Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 641/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_641/2008

Urteil vom 9. Dezember 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Fessler.

Parteien
S.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Martin Heuberger,
Bahnhofstrasse 15, 5600 Lenzburg,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
28. Mai 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1971 geborene S.________ bezog ab 1. Oktober 1999 eine ganze Rente der
Invalidenversicherung samt zwei Kinderrenten, ab 1. März 2003 zudem eine
Zusatzrente für den (zweiten) Ehemann (Verfügungen vom 6. November 2001 und 7.
Juli 2003). Im Rahmen des von der IV-Stelle des Kantons Aargau im April 2004
eingeleiteten Revisionsverfahrens wurde S.________ in der Psychiatrischen
Klinik X.________ abgeklärt (Gutachten vom 21. Dezember 2006). Nach
Durchführung des Vorbescheidverfahrens, in welchem die Versicherte eine
Stellungnahme der behandelnden Psychiaterin vom 2. April 2007 einreichen liess,
setzte die IV-Stelle die ganze Rente zum 1. Oktober 2007 auf eine halbe Rente
herab und sprach der Versicherten mit Verfügung vom 14. August 2007 die
entsprechenden Leistungen zu, wobei sie einer allfälligen Beschwerde die
aufschiebende Wirkung entzog. In der Mitteilung vom 12. Oktober 2007 sodann
bejahte sie den Anspruch auf Arbeitsvermittlung.

B.
Die Beschwerde der S.________ gegen die Verfügung vom 14. August 2007 wies das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 28. Mai 2008 ab.

C.
S.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 28. Mai 2008 und die Verfügung vom
14. August 2007 seien aufzuheben und ihr die bisherige ganze Rente weiterhin zu
gewähren, eventuell die Akten an das kantonale Gericht oder an die IV-Stelle
zur Durchführung weiterer medizinischer und beruflicher Massnahmen
zurückzuweisen.

IV-Stelle und kantonales Gericht verzichten auf eine Stellungnahme zur
Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat sich nicht vernehmen
lassen.
Erwägungen:

1.
Das kantonale Gericht hat die von der IV-Stelle verfügte Herabsetzung der
ganzen auf eine halbe Rente zum 1. Oktober 2007 bestätigt. In tatsächlicher
Hinsicht hat es festgestellt, der psychische Gesundheitszustand habe sich im
Vergleichszeitraum (6. November 2001 bis 14. August 2007) mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit verbessert. Die depressive Episode sei gegenwärtig weniger
schwer als im Jahr 2001 und nicht mehr von psychotischen Symptomen begleitet.
Sodann seien aktuell weder eine schizoaffektive Störung noch eine
posttraumatische Belastungsstörung mehr diagnostizierbar. Gemäss dem Gutachten
vom 21. Dezember 2006, welchem voller Beweiswert zukomme (BGE 125 V 351 E. 3a
S. 352), sei der Versicherten eine Tätigkeit unter der Bedingung, dass die
begonnene Psychotherapie weitergeführt und von einer medikamentösen Therapie
begleitet werde, zu 50 % zumutbar. Die Vorinstanz bejahte daher die
Voraussetzungen für die revisionsweise Überprüfung der ganzen Rente nach Art.
17 Abs. 1 ATSG und ermittelte durch Vergleich der Einkommen ohne und mit
Behinderung (Art. 28 Abs. 2 IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG; BGE 128 V 29 E.
1 S. 30 und Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 1/03 vom 15. April 2003 E.
5.2) einen Invaliditätsgrad von 58 % (zum Runden BGE 130 V 121), was Anspruch
auf eine halbe Rente gibt (Art. 28 Abs. 1 IVG).

2.
In der Beschwerde wird gerügt, die Vorinstanz habe zum Bericht der behandelnden
Psychiaterin vom 2. April 2007, worin auch eine Persönlichkeitsänderung nach
Extrembelastung diagnostiziert und eine Arbeitsunfähigkeit von aktuell und bis
auf weiteres 100 % angegeben worden sei, keine Ausführungen gemacht. Dies
stelle eine vom Bundesgericht zu korrigierende unvollständige
Sachverhaltsfeststellung dar. Sodann sei die Annahme der Vorinstanz, die
Beschwerdeführerin sei offenbar in der Lage, «regelmässig 5 Kinder für die
Schule vorzubereiten und für sie Mittag- und Abendessen zu kochen»,
aktenwidrig. Die Versicherte habe sich lediglich um zwei schulpflichtige Kinder
zu kümmern gehabt, welche auf Grund ihres Alters von damals immerhin schon
knapp 13 und 17 Jahren weitestgehend in der Lage gewesen seien, sich selber für
die Schule vorzubereiten. Diese Aktenwidrigkeit werfe ein völlig falsches Licht
auf den seit der Begutachtung verschlechterten Gesundheitszustand und die von
der behandelnden Ärztin mit 100 % angegebene Arbeitsunfähigkeit. Der
diesbezügliche Sachverhalt sei unklar und somit abklärungsbedürftig.
Schliesslich ergebe sich aus den medizinischen Unterlagen die Notwendigkeit
beruflicher Massnahmen. Die Beschwerdeführerin dürfe nach ihrem zehnjährigen
Arbeitsunterbruch nicht einfach ohne Unterstützung in die Arbeitswelt
hinausgeschickt und - gemäss Urteil 9C_720/2007 vom 28. April 2008 E. 4.1 - die
Rente nicht gekürzt werden, bevor Integrationsversuche durchgeführt worden
seien.

