________ ein und gab dem Rentenbegehren
gestützt auf die ergänzten Akten erneut nicht statt (Verfügung vom 6. März
2008).

B.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die dagegen erhobene
Beschwerde ab (Entscheid vom 9. Juli 2008).

C.
R.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, es sei ihm, nach Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids und
der strittigen Verfügung, eine ganze Invalidenrente zuzusprechen; eventuell sei
die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen "mit der Massgabe, dass im
kantonalen Verfahren in einem ergänzenden psychiatrischen Gutachten die Frage
schlüssig zu beantworten sei, ob dem Beschwerdeführer eine Überwindung seiner
Schmerzen und ein Umgang mit seinen Erkrankungen zumutbar sei, so dass er
arbeiten könnte".

Erwägungen:

1.
1.1 Streitig ist, ob der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Rente der
Invalidenversicherung hat. Das kantonale Gericht hat die zur Beurteilung des
Leistungsanspruchs einschlägigen Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt. Darauf
wird verwiesen.

1.2 Der Beurteilung von Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
(Art. 82 ff. BGG) liegt der Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Diesen kann das Bundesgericht von Amtes
wegen berichtigen oder ergänzen, wenn er offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG;
vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG; ohne Beschwerden gemäss Art. 97 Abs. 2 BGG und
Art. 105 Abs. 3 BGG).

Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist zu prüfen, ob der angefochtene
Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell- und
beweisrechtlichen Grundlagen Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a BGG),
einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung
(Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). Zu den Rechtsverletzungen im Sinne von
Art. 95 lit. a BGG gehört auch die unvollständige Feststellung der
rechtserheblichen Tatsachen (Urteil 9C_40/2007 vom 31. Juli 2007 E. 1; Meyer,
in: Basler Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, 2008, N. 25, 36 und 59 zu Art.
105; Seiler, in: Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, 2007, N. 24 zu Art. 97)
und die Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes als einer wesentlichen
Verfahrensvorschrift (Meyer, a.a.O., N. 60 zu Art. 105; Urteil 8C_364/2007 vom
19. November 2007 E. 3.3). Die Frage, ob den von der Rechtsprechung
aufgestellten normativen Leitlinien bei einer Begutachtung hinreichend Rechnung
getragen wurde, ist ebenfalls frei prüfbare Rechtsfrage (SVR 2007 IV Nr. 49 S.
160 E. 5 [I 1000/06]). Hingegen unterbleibt eine freie Überprüfung des
vorinstanzlichen Entscheides in tatsächlicher Hinsicht.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer lässt in erster Linie vorbringen, im psychiatrischen
Teilgutachten des Abklärungszentrums X.________ vom 7. Dezember 2006 werde
nicht abschliessend beurteilt, ob es ihm noch zumutbar sei, allfällige
Ressourcen zur Überwindung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu
mobilisieren. Damit fehle es an einer nachvollziehbaren Antwort auf die Frage,
ob und wie weit er noch über eine Restarbeitsfähigkeit verfüge. Die attestierte
vollständige Arbeitsfähigkeit stehe in Widerspruch zu den übrigen gutachtlichen
Einschätzungen. Die Expertise sei mithin nicht schlüssig; es bedürfe einer
ergänzenden psychiatrischen Begutachtung.

