Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 595/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_595/2008

Urteil vom 5. November 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Parteien
R.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Fürsprecher Dr. Charles Wick, Kirchenfeldstrasse 68, 3005 Bern,

gegen

Helsana Versicherungen AG, Birmensdorferstrasse 94, 8024 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Krankenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 6. Februar 2008.

Sachverhalt:

A.
R.________ war bei der Helsana Versicherungen AG (nachfolgend: Helsana) in der
Kollektiv-Krankentaggeldversicherung Business Salary nach KVG versichert. Ab 4.
März 2002 war er in seiner angestammten Tätigkeit als gelernter Maurer zu 100 %
arbeitsunfähig geschrieben. Die Helsana erbrachte Krankentaggeldleistungen, die
sie zunächst per 1. September 2003 mit der Begründung einstellte, der
Versicherte habe seine Mitwirkungs- und Schadenminderungspflicht
vernachlässigt. Mit Verfügung vom 28. November 2003 bestätigte sie die
Beendigung, setzte aber den Abschluss auf den 30. September 2003 fest. Die
dagegen erhobene Einsprache hiess sie teilweise gut und fixierte den Endtermin
neu auf den 30. November 2003 (Entscheid vom 14. Dezember 2004).

B.
Die von R.________ erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Bern ab; abweichend zum Einspracheentscheid setzte es für das Anspruchsende
wiederum den 30. September 2003 fest (Entscheid vom 6. Februar 2008).

C.
R.________ erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt die Aufhebung des kantonalen Entscheides; die Helsana sei anzuweisen,
die Taggelder auch für die Zeit ab 1. Dezember 2003 bis zur Erschöpfung der
Leistungsdauer auszurichten.
Die Helsana beantragt Abweisung der Beschwerde. Vorinstanz und Bundesamt für
Gesundheit verzichten auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Das kantonale Gericht hat die für die Beurteilung des Anspruchs auf Leistungen
der freiwilligen Taggeldversicherung nach KVG massgeblichen Grundlagen (Art. 6
ATSG, Art. 67-77 KVG und 107-109 KVV sowie die diesbezügliche Rechtsprechung)
zutreffend dargelegt.

2.
Weil die Vorinstanz über die Beschwerde materiell entschieden hat, besteht kein
schutzwürdiges Interesse an einer Feststellung der auf Grund der Dauer des
kantonalen Verfahrens behaupteten Rechtsverzögerung; es besteht kein Anlass zu
einer solchen Prüfung (BGE 125 V 373 E. 1 S. 374; SVR 1998 UV Nr. 11 S. 32 E.
5b/aa).

3.
Mit der rückwirkenden Zusprechung eines befristeten Taggeldes wird ein
Rechtsverhältnis im anfechtungs- und streitgegenständlichen Sinne geregelt. Die
reformatio in peius ist zwar nur im Rahmen des Streitgegenstands zulässig; wird
aber lediglich die Befristung der Leistungen angefochten, wird damit die
richterliche Überprüfungsbefugnis nicht in dem Sinne eingeschränkt, dass
unbestritten gebliebene Bezugszeiten von der Beurteilung ausgeklammert bleiben.
Wenn darum im Einspracheentscheid das Taggeld noch bis zum 30. November 2003
ausgerichtet wurde, war die reformatio in peius im kantonalen Verfahren durch
Verneinung der Anspruchsberechtigung bereits ab 1. Oktober 2003 grundsätzlich
zulässig. Die Rüge, die Vorinstanz habe sich in diesem Zusammenhang zu Unrecht
auf BGE 125 V 413 berufen, ist unbegründet, weil diese Rechtsprechung nicht nur
für Renten, sondern auch für Taggelder gilt (BGE 127 V 458 nicht publ. E. 1;
Urteil I 525/03 vom 8. August 2005, E. 3.1)

4.
Zu weiteren Vorbringen ist Folgendes anzuführen:

4.1 Der allgemeine sozialversicherungsrechtliche Grundsatz der
Schadenminderungspflicht gebietet, dass die versicherte Person nach Eintritt
des Schadens alle ihr möglichen und zumutbaren Massnahmen zu treffen hat, um
diesen zu mindern oder zu beheben (BGE 129 V 460 E. 4.2 S. 463, 123 V 230 E. 3c
S. 233, 117 V 275 E. 2b S. 278 und 394 E. 4b S. 400, je mit Hinweisen). Sie
umfasst auch die Pflicht zur Annahme einer möglichen Arbeit (BGE 114 V 281 E. 3
S. 285 f., 129 V 460 E. 4.2 S. 463; RKUV 2005 Nr. KV 342 S. 356 E. 1.3 [Urteil
K 42/05 vom 11. Juli 2005). Dies gilt von Gesetzes wegen (Art. 6 Satz 2 ATSG),
und zwar unabhängig davon, ob noch ein Arbeitsverhältnis besteht (Urteil K 64/
05 vom 29. Juni 2006, E. 4.4), d.h. ebenso losgelöst davon, ob die versicherte
Person arbeitsvertraglich verpflichtet ist, den Beruf zu wechseln. Denn auch
wenn das Arbeitsverhältnis noch bestand und der Arbeitgeber eine
Lohnfortzahlungspflicht gehabt hätte, die mit dem Taggeld abgegolten worden
ist, war der Beschwerdeführer doch Empfänger einer Versicherungsleistung. Trotz
laufendem Arbeitsvertrag hätte er daher - nicht auf Grund des Arbeitsvertrags,
aber auf Grund des Sozialversicherungsrechts - eine andere zumutbare
Beschäftigung suchen müssen. Eine Taggeldversicherung dient dem
Einkommensersatz und löst die Lohnfortzahlungspflicht eines Arbeitgebers nur
soweit und solange ab, als es dem Arbeitnehmer aus gesundheitlichen Gründen
nicht möglich ist, die vertraglich übernommenen Verpflichtungen zum Teil oder
ganz zu erfüllen oder aber eben anderweitig erwerbstätig zu sein. Sie ist
jedoch nicht dazu bestimmt, einem Leistungsansprecher auch dann einen
Lohnausfall auszugleichen, wenn er wieder ein Erwerbseinkommen erzielen könnte.