3.
3.1 Entgegen den Vorbringen in der Beschwerde hat das kantonale Gericht den
Bericht der behandelnden Psychiaterin vom 2. April 2007 bei der Würdigung der
medizinischen Akten mitberücksichtigt (vgl. E. 3.3.5-3.4.2 des angefochtenen
Entscheids). Insbesondere hat es zum Einwand Stellung genommen, das Gutachten
vom 21. Dezember 2006 sei hinsichtlich der Diagnose einer
Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung unvollständig. Diesbezüglich wird
in der Beschwerde nichts vorgebracht. Abgesehen davon hätten die Gutachter die
Diagnose eine Persönlichkeitsänderung gestellt oder zumindest diskutiert, wenn
sie ernsthaft in Betracht gefallen wäre. Im Weitern ist die vorinstanzliche
Annahme von fünf zu betreuenden Kindern aktenmässig zwar nicht ausgewiesen,
aber auch nicht entscheidend. Dass im Zeitpunkt der Untersuchung im November
und Dezember 2006 aufgrund der erhobenen Befunde aus psychiatrischer Sicht eine
Arbeitsfähigkeit von 50 % bestand, hat die Vorinstanz gestützt auf die
medizinischen Akten verbindlich festgestellt.
3.2
3.2.1 Nach für das Bundesgericht ebenfalls verbindlicher und insoweit nicht
bestrittener Feststellung der Vorinstanz hat sich der allgemeine psychische
Gesundheitszustand seit der Zusprechung der ganzen Rente (Verfügung vom 6.
November 2001) bis zur Herabsetzung der ganzen auf eine halbe Rente (Verfügung
vom 14. August 2007) verbessert (vgl. E. 1). Dies schliesst nicht aus, dass
nach dem Gutachten vom 21. Dezember 2006 eine Verschlechterung eingetreten war,
da die depressive Störung rezidivierender Natur ist. Im Zeitpunkt der
Exploration wurde eine leichte Form der Depression diagnostiziert, zugleich
aber darauf hingewiesen, dass sich die Krankheit phasenweise in massiverer
Intensität darstellen könne. Die behandelnde Psychiaterin hielt in ihrer
Stellungnahme vom 2. April 2007 fest, es bestehe gegenwärtig eine mittel- bis
schwergradige Episode der depressiven Störung mit somatischen Symptomen.
3.2.2 Zur Arbeitsfähigkeit wurde im Gutachten ausgeführt, die depressive
Störung sei phasisch wiederkehrend, sodass die konkrete Auswirkung im
Längsschnitt/Durchschnitt nicht punktuell genau bestimmbar bleibe. Die darauf
gestützte Annahme der Vorinstanz, unabhängig vom Schweregrad der Episode der
depressiven Störung bestehe eine Arbeitsfähigkeit von 50 %, ist auch unter
diesem Aspekt durchaus vertretbar. Zu beachten ist, dass im Gutachten eine
Psychotherapie und eine begleitende medikamentöse Therapie als notwendig
bezeichnet wurden, um die Auswirkungen der Störung auffangen und beeinflussen
zu können. Zur Inanspruchnahme des therapeutischen Angebotes war und ist die
Beschwerdeführerin im Rahmen der invalidenversicherungsrechtlichen
Schadenminderungspflicht (BGE 113 V 22 E. 4a S. 28) jederzeit gehalten.
3.2.3 Es steht ausser Frage, dass für den auch im Gutachten wegen des
rezidivierenden Charakters der depressiven Störung als schwierig bezeichneten
Wiedereintsieg in den Arbeitsprozess berufliche Massnahmen notwendig sind.
Dafür spricht auch die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin bereits seit
beinahe zehn Jahren nicht mehr erwerbstätig war und ausser der Grundschule von
acht Jahren über keine weitergehende (berufliche) Ausbildung verfügt. In der
Beschwerde wird insoweit richtig auf das Urteil 9C_720/2007 vom 28. April 2008
E. 4.1 und 4.2 hingewiesen. Die IV-Stelle sprach daher der Versicherten
Beratung und Unterstützung durch ihre Stellenvermittlung zu, was die Vorinstanz
als hinreichend erachtet hat. Dies ist nicht zu beanstanden unter der Annahme
einer unabhängig vom Schweregrad der Episode der depressiven Störung
bestehenden Arbeitsfähigkeit von 50 % und wenn die zur Stabilisierung dieser
Arbeitsfähigkeit erforderliche begleitende Therapie durchgeführt wird (E.
3.2.2). Auch im PDAG-Gutachten wurde in erster Linie die Vermittlung einer
angepassten Tätigkeit ins Auge gefasst. Somit ist von einer grundsätzlich
sofortigen Einsatzfähigkeit auf dem (offenen) Arbeitsmarkt ohne Einarbeitungs-
oder Angewöhnungszeit durch Verwertung der hälftigen Arbeitsfähigkeit
auszugehen. Der Antrag, die Rente dürfe nicht gekürzt werden, bevor
Integrationsversuche durchgeführt worden seien (E. 2 in fine), ist daher
unbegründet.

3.3 Der vorinstanzliche Einkommensvergleich wird insofern beanstandet, als
bezogen auf das durchschnittliche Normalarbeitspensum von 41,7 Wochenstunden
von einer Arbeitsfähigkeit von 50 % ausgegangen werde. Gemäss Gutachten betrage
das zumutbare Arbeitspensum 4 Stunden im Tag. Daraus resultiert zwar eine
Arbeitsfähigkeit von weniger als 50 % (20/41,7 x 100 % = 48 %), was aber bei im
Übrigen gleichen Berechnungsfaktoren lediglich 59,23 % ergibt und gerundet zu
einem Invaliditätsgrad von 59 % (BGE 130 V 121) führt.

Der vorinstanzliche Entscheid verletzt Bundesrecht nicht.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 9. Dezember 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler