Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 549/2008
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_549/2008

Urteil vom 30. April 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Parteien
Wincare Versicherungen, Konradstrasse 14, 8401 Winterthur, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Sanitas Grundversicherungen AG, Lagerstrasse 107, 8004 Zürich,

gegen

D.________, Beschwerdegegnerin,
vertreten durch die Klinik X.________, und diese substituiert durch
Rechtsanwalt Beat Meyer.

Gegenstand
Krankenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 23. Mai 2008.

Sachverhalt:

A.
Die im Kanton Zürich wohnhafte D.________ (geb. 1935) ist bei der Wincare
Versicherungen obligatorisch krankenpflegeversichert. Nachdem sie am 14.
Oktober 2005 an ihrem linken Knie im Spital A.________ eine
Hemiprothesen-Implantation hatte vornehmen lassen, wurde sie in der Klinik
X.________ (Kanton Aargau) zur intensiven stationären physikalischen
Rehabilitation angemeldet. Dieses Spital mit privater Trägerschaft ist
Bestandteil der Zürcher Spitalliste A (Institutionen mit Zulassung zur
Versorgung von Patientinnen und Patienten in der Allgemeinen Abteilung zu
Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung) mit dem Leistungsauftrag
neurologische, orthopädische und rheumatologische Rehabilitation. Die Wincare
leistete mit Schreiben vom 9. September 2005 Kostengutsprache im Rahmen eines
Referenztarifs für eine solche Behandlung in der zürcherischen Klinik
Y.________ (Tagespauschale von Fr. 123.- und einmalige Fallpauschale von Fr.
1'100.-).

Vom 25. Oktober bis 7. November 2005 hielt sich D.________ zur stationären
Rehabilitation in der Klinik X.________ auf. In ihrem Namen gelangte die Klinik
am 20. März 2006 an die Wincare und verlangte die volle Kostenübernahme für den
stationären Aufenthalt gemäss dem Tarif für ausserkantonale Patientinnen und
Patienten. Mit Verfügung vom 30. Juni 2006 bestätigte die Wincare die Übernahme
der Kosten im Rahmen des Pauschaltarifs von Fr. 123.- pro Tag und der
einmaligen Fallpauschale von Fr. 1'100.-. Daran hielt sie auf Einsprache der
Versicherten hin fest (Entscheid vom 12. Januar 2007).

B.
Die von D.________ erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich mit Entscheid vom 23. Mai 2008 gut, hob den Einspracheentscheid
auf und verpflichtete die Wincare, für den Rehabilitationsaufenthalt in der
Klinik X.________ vom 25. Oktober bis 7. November 2005 die Kosten nach dem
Standorttarif für ausserkantonale Patientinnen und Patienten zu übernehmen.

C.
Die Wincare erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben; sie habe für den
streitigen Rehabilitationsaufenthalt nur die Kosten des Referenzspitals Klinik
Y.________ (Tagespauschale Fr. 123.- und einmalige Fallpauschale von Fr.
1'100.-) zu übernehmen.

D.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für
Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Es steht fest und ist unbestritten, dass die Beschwerdegegnerin die ausserhalb
ihres Wohnkantons gelegene, auf der Spitalliste des Kantons Zürich aufgeführte
Klinik X.________ nicht in einer Notfallsituation aufgesucht hat und dass die
streitbetroffene Therapie grundsätzlich auch in einer im Kanton Zürich
gelegenen Heilanstalt (Klinik Y.________) möglich gewesen wäre.

2.
In der vorliegend anwendbaren, bis 31. Dezember 2008 gültig gewesenen Fassung
sah Art. 41 KVG vor, dass die Versicherten unter den zugelassenen
Leistungserbringern, die für die Behandlung ihrer Krankheit geeignet sind, frei
wählen können (Abs. 1 Satz 1) und dass der Versicherer bei stationärer oder
teilstationärer Behandlung die Kosten höchstens nach dem Tarif übernehmen muss,
der im Wohnkanton der versicherten Person gilt (Abs. 1 Satz 3). In Absatz 2
Satz 1 derselben Bestimmung war geregelt, dass sich die Kostenübernahme, wenn
Versicherte aus medizinischen Gründen einen anderen Leistungserbringer
beanspruchen, nach dem Tarif richtet, der für diesen Leistungserbringer gilt.
Medizinische Gründe lagen (ausser in den hier nicht zur Diskussion stehenden
Notfällen) bei stationärer oder teilstationärer Behandlung vor, wenn die
erforderlichen Leistungen im Wohnkanton oder in einem auf der Spitalliste des
Wohnkantons aufgeführten ausserkantonalen Spital nicht angeboten wurden (Abs. 2
lit. b KVG).

