Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 650/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_650/2008

Urteil vom 25. November 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Seiler,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Parteien
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

Y.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Procap, Schweizerischer
Invaliden-Verband, Froburgstrasse 4, 4600 Olten.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 10. Juni 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1955 geborene Y.________ ist Mutter dreier Kinder (geboren 1980, 1982 und
1985). Ihr Gesuch um Leistungen der Invalidenversicherung wies die IV-Stelle
des Kantons St. Gallen mit Verfügung vom 10. August 1999 ab. Am 2. Juli 2004
meldete sich die Versicherte erneut bei der Invalidenversicherung an und
ersuchte um eine Rente. Nach Abklärungen und Durchführung des
Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 4. Januar 2007
bei einem Invaliditätsgrad von 10 % einen Rentenanspruch.

B.
In Gutheissung der Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 10. Juni 2008 die Verfügung vom 4. Januar 2007 auf,
sprach Y.________ eine halbe Invalidenrente zu und wies die Sache zur
Ermittlung von Rentenbetrag und -beginn an die Verwaltung zurück.

C.
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten und beantragt, der Entscheid vom 10. Juni 2008 sei aufzuheben
und die Verfügung vom 4. Januar 2007 zu bestätigen.

Y.________ verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das kantonale Gericht schliesst
auf Abweisung der Beschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherungen
deren Gutheissung beantragt.

Erwägungen:

1.
Der als Vor- oder Zwischenentscheid im Sinne des BGG zu qualifizierende (vgl.
BGE 133 V 477 E. 4.2 S. 481 f.) kantonale Rückweisungsentscheid vom 10. Juni
2008 kann unter den Voraussetzungen des Art. 93 Abs. 1 BGG angefochten werden.
Danach ist die Beschwerde gegen andere (d.h. nicht die Zuständigkeit oder
Ausstandsbegehren betreffende [vgl. Art. 92 BGG]) selbstständig eröffnete Vor-
und Zwischenentscheide zulässig, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden
Nachteil bewirken können, oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen
Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder
Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde.

Soweit mit dem kantonalen Rückweisungsentscheid der Versicherten eine
Invalidenrente zugesprochen wird, enthält er abschliessende materielle
Vorgaben, an welche die IV-Stelle gebunden ist. Diesbezüglich hat er für die
Verwaltung einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs.
1 lit. a BGG zur Folge (vgl. BGE 133 V 477 E. 5.2 S. 483 ff.). Auf die
Beschwerde ist daher einzutreten.

2.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

3.
3.1 Ob eine versicherte Person als ganztägig oder zeitweilig erwerbstätig oder
als nichterwerbstätig einzustufen ist, ergibt sich aus der Prüfung, was sie bei
im Übrigen unveränderten Umständen täte, wenn keine gesundheitliche
Beeinträchtigung bestünde. Entscheidend ist somit nicht, welches Ausmass der
Erwerbstätigkeit der versicherten Person im Gesundheitsfall zugemutet werden
könnte, sondern in welchem Pensum sie hypothetisch erwerbstätig wäre (BGE 133 V
504 E. 3.3 S. 507; Urteil 9C_49/2008 vom 28. Juli 2008 E. 3.3; je mit
Hinweisen). Bei im Haushalt tätigen Versicherten im Besonderen sind die
persönlichen, familiären, sozialen und erwerblichen Verhältnisse ebenso wie
allfällige Erziehungs- und Betreuungsaufgaben gegenüber Kindern, das Alter, die
beruflichen Fähigkeiten und die Ausbildung sowie die persönlichen Neigungen und
Begabungen zu berücksichtigen. Die Statusfrage beurteilt sich praxisgemäss nach
den Verhältnissen, wie sie sich bis zum Erlass der Verwaltungsverfügung
entwickelt haben, wobei für die hypothetische Annahme einer im Gesundheitsfall
ausgeübten (Teil-) Erwerbstätigkeit der im Sozialversicherungsrecht übliche
Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erforderlich ist (BGE 130 V 393
E. 3.3 S. 396; 125 V 146 E. 2c S. 150 mit Hinweisen).

3.2 Die Invalidität bestimmt sich in der Folge dadurch, dass im Erwerbsbereich
ein Einkommens- und im Aufgabenbereich ein Betätigungsvergleich vorgenommen
wird (vgl. Art. 28 Abs. 2 und 2bis IVG, je in der bis am 31. Dezember 2007
gültigen Fassung [heute: Art. 28a Abs. 1 und 2 IVG]). Bei Teilerwerbstätigkeit
ergibt sich die Invalidität unter Anwendung der gemischten Methode aus der
Addierung der in beiden Bereichen ermittelten und gewichteten Teilinvaliditäten
(vgl. Art. 28 Abs. 2ter IVG in der bis am 31. Dezember 2007 gültigen Fassung
[heute: Art. 28a Abs. 3 IVG]; BGE 130 V 396 E. 3.3 S. 396).
4. Streitig und zu prüfen ist die Frage, ob die Invalidität in Anwendung der
allgemeinen oder der gemischten Methode zu bemessen ist.

