Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 548/2008
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_548/2008

Urteil vom 27. April 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Parteien
Wincare Versicherungen, Konradstrasse 14, 8401 Winterthur, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Sanitas Grundversicherungen AG, Lagerstrasse 107, 8004 Zürich,

gegen

R.________, Beschwerdegegnerin,
vertreten durch die Klinik X.________,
und diese substituiert durch Rechtsanwalt Beat Meyer.

Gegenstand
Krankenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 23. Mai 2008.

Sachverhalt:

A.
R.________, geboren 1953, wohnhaft im Kanton Zürich, ist bei der Wincare
Versicherungen obligatorisch krankenpflegeversichert. Sie leidet an einer
Multisystemerkrankung des zentralen Nervensystems, die unter anderem zu einer
Gehstörung führt. Zur Verbesserung des Gangbildes begab sie sich ab 1998
jährlich zur stationären Rehabilitation in die Klinik X.________ (Kanton
Aargau). Dieses Spital mit privater Trägerschaft ist Bestandteil der Zürcher
Spitalliste A (Institutionen mit Zulassung zur Versorgung von Patientinnen und
Patienten in der Allgemeinen Abteilung zu Lasten der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung) mit dem Leistungsauftrag neurologische,
orthopädische und rheumatologische Rehabilitation. Die Wincare übernahm für
diese Aufenthalte jeweils die Kosten in der Höhe der mit der Klinik X.________
vertraglich festgelegten Tagespauschale von zuletzt (Jahr 2004) Fr. 545.-.
Auch vom 28. Oktober bis 24. November 2005 hielt sich R.________ wieder zur
stationären Rehabilitation in der Klinik X.________ auf. Die Wincare übernahm
die Kosten nur im Rahmen eines Referenztarifs für eine solche Behandlung in der
zürcherischen Klinik Y.________ (Tagespauschale von Fr. 123.- und einmalige
Fallpauschale von Fr. 1'100.-). Daran hielt sie mit Verfügung vom 6. Juni 2006
und Einspracheentscheid vom 18. Dezember 2006 fest.

B.
Die von R.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 23. Mai 2008
gut, hob den Einspracheentscheid auf und verpflichtete die Wincare, für den
Rehabilitationsaufenthalt in der Klinik X.________ vom 28. Oktober bis 24.
November 2005 die Kosten nach dem Standorttarif für ausserkantonale
Patientinnen und Patienten zu übernehmen.

C.
Die Wincare erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben; sie habe für den
streitigen Rehabilitationsaufenthalt nur die Kosten des Referenzspitals Klinik
Y.________ (Tagespauschale Fr. 123.- und einmalige Fallpauschale von Fr. 1'100)
zu übernehmen.

R.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Es steht fest und ist unbestritten, dass die Beschwerdegegnerin die ausserhalb
ihres Wohnkantons gelegene, auf der Spitalliste des Kantons Zürich aufgeführte
Klinik X.________ nicht in einer Notfallsituation aufgesucht hat und dass die
streitbetroffene Therapie grundsätzlich auch in einer im Kanton Zürich
gelegenen Heilanstalt (Klinik Y.________) möglich gewesen wäre.

2.
In der vorliegend anwendbaren, bis 31. Dezember 2008 gültig gewesenen Fassung
sah Art. 41 KVG vor, dass die Versicherten unter den zugelassenen
Leistungserbringern, die für die Behandlung ihrer Krankheit geeignet sind, frei
wählen können (Abs. 1 Satz 1) und dass der Versicherer bei stationärer oder
teilstationärer Behandlung die Kosten höchstens nach dem Tarif übernehmen muss,
der im Wohnkanton der versicherten Person gilt (Abs. 1 Satz 3). In Absatz 2
Satz 1 derselben Bestimmung war geregelt, dass sich die Kostenübernahme, wenn
Versicherte aus medizinischen Gründen einen anderen Leistungserbringer
beanspruchen, nach dem Tarif richtet, der für diesen Leistungserbringer gilt.
Medizinische Gründe lagen (ausser in den hier nicht zur Diskussion stehenden
Notfällen) bei stationärer oder teilstationärer Behandlung vor, wenn die
erforderlichen Leistungen im Wohnkanton oder in einem auf der Spitalliste des
Wohnkantons aufgeführten ausserkantonalen Spital nicht angeboten wurden (Abs. 2
lit. b KVG).

