Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 618/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_618/2008

Urteil vom 18. Dezember 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Borella,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Parteien
B.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwältin Bibiane Egg, Langstrasse 4, 8004 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 17. Juni 2008.

Sachverhalt:

A.
Die 1958 geborene B.________ war seit 1. Dezember 2000 als Mithilfe in der
Küche und Abwaschküche bei der I.________ AG tätig. Am 14. Dezember 2004
meldete sie sich unter Hinweis auf Rücken- und Nackenprobleme bei der
Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Nach Beizug einer Auskunft der
Arbeitgeberin vom 25. Januar 2005 und gestützt auf die getroffenen Abklärungen,
u.a. ein psychiatrisches Gutachten des Dr. med. H.________ vom 10. Dezember
2005 sowie eine neurologische Expertise des Dr. med. M.________ vom 12. Januar
2006 ermittelte die IV-Stelle des Kantons Aargau einen Invaliditätsgrad von 37
%. Dementsprechend lehnte sie das Rentengesuch nach Durchführung des
Vorbescheidverfahrens am 16. April 2007 verfügungsweise ab mit der Begründung,
dass die Versicherte eine körperlich leichte Tätigkeit in einem Pensum von 70 %
verrichten und damit Einkünfte von 63 % des möglichen Einkommens ohne
Invalidität erzielen könnte, was den Anspruch auf eine Invalidenrente
ausschliesse.

B.
Die von B.________ hiegegen mit dem Antrag auf Zusprechung einer halben
Invalidenrente eingereichte Beschwerde wies das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau mit Entscheid vom 17. Juni 2008 ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt B.________ das
vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren erneuern; eventuell sei ihr eine
Viertelsrente zuzusprechen. Ferner ersucht sie um die Bewilligung der
unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Die Vorinstanz hat in Würdigung der Arztberichte sowie der Gutachten des
Psychiaters Dr. med. H.________ und des Neurologen Dr. med. M.________
festgestellt, dass die Arbeitsfähigkeit der Versicherten in einer
leidensangepassten Tätigkeit 70 % betrage. Hievon ist auszugehen. In der
Beschwerde wird nichts vorgebracht, was auf eine offensichtlich unrichtige und
damit unverbindliche Sachverhaltsfeststellung (E. 1 hievor) des kantonalen
Gerichts schliessen liesse. Soweit die Beschwerdeführerin die von den beiden
Fachärzten bescheinigten Teilarbeitsunfähigkeiten addieren möchte, kann ihr
nicht gefolgt werden. Massgebend ist vielmehr eine gesamthafte Würdigung der
physischen und psychischen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit, wie sie von
Dr. med. M.________ unter Beachtung der Befunde des Dr. med. H.________
vorgenommen wurde, könnte doch andernfalls Überschneidungen zwischen den
einzelnen Fachgebieten nicht Rechnung getragen werden.

3.
3.1 In erwerblicher Hinsicht ging die Vorinstanz von einem hypothetischen
Einkommen ohne Invalidität (Valideneinkommen) von Fr. 48'579.- im Jahr aus,
entsprechend dem dem Nominallohnindex 2006 angepassten Einkommen, das die
Versicherte zuletzt bei der I.________ AG verdient hatte. Das
Invalideneinkommen setzte sie gestützt auf die Tabellenlöhne gemäss
Lohnstrukturerhebung (LSE) des Bundesamtes für Statistik 2006 für ein um 30 %
reduziertes Arbeitspensum auf Fr. 35'194.- im Jahr fest. Hievon nahm die
Vorinstanz einen leidensbedingten Abzug von 10 % vor, womit sich ein
Invalideneinkommen von Fr. 31'675.- (Fr. 35'194.- x 0,9) ergab. Verglichen mit
dem Valideneinkommen von Fr. 48'579.- im Jahr resultiere eine Erwerbseinbusse
von Fr. 16'904.-, entsprechend einem Invaliditätsgrad von 35 %.