4.1 Nach Auffassung des kantonalen Gerichts ist die Versicherte als (im
Gesundheitsfall) voll erwerbstätig zu qualifizieren; folglich hat es den
Invaliditätsgrad anhand eines Einkommensvergleichs ermittelt. Die IV-Stelle
macht geltend, die Vorinstanz erwarte, indem sie der Versicherten ein
rationales Verhalten unterstelle, dass diese im ihr zumutbaren Mass
erwerbstätig wäre. Damit habe sie falsche Rechtsregeln angewandt. Weiter
erachtet sie die Würdigung des Sachverhalts als willkürlich und offensichtlich
unrichtig, insbesondere seien wesentliche Aspekte nicht berücksichtigt worden.

4.2 Die auf eine Würdigung konkreter Umstände gestützte Festsetzung des
hypothetischen Umfanges der Erwerbstätigkeit ist eine Tatfrage, welche das
Bundesgericht nur in den genannten Schranken (E. 2) überprüft. Eine Rechtsfrage
läge nur vor, wenn die Festlegung des Umfangs der Erwerbstätigkeit im
Gesundheitsfall ausschliesslich gestützt auf die allgemeine Lebenserfahrung
erfolgt wäre (Urteil 9C_686/2008 vom 4. November 2008 E. 4.1; Entscheid des
Eidg. Versicherungsgerichts I 708/06 vom 23. November 2006 E. 3.2), was jedoch
nicht der Fall ist.

4.3 Das kantonale Gericht hat eingehend und nachvollziehbar dargelegt, weshalb
es nicht auf die Aussagen der Versicherten in Bezug auf den hypothetischen
Umfang abgestellt, sondern sich vielmehr auf die realen äusseren Umstände, d.h.
objektiv feststellbare Gegebenheiten, gestützt hat: Die Beschwerdegegnerin sei
zwar jeweils nur teilzeitlich erwerbstätig gewesen; dies könne aber auf der
realen gesundheitlichen Situation und/oder auf familiären Pflichten
(Kinderbetreuung) beruht haben. Ihr Ehemann sei seit Jahren arbeitslos. Mit
dessen Aussteuerung aus der Arbeitslosenversicherung habe die
Sozialhilfebedürftigkeit gedroht. Die Versicherte wäre weder durch familiäre
Pflichten noch andere Umstände gehindert gewesen, einer vollzeitlichen
Erwerbstätigkeit nachzugehen, um den Familienunterhalt zu finanzieren. Diese
Feststellungen sind nicht offensichtlich unrichtig. Das gilt auch für den
daraus gezogenen Schluss, ein Beschäftigungsgrad von 100 % erscheine als die
wahrscheinlichste Variante des hypothetischen Verhaltens, zumal die vom Gericht
der Versicherten unterstellte Rationalität nicht die Anwendung falscher
Rechtsregeln bedeutet, sondern eine Schlussfolgerung, welche ungewisses
menschliches Verhalten betrifft, nachvollziehbar macht. Weiter ist von
Bedeutung, dass die Versicherte zwar die in den MEDAS-Gutachten vom 24. März
1999 resp. 25. August 2006 bescheinigte Restarbeitsfähigkeit nie vollständig
ausgeschöpft, jedoch bei Eintritt der gesundheitlichen Beschwerden, als sich
noch zwei ihrer Kinder in der obligatorischen Schulzeit befanden, eine
Erwerbstätigkeit während 25 Stunden pro Woche tatsächlich ausgeübt hat. Im
Übrigen ist eine Beweiswürdigung nicht bereits dann willkürlich, wenn eine
andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre, sondern
erst, wenn sie offensichtlich unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in
klarem Widerspruch steht oder auf einem offenkundigen Fehler beruht (BGE 133 I
149 E. 3.1 S. 153; 132 I 13 E. 5.1 S. 17 f.; 127 I 54 E. 2b S. 56).

4.4 Nach dem Gesagten ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz die
Versicherte als vollzeitig erwerbstätig qualifiziert und den Invaliditätsgrad
unter Anwendung der allgemeinen Bemessungsmethode des Einkommensvergleichs
bestimmt hat.

