Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 685/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_685/2008

Urteil vom 26. November 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Traub.

Parteien
A.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Reto Caflisch, Fankhauser Hauri Caflisch, Rennweg
10, 8001 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
17. Juni 2008.

Sachverhalt:

A.
Der 1964 geborene A.________, diplomierter Psychiatriepfleger und zuletzt als
Abteilungsleiter in einer psychiatrischen Klinik tätig, meldete sich am 17.
November 2003 wegen Rückenbeschwerden und wegen eines psychischen Leidens zum
Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an. Nach eingehender Abklärung,
namentlich Einholung eines Gutachtens des Zentrums für Medizinische
Begutachtung (ZMB) vom 7. Dezember 2006, lehnte die IV-Stelle des Kantons
Aargau zunächst den Antrag auf Gewährung beruflicher Massnahmen ab, weil der
Versicherte subjektiv nicht eingliederungsfähig sei (Verfügung vom 28. Februar
2007). Mit Verfügung vom 4. Mai 2007 sprach die IV-Stelle des Kantons Aargau
A.________ sodann mit Wirkung ab Mai 2007 eine (auf einem Invaliditätsgrad von
66 Prozent beruhende) Dreiviertelsrente zu, im Weiteren für den Zeitraum Mai
2004 bis März 2007 (Verfügungen vom 11. Juli 2007) sowie für April 2007
(Verfügung vom 24. Mai 2007) ebenfalls jeweils eine Dreiviertelsrente.

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die gegen die vorgenannten
Verfügungen erhobenen Beschwerden ab (Entscheid vom 17. Juni 2008).

C.
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei insoweit aufzuheben, als
ihm für die Zeit vom 1. Mai 2004 bis zum 31. Dezember 2006 lediglich eine
Dreiviertelsrente zugesprochen worden sei; stattdessen sei ihm für besagte Zeit
eine ganze Invalidenrente zu gewähren. Eventuell sei die Sache zu neuer
Entscheidung an das kantonale Gericht zurückzuweisen.

Erwägungen:

1.
1.1 Streitig ist, ob der Beschwerdeführer für die Zeit vom 1. Mai 2004 bis zum
31. Dezember 2006 Anspruch auf eine ganze Invalidenrente hat oder aber auf eine
Dreiviertelsrente. Das kantonale Gericht hat die zur Beurteilung des
Leistungsanspruchs einschlägigen Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt. Darauf
wird verwiesen.

1.2 Der Beurteilung von Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
(Art. 82 ff. BGG) liegt der Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Diesen kann das Bundesgericht von Amtes
wegen berichtigen oder ergänzen, wenn er offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG;
vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG; ohne Beschwerden gemäss Art. 97 Abs. 2 BGG und
Art. 105 Abs. 3 BGG).

2.
2.1
2.1.1 Die Gutachter des ZMB hielten fest, der Versicherte leide an einem
chronischen Lumbovertebralsyndrom im Zusammenhang mit Diskushernien im Bereich
der Lendenwirbelkörper sowie an einer emotional instabilen
Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus. Er sei in Verweisungstätigkeiten
aktuell zu 40 Prozent arbeitsfähig; im Falle einer erfolgreichen Weiterführung
der Psychotherapie sei eine weitere Stabilisierung des Gesundheitszustandes zu
erwarten, so dass "die Arbeitsfähigkeit in der jetzt ausgeübten Tätigkeit als
Heimarbeiter/frei schaffender Krankenpfleger ohne körperlich schwere Arbeit
(...) innert einem bis maximal anderthalb Jahren auf mindestens 50 % gesteigert
werden könnte". Das kantonale Gericht hat die Beweiskraft dieser
Schlussfolgerung bejaht und diese seinem Entscheid zugrundegelegt.
2.1.2 Der Beschwerdeführer macht zur Begründung seines Rechtsstandpunktes, für
den Zeitraum von Mai 2004 bis zur Begutachtung im ZMB (Dezember 2006) sei ein
Anspruch auf eine ganze (statt einer Dreiviertels-)Rente ausgewiesen, in erster
Linie geltend, er habe sich ab Januar 2004 wiederholt stationär oder
teilstationär in verschiedenen Kliniken aufgehalten; während dieser Zeiten sei
er zwangsläufig vollständig arbeitsunfähig gewesen. Im Januar 2004 seien
behandelnde Ärzte zum Schluss gekommen, vollständige Arbeitsfähigkeit könne nur
binnen mittlerer bis langer Frist erwartet werden. Auch in weiteren ärztlichen
Berichten komme zum Ausdruck, dass im Umfeld der während des interessierenden
Zeitraums eingetretenen akuten Krankheitsphasen erwerbliche Tätigkeit und
berufliche Massnahmen jeweils erst nach Ablauf einer längeren rehabilitativen
Phase möglich gewesen seien. Dementsprechend habe er etwa während des
Aufenthalts in einer Nachtklinik im Sommer 2004 lediglich Arbeit in geschütztem
Rahmen verrichten können. Die ärztlichen Stellungnahmen, wonach er in einem
Umfang von etwa 50 Prozent arbeiten könne, seien stets prognostisch, also
zukunftsbezogen formuliert worden und dürften nicht als Attestierung eines
aktuell gegebenen Leistungsvermögens verstanden werden. Die Gutachter des ZMB
hätten sich nicht dazu geäussert, in welchem Mass der Beschwerdeführer in der
Vergangenheit bezogen auf eine behinderungsangepasste Tätigkeit arbeitsfähig
gewesen sei.