3.
3.1 Das Eidg. Versicherungsgericht hat in BGE 127 V 398 (auf den sich die
Beschwerdeführerin beruft) in einer analogen Situation (Aufenthalt einer im
Kanton Basel-Stadt wohnhaften Versicherten in einer im Kanton Basel-Landschaft
gelegenen, auf der gemeinsamen Spitalliste Basel-Stadt/Basel-Landschaft
aufgeführten Klinik) entschieden, die obligatorische Krankenpflegeversicherung
müsse die Kosten nur im Umfang desjenigen Tarifs übernehmen, der im Wohnkanton
der Versicherten gelte (bestätigt in RKUV 2003 KV Nr. 254 S. 234, K 77/01 E.
5.4; Urteil K 156/05 vom 30. März 2006 E. 5.2; K 50/03 vom 3. Dezember 2003 E.
6). Zur Begründung führte es aus, dass zwischen der Frage der Zulassung der
Leistungserbringer (Art. 35-40 KVG) einerseits und der tarifvertraglichen
Rechtslage nach Art. 41 KVG andererseits zu unterscheiden sei. Art. 41 Abs. 2
KVG nenne die Voraussetzungen, unter denen ein Patient sich zu Lasten der
sozialen Krankenversicherung bei vollem Tarifschutz in einem ausserkantonalen
Spital behandeln lassen könne. Wenn ein Kanton ein ausserkantonales Spital auf
seine Spitalliste setze, so sei dies zwar zulässig, bedeute aber nur, dass es
sich dabei um einen zugelassenen Leistungserbringer handle, welcher
KVG-pflichtige Kostenvergütungsansprüche auslöse, sage aber nichts aus über die
Frage des anwendbaren Tarifs. Dafür bleibe im Regelfall Art. 41 Abs. 1 Satz 3
KVG massgebend, ausser wenn medizinische Gründe im Sinne von Art. 41 Abs. 2 KVG
vorlägen. Die gegenteilige Auffassung stehe im Widerspruch zu den Materialien.

3.2 Die Vorinstanz weicht bewusst von BGE 127 V 398 ab. Sie führt unter Hinweis
auf die Materialien zu Art. 41 KVG aus, die ausserkantonalen Spitäler auf der
Spitalliste seien gleich zu behandeln wie die eigenen kantonalen Spitäler.
Damit sollten Anreize gesetzt werden, dass die Kantone im Sinne einer
gesamthaften Planung und mittels Aushandelns attraktiver Tarife für die eigenen
Kantonseinwohner miteinander zusammenarbeiten. Bei einer solchen Zusammenarbeit
werde ein ausserkantonales Spital zu einem innerkantonalen. Der erhöhte Tarif
solle nicht schon dann zur Anwendung gelangen, wenn eine bestimmte Behandlung
im Wohnkanton nicht angeboten werde, sondern erst dann, wenn es diese
Behandlung auch auf der mit ausserkantonalen Spitälern versehenen Spitalliste
des Wohnkantons nicht gebe. Der volle Tarifschutz nach Art. 44 KVG werde damit
auf die ausserkantonale Behandlung in Listenspitälern des Wohnkantons
ausgedehnt. Im Rahmen einer systematischen Auslegung von Art. 41 KVG sei auch
zu berücksichtigen, dass der Kanton Zürich im Sinne der vom Gesetz ermöglichten
interkantonalen Zusammenarbeit 80 % des gesamten kantonalen Bedarfs an
Infrastruktur für stationäre Rehabilitationsaufenthalte mit ausserkantonalen
Kliniken abdecke. Es wäre systemwidrig und mit dem Grundsatz der
Rechtsgleichheit nicht vereinbar, die stationäre Behandlung in einem
Listenspital im Wohnkanton und jene ausserhalb des Wohnkantons unterschiedlich
zu behandeln.