3.
3.1 Das Eidg. Versicherungsgericht hat in BGE 127 V 398 (auf den sich die
Beschwerdeführerin beruft) in einer analogen Situation (Aufenthalt einer im
Kanton Basel-Stadt wohnhaften Versicherten in einer im Kanton Basel-Landschaft
gelegenen, auf der gemeinsamen Spitalliste Basel-Stadt/Basel-Landschaft
aufgeführten Klinik) entschieden, die obligatorische Krankenpflegeversicherung
müsse die Kosten nur im Umfang desjenigen Tarifs übernehmen, der im Wohnkanton
der Versicherten gelte (bestätigt in RKUV 2003 KV Nr. 254 S. 234, K 77/01 E.
5.4; Urteil K 156/05 vom 30. März 2006 E. 5.2; K 50/03 vom 3. Dezember 2003 E.
6). Zur Begründung führte es aus, dass zwischen der Frage der Zulassung der
Leistungserbringer (Art. 35-40 KVG) einerseits und der tarifvertraglichen
Rechtslage nach Art. 41 KVG andererseits zu unterscheiden sei. Art. 41 Abs. 2
KVG nenne die Voraussetzungen, unter denen ein Patient sich zu Lasten der
sozialen Krankenversicherung bei vollem Tarifschutz in einem ausserkantonalen
Spital behandeln lassen könne. Wenn ein Kanton ein ausserkantonales Spital auf
seine Spitalliste setze, so sei dies zwar zulässig, bedeute aber nur, dass es
sich dabei um einen zugelassenen Leistungserbringer handle, welcher
KVG-pflichtige Kostenvergütungsansprüche auslöse, sage aber nichts aus über die
Frage des anwendbaren Tarifs. Dafür bleibe im Regelfall Art. 41 Abs. 1 Satz 3
KVG massgebend, ausser wenn medizinische Gründe im Sinne von Art. 41 Abs. 2 KVG
vorlägen. Die gegenteilige Auffassung stehe im Widerspruch zu den Materialien.

3.2 Die Vorinstanz weicht bewusst von BGE 127 V 398 ab. Sie führt unter Hinweis
auf die Materialien zu Art. 41 KVG aus, die ausserkantonalen Spitäler auf der
Spitalliste seien gleich zu behandeln wie die eigenen kantonalen Spitäler.
Damit sollten Anreize gesetzt werden, dass die Kantone im Sinne einer
gesamthaften Planung und mittels Aushandelns attraktiver Tarife für die eigenen
Kantonseinwohner miteinander zusammenarbeiten. Bei einer solchen Zusammenarbeit
werde ein ausserkantonales Spital zu einem innerkantonalen. Der erhöhte Tarif
solle nicht schon dann zur Anwendung gelangen, wenn eine bestimmte Behandlung
im Wohnkanton nicht angeboten werde, sondern erst dann, wenn es diese
Behandlung auch auf der mit ausserkantonalen Spitälern versehenen Spitalliste
des Wohnkantons nicht gebe. Der volle Tarifschutz nach Art. 44 KVG werde damit
auf die ausserkantonale Behandlung in Listenspitälern des Wohnkantons
ausgedehnt. Im Rahmen einer systematischen Auslegung von Art. 41 KVG sei auch
zu berücksichtigen, dass der Kanton Zürich im Sinne der vom Gesetz ermöglichten
interkantonalen Zusammenarbeit 80 % des gesamten kantonalen Bedarfs an
Infrastruktur für stationäre Rehabilitationsaufenthalte mit ausserkantonalen
Kliniken abdecke. Es wäre systemwidrig und mit dem Grundsatz der
Rechtsgleichheit nicht vereinbar, die stationäre Behandlung in einem
Listenspital im Wohnkanton und jene ausserhalb des Wohnkantons unterschiedlich
zu behandeln.