2.2 Nach Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG (in der hier anwendbaren, bis Ende 2007
gültigen Fassung; vgl. BGE 130 V 445) entsteht der Rentenanspruch frühestens zu
dem Zeitpunkt, in dem der Versicherte während eines Jahres ohne wesentlichen
Unterbruch durchschnittlich mindestens zu 40 Prozent arbeitsunfähig gewesen
war.
2.2.1 Die Rentenhöhe ist sowohl vom Ausmass der nach Ablauf dieser Wartezeit
weiterhin bestehenden Erwerbsunfähigkeit als auch von einem entsprechend hohen
Grad der durchschnittlichen Arbeitsunfähigkeit während des vorangegangenen
Jahres abhängig. Somit kommt eine ganze Rente erst in Betracht, wenn der
Versicherte während eines Jahres durchschnittlich mindestens zu 70 Prozent
arbeitsunfähig gewesen und weiterhin wenigstens in gleichem Umfang
erwerbsunfähig (Art. 7 ATSG) bzw. invalid im Sinne von Art. 28 Abs. 1 IVG
(wiederum in der bis Ende 2007 gültigen Fassung) ist. Unter Arbeitsunfähigkeit
ist die durch den Gesundheitsschaden bedingte Einbusse an funktionellem
Leistungsvermögen im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich zu verstehen,
während die finanziellen Konsequenzen einer solchen Einbusse (beispielsweise
Bezug von Arbeitslosenentschädigung oder Erhalt von Soziallohn im Sinne von
Art. 25 Abs. 1 lit. b IVV) für deren Beurteilung während der Wartezeit
grundsätzlich unerheblich sind (Urteil I 392/02 vom 23. Oktober 2003 E. 4.2.1
mit Hinweisen).
2.2.2 Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer in der angestammten
Tätigkeit schon ein Jahr vor Beginn des hier strittigen Zeitraums (1. Mai 2003)
nicht mehr arbeitsfähig war. Nach dem Gesagten hängt der strittige Anspruch auf
eine (vorübergehend) ganze Invalidenrente davon ab, ob der Beschwerdeführer
zwischen Mai 2004 und Dezember 2006 bezogen auf zumutbare leidensangepasste
Tätigkeiten zu mindestens 70 Prozent erwerbsunfähig war.