4.2 Die in der Beschwerde angerufene Regelung in Art. 68 ATSG, wonach Taggelder
unter Vorbehalt der Überentschädigung kumulativ zu Renten anderer
Sozialversicherungen gewährt werden, kommt nur zum Tragen, wenn überhaupt ein
Taggeldanspruch besteht, was hier aber gerade strittig ist.

4.3 Es ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz (Art. 31 Abs. 1 ATSG), dass jede
wesentliche Änderung in den für eine Leistung massgebenden Verhältnissen dem
Versicherungsträger oder der zur Durchführung der Versicherung zuständigen
Behörde zu melden ist. Eine erfolgreiche Umschulung, die Aufnahme einer Arbeit
oder generell die Erlangung der Arbeitsfähigkeit in einer zumutbaren Tätigkeit
sind Umstände, welche für die Leistungspflicht von Bedeutung sein können und
daher der Meldepflicht unterliegen (KIESER, ATSG-Kommentar, N 6 zu Art. 31). Es
ist erstellt, dass der Beschwerdeführer seine Meldepflicht verletzt hat, weil
er der Versicherung weder die Umschulung zum Chauffeur noch die Aufnahme einer
Tätigkeit im Geschäft seines Cousins mitgeteilt hat. In diesem Zusammenhang ist
relevant, dass die Restarbeitsfähigkeit generell in einer zumutbaren anderen
Beschäftigung verwertet werden muss, und deshalb nicht entscheidend ist,
welcher Art die erwähnte Tätigkeit im Geschäft des Verwandten war. Dass die
Vorinstanz darüber nicht Beweis geführt hat, stellt darum keine
Rechtsverletzung dar.

4.4 Streitig ist das Bestehen eines Leistungsanspruchs gegen die
Taggeldversicherung und nicht die Sanktionierung der Missachtung von
Formvorschriften und dergleichen, die dem Verhältnismässigkeitsprinzip
unterliegt (BGE 129 V 51 E. 1.2, 127 V 154 E. 4). Das Bestehen eines
Leistungsanspruchs hängt entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht
von Verhältnismässigkeitsüberlegungen oder vom Verschulden ab, sondern nur
davon, ob die Voraussetzungen für eine Leistung erfüllt sind.

4.5 Nach der Rechtsprechung kann die Taggeldleistung grundsätzlich erst nach
drei bis fünf Monaten seit der Aufforderung zum Berufswechsel eingestellt
werden (BGE 129 V 460 E. 4.3; Urteile K 14/99 vom 7. Februar 2000, E. 3a, und K
17/99 vom 23. August 1999, E. 2b). Solches ist hier nicht erfolgt. Der
Versicherte soll aber durch sein Unterlassen möglicherweise wesentlicher
Mitteilungen nicht besser gestellt werden, als bei korrekter Erfüllung der ihm
auferlegten Pflichten. Wer infolge einer Pflichtverletzung eine Leistung
erhält, die er bei korrekter Erfüllung nicht erhalten hätte, bezieht die
Leistung zu Unrecht. Solche Leistungen sind nach Art. 25 Abs. 1 ATSG
zurückzuerstatten. Es wäre indes paradox, wenn der Versicherer die Leistung
erbringen müsste und gleichzeitig zurückfordern könnte.

5.
Allerdings erlischt die Leistungspflicht des Taggeldversicherers nicht
automatisch vollumfänglich, wenn eine andere Tätigkeit zumutbar ist. Ist das in
dieser anderen Tätigkeit erzielbare Einkommen geringer, so verbleibt ein
Restschaden, für den der Taggeldversicherer leistungspflichtig bleibt (BGE 114
V 281 E. 3 S. 283). Der angefochtene Entscheid enthält keinerlei Feststellungen
darüber, wie gross die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers in einer anderen
Tätigkeit gewesen wäre, und wieviel er dort zumutbarerweise hätte verdienen
können. Der Sachverhalt ist insofern unvollständig festgestellt, und das
Bundesgericht kann auf Grund der Akten selber entscheiden (Art. 105 Abs. 2
BGG): Gemäss dem offenbar rechtskräftigem Entscheid der Invalidenversicherung
vom 21. Juni 2005 besteht ein Invaliditätsgrad von 17 %. Eine solche
Einkommenseinbusse lässt auf eine Arbeitsunfähigkeit schliessen, die tiefer ist
als 25 %, dem nach den massgebenden Versicherungsbedingungen vorausgesetzten
Mindestgrad für den Anspruch auf ein (gekürztes) Taggeld (Ziff. 13.1 AVB
Business Salary 2004).

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 5. November 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz