Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 628/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_628/2008

Urteil vom 20. Oktober 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiberin Helfenstein Franke.

Parteien
T.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Fürsprecher Thomas Laube, Ulrichstrasse 14, 8032 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 20. Mai 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1971 geborene T.________, Mutter einer 1997 geborenen Tochter, war seit Mai
1999 bei der Firma X.________ als Mitarbeiterin in der Sortierung von
Postsendungen tätig. Am 30. Juli 2003 meldete sie sich unter Hinweis auf "2
Diskushernien, verschobene Wirbelsäule" bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an; dabei beanspruchte sie Berufsberatung sowie Umschulung auf
eine neue Tätigkeit. Nach drei gescheiterten Arbeitsversuchen wurde das
Arbeitsverhältnis im März 2004 auf den 31. Juli 2004 aufgelöst.
Nach Einholung verschiedener Arztberichte (unter anderem des Spitals Y.________
vom 4. Oktober 2002 betreffend die Hospitalisation vom 4. bis 26. September
2002, vom 11. März, 19. September und 17. Oktober 2003, des Prof. Dr. med.
S.________, Facharzt FMH für Neurochirurgie, vom 8. September 2003, des Dr.
med. W.________, Facharzt FMH für Innere Medizin/Rheuma, vom 19. August und 22.
September 2003 sowie des Dr. V.________, Chiropraktor SCG/ ECU, vom 26. Januar
2004) und weiteren Abklärungen in medizinischer und erwerblicher Hinsicht,
insbesondere der Einholung eines Gutachtens der medizinischen
Begutachtungsstelle Z.________ vom 13. April 2006 sowie einer Haushaltabklärung
und drei Stellungnahmen des Regionalen Ärztlichen Dienstes, RAD, vom 24. Mai,
30. September und 14. Dezember 2004 verneinte die IV-Stelle des Kantons Zürich
mit zwei Vorbescheiden vom 6. und 7. Dezember 2006 den Anspruch auf berufliche
Massnahmen sowie auf eine Invalidenrente mit der Begründung, die angestammte
Tätigkeit sei ihr weiterhin voll zumutbar. Nach Eingang der Vernehmlassung von
T.________ zum Vorbescheid, welcher eine Stellungnahme des Dr. V.________ vom
30. Januar 2007 zum Gutachten der medizinischen Begutachtungsstelle Z.________
beigelegt war, der Einholung eines Berichts des Dr. med. A.________, Facharzt
FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 22. Mai 2007 sowie einer weiteren
Stellungnahme des RAD wies die IV-Stelle mit Verfügung vom 20. Juli 2007 den
Anspruch auf eine Invalidenrente ab.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich mit Entscheid vom 20. Mai 2008 ab.

C.
T.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei eine
gründliche medizinische Abklärung vorzunehmen. Gestützt darauf sei ihr eine
Rente der Invalidenversicherung zuzusprechen. Zudem beantragt sie die Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG) und wenn die Behebung des Mangels für den
Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG).

1.2 Eine Verletzung von Bundesrecht nach Art. 95 lit. a BGG stellen
insbesondere die unvollständige Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen
sowie die Nichtbeachtung des Untersuchungsgrundsatzes nach Art. 61 lit. c ATSG
durch das kantonale Versicherungsgericht dar (Urteil 9C_534/2007 vom 27. Mai
2008 E. 1 mit Hinweisen).
Eine Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon dann offensichtlich unrichtig,
wenn sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und augenfällig
unzutreffend ist (BGE 132 I 42 E. 3.1 S. 44). Eine offensichtlich unrichtige
Sachverhaltsfeststellung weist damit die Tragweite von Willkür auf (Botschaft
vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 S.
4338; Markus Schott, Basler Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, N 9 f. zu Art.
97 BGG; Seiler/ von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, N
14 zu Art. 97 BGG). Es liegt noch keine offensichtliche Unrichtigkeit vor, nur
weil eine andere Lösung ebenfalls in Betracht fällt, selbst wenn diese als die
plausiblere erschiene (vgl. BGE 129 I 8 E. 2.1 S. 9). Eine
Sachverhaltsfeststellung ist etwa dann offensichtlich unrichtig, wenn das
kantonale Gericht den Sinn und die Tragweite eines Beweismittels offensichtlich
falsch eingeschätzt, ohne sachlichen Grund ein wichtiges und für den Ausgang
des Verfahrens entscheidendes Beweismittel nicht beachtet oder aus den
abgenommenen Beweisen unhaltbare Schlüsse gezogen hat (BGE 129 I 8 E. 2.1 S. 9;
Urteil 9C_882/2007 vom 11. April 2008 E. 5.1 mit Hinweis).

2.
Die Vorinstanz hat die gesetzlichen Bestimmungen und von der Rechtsprechung
entwickelten Grundsätze über den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 IVG
sowohl in der bis 31. Dezember 2003 als auch in der vom 1. Januar 2004 bis Ende
2007 gültig gewesenen Fassung), die Bemessung des Invaliditätsgrades bei
erwerbstätigen Versicherten nach der allgemeinen Methode des
Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG [in den bis Ende 2002 sowie vom 1.
Januar 2004 bis 31. Dezember 2007 geltenden Fassungen] und Art. 16 ATSG; BGE
130 V 343 E. 3.4 S. 348, 128 V 29 E. 1 S. 30, 104 V 135 E. 2a und b S. 136)
sowie zum Beweiswert und zur Beweiswürdigung ärztlicher Berichte und Gutachten
(BGE 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis) richtig dargelegt. Darauf wird
verwiesen.

3.
Streitig sind der Invaliditätsgrad und insbesondere die Arbeitsunfähigkeit
(Art. 6 ATSG).
Das kantonale Gericht kommt in Würdigung der medizinischen Akten gestützt auf
das Gutachten der medizinischen Begutachtungsstelle Z.________ vom 13. April
2006 und den Bericht des Prof. Dr. med. S.________ vom 8. September 2003 zum
Schluss, die Beschwerdeführerin sei "aus rheumatologischer Sicht voll
arbeitsfähig" (vorinstanzlicher Entscheid, E. 5.1). "Selbst unter Annahme einer
somatoformen Schmerzstörung mit invalidisierender Wirkung" werde bei einer
daraus resultierenden Arbeitsunfähigkeit von höchstens 30 % ein
rentenbegründender Invaliditätsgrad nicht erreicht (angefochtener Entscheid, E.
5.2).
Diese Entscheidung über die Arbeitsunfähigkeit als einer Tatsachenfeststellung
(BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 297) beruht insofern auf einem Rechtsfehler, als sie
den ausschliessenden Charakter der zur Diskussion stehenden Diagnosen zu
verkennen scheint: entweder wies die Beschwerdeführerin - wie früher
aktenmässig gesichert - auch noch im massgeblichen Zeitpunkt des
Verfügungserlasses am 20. Oktober 2007 ein radikuläres Schmerz- und
Ausfallsyndrom auf, welches infolge der mechanischen Druckeinwirkung von
Bandscheiben oder Wirbelkörper auf die Nervenwurzeln die Beschwerden erklärt
und zu einer (teilweisen) Arbeitsunfähigkeit führen kann; oder es liess sich
ein solcher Befund - zufolge zwischenzeitlich eingetretener spontaner
Rückbildung - nicht mehr bestätigen, womit erst die psychiatrische Diagnose
einer somatoformen Schmerzstörung in Erwägung zu ziehen gewesen wäre, welche
sich gerade dadurch auszeichnet, dass die geklagten Beschwerden keiner
hinreichenden Erklärung durch die organischen Befunde zugänglich sind (BGE 130
V 396 E. 6 S. 399), was wiederum voraussetzt, dass über die somatischen Aspekte
des Krankheitsbildes vorgängig Klarheit geschaffen werden muss. An dieser fehlt
es hier eindeutig: Wenn das kantonale Gericht das Gutachten der medizinischen
Begutachtungsstelle Z.________ im Punkte der (in verschiedenen Arztberichten
einwandfrei dokumentierten) radikulären Problematik als "nicht vollumfänglich
nachvollziehbar" und damit als dafür nicht beweiskräftig bezeichnet - was nicht
offensichtlich unrichtig und als Teilergebnis der Beweiswürdigung für das
Bundesgericht verbindlich ist -, lässt sich der Wegfall der radikulären
Pathologie im Zeitpunkt des Verfügungserlasses (20. Oktober 2007) nur
vertreten, wenn die übrige medizinische Aktenlage für eine solche Annahme
beweisend ist. Das lässt sich vom Bericht des Prof. Dr. med. S.________, auf
den sich die Vorinstanz in diesem Zusammenhang einzig stützt, schon deswegen
nicht sagen, weil seine vom 8. September 2003 datierenden Ausführungen einzig
eine mit Computertomogramm (2. August 2002) und Myelogramm (26. Mai 2003)
ausgewiesene Normalisierung der neurologischen Verhältnisse attestieren,
hingegen von vornherein keine Gewähr dafür bieten können, dass es in den
nachfolgenden drei und vier Jahren bis zur Begutachtung der medizinischen
Begutachtungsstelle Z.________ (13. April 2006) und Verfügungserlass (20.
Oktober 2007) nicht wieder zu einer Verschlechterung gekommen ist, was nach
versicherungsmedizinischer Erfahrung durchaus möglich ist und wofür hier die
anhaltende und behandlungsbedürftige Symptomatik spricht. Damit ist bezüglich
der umstrittenen Befunde und Diagnosen der zeitlich massgebende Sachverhalt
nicht festgestellt worden, womit eine schlüssige Beurteilung der
Arbeitsfähigkeit entfällt und der weiteren vorinstanzlichen
Invaliditätsbemessung der Boden entzogen ist.

Die IV-Stelle hat eine ergänzende Begutachtung der involvierten Fachrichtungen
(Neurologie, Rheumatologie und auch Orthopädie) in die Wege zu leiten.

4.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat der obsiegenden
Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs.
2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege, einschliesslich
Verbeiständung, ist damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 20. Mai 2008 und die
Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 20. Oktober 2007 werden
aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle des Kantons Zürich zurückgewiesen,
damit sie nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen über den Anspruch
neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'500.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 20. Oktober 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Helfenstein Franke