5.
Die IV-Stelle bemängelt ferner die Berücksichtigung eines Abzugs vom
Valideneinkommen sowie dessen Höhe von 15 %.

5.1 Das kantonale Gericht hat durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG) einen
Invaliditätsgrad von 55 % ermittelt und infolgedessen den Anspruch auf eine
halbe Rente bejaht (Art. 28 Abs. 1 IVG in der bis 31. Dezember 2007 geltenden
Fassung, heute Art. 28 Abs. 2 IVG). Gestützt auf die Schweizerische
Lohnstrukturerhebung (LSE) 2004 des Bundesamtes für Statistik (Tabelle TA 1)
hat es der Invaliditätsbemessung ein Valideneinkommen von Fr. 48'588.- zugrunde
gelegt. Das Invalideneinkommen hat es auf Fr. 22'096.- festgesetzt. Dabei hat
es entsprechend der Einschätzung im MEDAS-Gutachten vom 25. August 2006 die um
50 % eingeschränkte Arbeitsfähigkeit für leidensadaptierte Tätigkeiten
berücksichtigt, die Lohntabelle nach Beschäftigungsgrad (LSE 2004, Tabelle T6*)
beigezogen und vom resultierenden Betrag einen Abzug von 15 % vorgenommen.

5.2 Die Feststellung der beiden hypothetischen Vergleichseinkommen stellt sich
als Tatfrage dar, soweit sie auf konkreter Beweiswürdigung beruht, hingegen als
Rechtsfrage, soweit sich der Entscheid nach der allgemeinen Lebenserfahrung
richtet. Letzteres betrifft etwa die Frage, ob Tabellenlöhne anwendbar sind,
welches die massgebliche Tabelle ist und ob ein (behinderungsbedingt oder
anderweitig begründeter) Abzug vorzunehmen sei. Demgegenüber beschlägt der
Umgang mit den Zahlen in der massgeblichen LSE-Tabelle eine Tatfrage.
Schliesslich ist die Frage nach der Höhe des Abzuges eine typische
Ermessensfrage, deren Beantwortung letztinstanzlicher Korrektur nur mehr dort
zugänglich ist, wo das kantonale Gericht das Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt
hat (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399).

5.3 Ob und in welchem Ausmass Tabellenlöhne herabzusetzen sind, ist von
sämtlichen persönlichen und beruflichen Umständen des konkreten Einzelfalls
(leidensbedingte Einschränkung, Alter, Dienstjahre, Nationalität/
Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad) abhängig. Der Einfluss sämtlicher
Merkmale auf das Invalideneinkommen ist nach pflichtgemässem Ermessen
gesamthaft zu schätzen, wobei der Abzug auf höchstens 25 % zu begrenzen ist
(BGE 129 V 472 E. 4.3.2. S. 481, 126 V 75).

5.4 Nach Auffassung der Vorinstanz hat die Beschwerdegegnerin aufgrund ihrer
gesundheitlichen Beeinträchtigungen Konkurrenznachteile in Kauf zu nehmen: Ein
Arbeitgeber müsse mit überdurchschnittlich vielen krankheitsbedingten Absenzen
rechnen, die Versicherte bedürfe (z.B. wegen schwankender Leistungsfähigkeit)
besonderer Rücksichtnahme und könne keine Überstunden leisten. Bei Vorliegen
einer Depression seien die zu erwartenden Nachteile besonders ausgeprägt. Diese
Feststellungen sind nicht offensichtlich unrichtig (E. 2). Ausserdem ergibt
sich aus dem MEDAS-Gutachten vom 25. August 2006, dass die verbliebene
Arbeitsfähigkeit auf körperlich eher leichtere Tätigkeiten ohne besondere
Zwangshaltungen oder Stressbelastungen eingeschränkt ist. Die Vornahme eines
Abzuges ist daher gerechtfertigt (vgl. Urteil 9C_382/2007 vom 13. November 2007
E. 6).

Es ist nicht ersichtlich, dass die Höhe des Abzugs von 15 % eine
rechtsfehlerhafte Ermessensausübung (Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder
-unterschreitung) darstellen soll. Dies gilt umso mehr, als das kantonale
Gericht bei der Anwendung der LSE für die Bestimmung des Invalideneinkommens
nicht praxisgemäss auf die standardisierten Bruttolöhne der Tabellengruppe A
(BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 476; 124 V 321 E. 3b/aa S. 323), sondern auf die
höheren Werte der Tabelle T6* (Lohn nach Beschäftigungsgrad, privater und
öffentlicher Sektor zusammen) abgestellt hat (E. 5.2) und der tatsächlich
berücksichtigte Abzug daher entsprechend geringer ausfällt.

5.5 Die Invaliditätsbemessung der Vorinstanz ist weder offensichtlich unrichtig
noch beruht sie auf einer Rechtsverletzung. Die Beschwerde ist unbegründet.

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 25. November 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Dormann