3.3 Der Rechtsprechung gemäss BGE 127 V 398 erwuchs auch in der Lehre Kritik.
Dem Bundesgericht wurde vorgeworfen, die Materialien zu Art. 41 KVG falsch
interpretiert zu haben (Roggo/Staffelbach, Interkantonale Spitalplanung und
Kostentragung - Stellenwert der "geschlossenen Spitalliste" im Falle von
"medizinischem Grund im weiteren Sinne", AJP 2006 S. 267 ff., 273 ff.). Sodann
wurde postuliert, bei einer Behandlung in einem ausserkantonalen Listenspital
müsse gleich wie bei einem innerkantonalen der volle Tarifschutz bestehen, weil
sonst die angestrebte interkantonale Zusammenarbeit bei der Grundversorgung
behindert werde (Beat Meyer, Schranken und Freiräume von Art. 41 KVG, in:
Ausserkantonale Hospitalisation, Thomas Gächter [Hrsg.], 2006, S. 1-16, 8 f.).

3.4 Ob diese Kritik berechtigt ist, braucht nicht geprüft zu werden. Denn der
hier zu beurteilende Fall liegt - wie der vom Bundesgericht am 27. April 2009
entschiedene 9C_548/2008 - insofern besonders, als im Kanton Zürich nur gerade
etwas mehr als 20 % des Bedarfs an Infrastruktur für stationäre
Rehabilitationsaufenthalte durch innerkantonale Kliniken gedeckt werden kann
(vgl. Schreiben der Gesundheitsdirektion vom 30. August 2005) und mithin die
Mehrheit der Zürcher Versicherten auf ausserkantonale, auf der Zürcher
Spitalliste aufgeführte Rehabilitationskliniken, wie die von der
Beschwerdegegnerin aufgesuchte Klinik X.________, angewiesen ist (vgl. auch
Bundesamt für Statistik [BFS], Krankenhausstatistik 2005, Tabelle D1, wonach
der Kanton Zürich in Rehabilitationskliniken nur gerade über 144 Betten
verfügt, was gemessen an der ständigen Wohnbevölkerung von 1'272'590 [vgl.
Bundesamt für Statistik, Statistik des jährlichen Bevölkerungsstandes ESPOP
2005] auch im interkantonalen Vergleich einem geringen Versorgungsgrad
entspricht). Das Bundesgericht gelangte in E. 3.4 dieses unlängst gefällten
Urteils zum Ergebnis, dass es einem fehlenden Angebot innerkantonaler
Behandlungsmöglichkeiten derart nahe kommt, wenn der Kanton Zürich in seiner
Spitalplanung für stationäre Rehabilitationsaufenthalte der Wohnbevölkerung zu
rund 80 % auf ausserkantonale Kliniken zurückgreift, dass es sich rechtfertigt,
auch diese geplante Auslagerung des Rehabilitationsbedarfs in ausserkantonale
Kliniken als medizinischen Grund im Sinne von Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG gelten
zu lassen (vgl. betr. Kapazitätsengpässe auch RKUV 2003 KV Nr. 254 S. 234, K 77
/01 E. 5.1 und Urteil K 29/93 vom 4. August 1993: vgl. auch Eugster,
Krankenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale
Sicherheit, 2. Aufl. 2007, Rz. 965 S. 724 f.). Nur diese (weite) Interpretation
der medizinischen Gründe nach Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG wird dem Grundgedanken
des KVG, dass die medizinisch indizierte Versorgung tarifgeschützt im Rahmen
der Grundversicherung erfolgen können soll, gerecht (vgl. auch die am 1. Januar
2009 in Kraft getretene Bestimmung des Art. 41 Abs. 1bis KVG, gemäss welcher
auch für Behandlungen in einem ausserkantonalen, in der Wahlfreiheit der
versicherten Person stehenden Listenspital des Wohnkantons der volle
Tarifschutz gilt).

3.5 Sind nach dem Gesagten medizinische Gründe für den Aufenthalt in der Klinik
X.________ im Falle der Beschwerdegegnerin zu bejahen, hat die
Beschwerdeführerin die Kosten nach dem für dieses Spital geltenden Tarif
(Standorttarif) zu übernehmen, wie die Vorinstanz im Ergebnis zutreffend
erkannt hat.

4.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Als unterliegende Partei hat
die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Überdies hat sie der Beschwerdegegnerin eine Parteientschädigung auszurichten
(Art. 68 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 30. April 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Keel Baumann