3.2 Mit Bezug auf den Einkommensvergleich macht die Versicherte in erster Linie
geltend, in ihrem Fall sei der von ihr bei der I.________ AG als Mitarbeiterin
in der Küche mit einer Tätigkeit von 50 % erzielte Lohn als Invalideneinkommen
heranzuziehen. Als Valideneinkommen sei der Lohn zu betrachten, den sie an
ihrem Arbeitsplatz mit einem vollzeitlichen Pensum erzielen könnte (Fr. 3550.-
x 13 = Fr. 46'150.- im Jahr).

3.3 Für die Bestimmung des trotz Gesundheitsschädigung zumutbarerweise noch
realisierbaren Einkommens ist primär von der beruflich-erwerblichen Situation
auszugehen, in welcher die versicherte Person konkret steht. Übt sie nach
Eintritt der Invalidität eine Erwerbstätigkeit aus, bei der - kumulativ -
besonders stabile Arbeitsverhältnisse gegeben sind und anzunehmen ist, dass sie
die ihr verbleibende Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft,
sowie das Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und nicht als
Soziallohn erscheint, gilt grundsätzlich der tatsächlich erzielte Verdienst als
Invalidenlohn (BGE 126 V 75 E. 3b/aa S. 76 mit Hinweisen).

3.4 Wie die Vorinstanz mit zutreffender Begründung dargelegt hat, sind die
Voraussetzungen, unter denen für die Festsetzung des Invalideneinkommens auf
den tatsächlich erzielten Lohn abzustellen ist, nicht erfüllt. Zwar mag es sich
um ein stabiles Arbeitsverhältnis handeln, aber die Beschwerdeführerin schöpft
mit einem Pensum von 50 % ihre Restarbeitsfähigkeit, welche laut Gutachtern in
einer angepassten Tätigkeit 70 % beträgt, nicht voll aus, handelt es sich doch
bei der Anstellung bei der I.________ AG nicht um eine leidensangepasste
Arbeit. Demgemäss entspricht der Lohn nicht dem Einkommen, das die Versicherte
mit einer angepassten Erwerbstätigkeit in einem Pensum von 70 % erzielen
könnte. Somit hat es bei dem von der Vorinstanz als massgebend erachteten
Invalideneinkommen zu bleiben.

3.5 Das Versicherungsgericht hat von dem anhand der Tabellenlöhne ermittelten
hypothetischen Einkommen von Fr. 35'194.- einen leidensbedingten Abzug von 10 %
vorgenommen, woraus sich ein Invalideneinkommen von Fr. 31'675.- ergab. Die
Beschwerdeführerin vertritt die Auffassung, der Abzug sei auf 25 %
heraufzusetzen. Die Frage nach der Höhe des (im konkreten Fall grundsätzlich
angezeigten) Leidensabzuges ist eine typische Ermessensfrage, deren
Beantwortung letztinstanzlicher Korrektur nurmehr dort zugänglich ist, wo das
kantonale Gericht das Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hat, also
Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung vorliegt (BGE 132 V
393 E. 3.3 S. 399). Eine solche fehlerhafte Ermessensausübung kann der
Vorinstanz, welche die bei der Festlegung des Abzuges in Betracht fallenden
Gesichtspunkte sorgfältig und einlässlich gewürdigt hat, nicht vorgeworfen
werden.

3.6 Demzufolge resultiert ein Invaliditätsgrad von 35 %, wie ihn die Vorinstanz
ermittelt hat. Ob das Valideneinkommen (gemäss vorinstanzlichem Entscheid Fr.
48'579.-) entsprechend den Vorbringen der Beschwerdeführerin auf lediglich Fr.
46'150.- reduziert werden soll, kann offenbleiben. Denn ein tieferes
Valideneinkommen hätte einen tieferen Invaliditätsgrad mit ebenfalls fehlender
Rentenberechtigung zur Folge.

4.
Dem Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung kann entsprochen
werden, da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2
BGG). Die Beschwerdeführerin wird jedoch auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen.
Danach hat die Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu
in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwältin Bibiane Egg, Zürich, wird aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2500.- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. Dezember 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Widmer