2.2 Das kantonale Gericht erkannte, es sei bezüglich einer
behinderungsangepassten, weitgehend sitzend auszuführenden Tätigkeit von
vollständiger Arbeitsfähigkeit auszugehen.
2.2.1 Dafür stellte es massgebend auf das polydisziplinäre Gutachten des
Abklärungszentrums X.________ ab, das auf internistischer, orthopädischer,
neurologischer, psychiatrischer und neuropsychologischer Beurteilung beruht.
Die Sachverständigen kamen zum Schluss, nach den organischen Befunden sei der
Beschwerdeführer in angepasster Tätigkeit vollständig arbeitsfähig. Aus
psychiatrischer Sicht sei eine schwerwiegende anhaltende somatoforme
Schmerzstörung gegeben "mit deutlich histrionischen Elementen,
Aggravationstendenz, Selbstlimitierung, teilweiser Vortäuschung von dementiell
anmutender kognitiver Beeinträchtigung mit deutlichem illness behavior" (S.
38). Die depressive Symptomatik sei leichtgradig. Kognitive Defizite seien
nicht nachweisbar. Zusammengefasst übertreibe der Explorand massiv (S. 39).
Allerdings stelle sich die Frage, ob er nicht "Gefangener seiner Übertreibung"
geworden sei, nicht mehr aus seiner Verhaltensstörung finde und aufgrund dessen
keinem Arbeitgeber mehr zumutbar sei. Die Verhaltensstörung stehe den
grundsätzlich zumutbaren Anstrengungen entgegen, sich in einer angepassten
(sitzenden) Tätigkeit zu etablieren. Der Gesundheitszustand habe sich seit 2005
massiv verschlechtert. Nicht abschliessend beantwortet werden könne die Frage,
ob es dem Exploranden zumutbar wäre, Ressourcen zu mobilisieren, um sich von
seinem Krankheitsverhalten zu distanzieren. Die Prognose sei eher schlecht (S.
40).
2.2.2 Aus der Gesamtheit der gutachtlichen Ausführungen ergibt sich mit
hinreichender Klarheit, dass die Sachverständigen zum Schluss gekommen sind,
die somatoforme Schmerzstörung habe, auch unter Berücksichtigung weiterer
Gesundheitsstörungen, keinen rechtlich erheblichen Einfluss auf die
Arbeitsfähigkeit. Die vom Beschwerdeführer zitierten Einschätzungen, der
Gesundheitszustand habe sich seit 2005 massiv verschlechtert und es stehe zu
vermuten, der Betroffene sei in einer Verhaltensstörung "gefangen", sind damit
durchaus vereinbar. Die abwägende Darstellung gegenläufiger Aspekte weist auf
eine - den Beweiswert steigernde - dialektisch angelegte Diskussion der zu
beurteilenden Fragen hin und begründet keinen inneren Widerspruch in der
gutachtlichen Argumentation. In der Schlussfolgerung wird nämlich deutlich,
dass die Gutachter "viele psychosoziale und invaliditätsfremde Faktoren" als
mitverantwortlich ansehen (S. 40). Es besteht ausreichend Grund zur Annahme,
dass für die subjektive Unüberwindbarkeit des Schmerzleidens vorwiegend ein
Geschehen verantwortlich zeichnet, welches nicht Komorbidität im Sinne der
Rechtsprechung ist. Praxisgemäss gelten die Folgen einer somatoformen
Schmerzstörung (und ihr diesbezüglich gleichgestellter Leiden) als mit einer
zumutbaren Willensanstrengung überwindbar, es sei denn, eine Begleiterkrankung
(Komorbidität) oder andere, näher umschriebene Umstände legten die Annahme
nahe, der Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess sei unzumutbar, weil die
versicherte Person nicht über die für den Umgang mit den Schmerzen notwendigen
Ressourcen verfügt (BGE 131 V 49 S. 50 mit Hinweisen). Die erwähnten
"invaliditätsfremden" (und als solche nicht versicherten) Elemente stellen zwar
derartige Faktoren dar. Da die Vorinstanz die medizinische Expertise indes im
Lichte dieser Zumutbarkeitskriterien nicht offensichtlich unrichtig gewürdigt
hat, ist auch ihre Schlussfolgerung im Ergebnis nicht bundesrechtswidrig,
wonach es dem Beschwerdeführer zuzumuten sei, "die nötige Willensanstrengung
aufzubringen und anstelle seiner bisher an den Tag gelegten Selbstlimitierung
aktiv zu werden". Die damit verbundene Nichtanerkennung subjektiver
Krankheitsüberzeugung und Selbstlimitierung als Arbeitsunfähigkeit trägt dem
Umstand Rechnung, dass die erwähnte schlechte gutachtliche Prognose aus dem
Blickwinkel eines weiten medizinischen Verständnisses von Gesundheit und
Krankheit gestellt wurde. Abweichend hievon müssen nicht versicherte
(namentlich soziale) Faktoren bei der Bemessung der rechtserheblichen
Arbeitsunfähigkeit ausgeklammert werden, soweit sie nicht als Rahmenbedingungen
der Zumutbarkeitsbeurteilung beachtlich sind.
2.2.3 Die im Gutachten zum Ausdruck gebrachte Unsicherheit in der Einschätzung
von Vorhandensein und Mobilisierbarkeit arbeitsfähigkeitserheblicher Ressourcen
bedeutet nicht, dass der medizinische Sachverhalt aus diesem Grund
ergänzungsbedürftig ist. Eine Frage, auf welche die Ärzte unter Beizug des
verfügbaren Beurteilungsinstrumentariums und nach dem aktuellen Stand der
medizinischen Wissenschaft keine abschliessende Antwort geben können, bleibt
offen. Es kann nicht Ziel ergänzender Sachverhaltsklärung sein, spekulative,
auf blosser Mutmassung - statt auf ärztlicher Wahrnehmung - beruhende
Einschätzungen zu erzwingen. Solche wären denn auch nicht beweiswirksam: Der
anspruchserhebliche Sachverhalt muss stets nach dem im Sozialversicherungsrecht
üblichen Massstab zumindest mit überwiegender Wahrscheinlichkeit bewiesen sein
(BGE 126 V 353 E. 5b S. 360). Sofern, soweit und solange nicht genügend
greifbare substantielle Anhaltspunkte bestehen, die nach ärztlicher Erfahrung
den - objektivierender Überprüfung zugänglichen - Schluss nahelegen, die
Zumutbarkeit einer Verwertung der ansonsten gegebenen funktionellen
Leistungsfähigkeit falle dahin, greift die erwähnte Vermutung der
Überwindbarkeit Platz (oben E. 2.2.2). Daher ist die vorinstanzliche
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts, wie er im Zeitpunkt des
Abschlusses des Verwaltungsverfahrens bestand, zumindest nicht offensichtlich
unrichtig; auch die daraus gezogenen rechtlichen Folgerungen verletzen
Bundesrecht nicht.