2.3 Es stellt sich die Frage, ob die im zu betrachtenden Zeitraum gehäuft
aufgetretenen stationären und teilstationären Behandlungen auf eine längere
Zeit andauernde Verstärkung des Gesundheitsschadens und seiner Auswirkungen
hindeuten.
2.3.1 Das kantonale Gericht hat sich dazu - und allgemein zum Verlauf der
Arbeitsunfähigkeit im Rückblick - nicht ausdrücklich geäussert (vgl. E. 3.2 des
vorinstanzlichen Entscheids), insofern also keine spezifischen Feststellungen
getroffen, weshalb das Bundesgericht den Sachverhalt zu vervollständigen hat
(Art. 105 Abs. 2 BGG).
2.3.2 Bei einer diesbezüglich mithin erforderlichen freien Würdigung der Akten
ergibt sich, dass die nach dem 1. Mai 2004 erfolgten Hospitalisierungen nicht
den Schluss erlauben, der Versicherte sei in dieser Zeit in einem Ausmass
arbeitsunfähig gewesen, das zur Bemessung einer mindestens 70-prozentigen
Invalidität führen müsste: Ein längerer stationärer Spitalaufenthalt in der
Klinik X.________ vom 14. Oktober 2003 bis zum 13. Januar 2004 fiel vor der
hier interessierenden Periode an (Bericht vom 21. Januar 2004). Zu Beginn
derselben findet sich zwar eine erneute Hospitalisation in der Klinik
X.________, welche vom 23. März 2004 bis zum 21. Mai 2004 dauerte (Bericht der
Psychiatrischen Klinik Y.________ vom 19. Januar 2005). Weitere, teilweise
ebenfalls längerdauernde Behandlungen in der Klinik Z.________ der
Psychiatrischen Klinik Y.________ (23. Juli bis 6. September 2004; 13. bis 31.
Januar 2005; 10. bis 17. März 2005) erfolgten jedoch bloss teilstationär
(Bericht der genannten Institution vom 24. August 2005). Es handelte sich um
Kriseninterventionen im Zusammenhang mit sozialen Belastungssituationen
(Trennung von der Ehefrau, Auslaufen der Taggeldversicherung), die jeweils,
mitunter im Verein mit übermässigem Alkoholkonsum, zu einer Verschärfung der
bereits bestehenden psychischen Beeinträchtigung geführt hatten. Eine über
längere Zeit hinweg beständige vollständige Arbeitsunfähigkeit ist aufgrund
dieser vorübergehenden und teilstationären Hospitalisationen nicht erstellt,
zumal zumindest der erste der betreffenden Klinikaufenthalte "einmal
wöchentliche ärztliche Gespräche sowie eine pflegerische Betreuung jeweils
abends und in der Nacht" (Bericht der Psychiatrischen Klinik Y.________ vom 19.
Januar 2005) umfasste, also eine Teilarbeitsfähigkeit nicht grundsätzlich
ausschloss. Weitere, im Bericht der Psychiaterin Dr. E.________ vom 28. Oktober
2005 aufgeführte Hospitalisationen unter anderem in der Klinik X.________ und
im Kriseninterventionszentrum Winterthur waren von jeweils relativ kurzer
Dauer; sie erfolgten ebenfalls zur Bewältigung vorübergehender krisenartiger
Verschlimmerungen des Grundzustandes, aus denen nicht per se auf eine längere
Zeit anhaltende weitergehende Arbeitsunfähigkeit geschlossen werden kann.
2.3.3 Der Beschwerdeführer macht geltend, die ärztlichen Berichte legten
praktisch durchwegs darüber Zeugnis ab, dass die grundsätzlich attestierte
(wenn auch zeitlich eingeschränkte) Arbeitsfähigkeit nur bedingt, das heisst
erst nach Ablauf einer längeren Phase der Erholung realisierbar sei.
Demgegenüber ist davon auszugehen, dass sich die Notwendigkeit einer - der
Ausschöpfung ansonsten vorhandener Arbeitsfähigkeit entgegenstehenden -
"rehabilitativen Stabilisierungsphase" (Bericht der Klinik X.________ vom 21.
Januar 2004) wiederum auf einen jeweils relativ kurzen Zeitraum nach den
betreffenden krisenbedingten Hospitalisationen bezieht. Mit Blick auf die Frage
nach der effektiven Verwertbarkeit eines prinzipiell gegebenen
Leistungsvermögens besteht auch kein Bedarf nach medizinischen oder beruflichen
Massnahmen, ohne welche die Selbsteingliederung der versicherten Person
dauerhaft und prinzipiell verunmöglicht oder unzumutbar wäre. Dementsprechend
nicht einschlägig ist hier die Rechtsprechung, wonach eine nur bedingt, zum
Beispiel unter Vorbehalt eines Arbeitstrainings, realisierbare
medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit unter Umständen unbeachtlich sein
kann, solange die betreffenden Voraussetzungen für eine erwerbliche
Realisierung nicht erfüllt sind (Urteile 9C_720/2007 vom 28. April 2008 E. 4.2
und I 2/06 vom 23. Mai 2006 E. 2.2).

3.
3.1 Nach dem Gesagten sind die medizinischen Entscheidungsgrundlagen betreffend
den Anspruchszeitraum Mai 2004 bis Dezember 2006 mit der - freilich im Hinblick
auf den hier interessierenden Zeitraum nicht näher begründeten (oben E. 2.3.1)
- vorinstanzlichen Annahme vereinbar, die massgebende Arbeitsunfähigkeit gehe
zu keinem Zeitpunkt über einen Umfang von 60 Prozent hinaus, so dass der
Anspruch auf die ganze Rente auch in der Zeit vom 1. Mai 2004 bis 31. Dezember
2006 nicht entstehen konnte (vgl. Art. 88a Abs. 2 IVV).

3.2 Weitere Parameter der Invaliditätsbemessung liegen nicht im Streit (zum
Rügeprinzip: BGE 119 V 347 E. 1a S. 349 mit Hinweis). Es bleibt somit auch für
die Zeit vom 1. Mai 2004 bis zum 31. Dezember 2006 bei einem Invaliditätsgrad,
aufgrund dessen der Beschwerdeführer einen Anspruch auf eine Dreiviertelsrente
hat.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend trägt der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 26. November 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Traub