3.
Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, die kurz vor oder nach Einleitung
des kantonalen Beschwerdeverfahrens erhobenen neuen Befunde einer schweren
Depression sowie einer schweren koronaren Dreigefässerkrankung mit
Hauptstammbeteiligung (Berichte des Departements Innere Medizin am Spital
Z.________ vom 7. April 2008, der Klinik H.________ vom 1. Mai 2008 sowie der
Klinik für Kardiologie vom 20. Mai 2008) seien in die Beurteilung des
Leistungsanspruchs einzubeziehen. Die nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens
(Anfang März 2008) erfolgte Entwicklung des Gesundheitszustands, namentlich
hinsichtlich neuer Gesundheitsschäden, wird, wie die Vorinstanz ausgeführt hat
(E. 4.4), allenfalls Gegenstand eines neuen Verfahrens sein (vgl. BGE 129 V 167
E. 1 S. 169; 121 V 362 E. 1b S. 366). Die nach Auffassung des Versicherten zu
erwartende Auswirkung der Herzerkrankung - und der entsprechenden Medikation -
auf seinen psychischen Zustand ist, vor allem auch mit Blick auf die
Überwindbarkeit der Schmerzproblematik, ebenfalls erst im neuen Verfahren zu
beurteilen. Dementsprechend kann der Vorinstanz im Zusammenhang mit der
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts keine Verletzung der freien
Beweiswürdigung oder des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 61 lit. c ATSG)
vorgeworfen werden.

4.
Weitere Parameter der Invaliditätsbemessung liegen nicht im Streit (zum
Rügeprinzip: BGE 119 V 347 E. 1a S. 349 mit Hinweis). Es bleibt somit bei einem
Invaliditätsgrad, aufgrund dessen der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf eine
Invalidenrente hat.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend trägt der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Caisse AVS de la Fédération patronale vaudoise und dem Bundesamt
für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 28. Oktober 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Traub