3.3 Der Rechtsprechung gemäss BGE 127 V 398 erwuchs auch in der Lehre Kritik.
Dem Bundesgericht wurde vorgeworfen, die Materialien zu Art. 41 KVG falsch
interpretiert zu haben (Roggo/Staffelbach, Interkantonale Spitalplanung und
Kostentragung - Stellenwert der "geschlossenen Spitalliste" im Falle von
"medizinischem Grund im weiteren Sinne", AJP 2006 S. 267 ff., 273 ff.). Sodann
wurde postuliert, bei einer Behandlung in einem ausserkantonalen Listenspital
müsse gleich wie bei einem innerkantonalen der volle Tarifschutz bestehen, weil
sonst die angestrebte interkantonale Zusammenarbeit bei der Grundversorgung
behindert werde (Beat Meyer, Schranken und Freiräume von Art. 41 KVG, in:
Ausserkantonale Hospitalisation, Thomas Gächter [Hrsg.], 2006, S. 1-16, 8 f.).

3.4 Ob diese Kritik berechtigt ist, braucht vorliegend nicht geprüft zu werden.
Denn der zu beurteilende Fall ist - bedingt durch die kantonale Spitalplanung -
insofern speziell gelagert, als im Kanton Zürich nur gerade etwas mehr als 20 %
des Bedarfs an Infrastruktur für stationäre Rehabilitationsaufenthalte durch
innerkantonale Kliniken gedeckt werden kann (vgl. Schreiben der
Gesundheitsdirektion vom 30. August 2005) und mithin die Mehrheit der Zürcher
Versicherten auf ausserkantonale, auf der Zürcher Spitalliste aufgeführte
Rehabilitationskliniken, wie die von der Beschwerdegegnerin seit 1998 jährlich
aufgesuchte Klinik X.________, angewiesen ist (vgl. auch Bundesamt für
Statistik [BFS], Krankenhausstatistik 2005, Tabelle D1, wonach der Kanton
Zürich in Rehabilitationskliniken nur gerade über 144 Betten verfügt, was
gemessen an der ständigen Wohnbevölkerung von 1'272'590 [vgl. Bundesamt für
Statistik, Statistik des jährlichen Bevölkerungsstandes ESPOP 2005] auch im
interkantonalen Vergleich einem geringen Versorgungsgrad entspricht). Greift
der Kanton Zürich in seiner Spitalplanung für stationäre
Rehabilitationsaufenthalte der Wohnbevölkerung zu rund 80 % auf ausserkantonale
Kliniken zurück, kommt dies einem fehlenden Angebot innerkantonaler
Behandlungsmöglichkeiten derart nahe, dass es sich rechtfertigt, auch diese
geplante Auslagerung des Rehabilitationsbedarfs in ausserkantonale Kliniken als
medizinischen Grund im Sinne von Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG gelten zu lassen
(vgl. betr. Kapazitätsengpässe auch RKUV 2003 KV Nr. 254 S. 234, K 77/01 E. 5.1
und Urteil K 29/93 vom 4. August 1993: vgl. auch Eugster, Krankenversicherung,
in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, 2. Aufl.
2007, Rz. 965 S. 724 f.). Nur diese (weite) Interpretation der medizinischen
Gründe nach Art. 41 Abs. 2 lit. b KVG wird dem Grundgedanken des KVG, dass die
medizinisch indizierte Versorgung tarifgeschützt im Rahmen der
Grundversicherung erfolgen können soll, gerecht.

3.5 Ein Blick auf die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Bestimmung des Art.
41 Abs. 1bis KVG zeigt zudem, dass der Gesetzgeber im Rahmen der Änderung vom
21. Dezember 2007 noch weiter gegangen ist, indem er nunmehr vorsieht, dass die
versicherte Person für die stationäre Behandlung frei wählen kann unter den
Spitälern, die auf der Spitalliste ihres Wohnkantons oder jener des
Standortkantons aufgeführt sind (Listenspital; Satz 1), und dass der
Versicherer und der Wohnkanton bei stationärer Behandlung in einem Listenspital
die Vergütung anteilsmässig nach Art. 49a KVG höchstens nach dem Tarif
übernehmen, der in einem Listenspital des Wohnkantons für die betreffende
Behandlung gilt (Satz 2). Damit ist auch bei einer ausserkantonalen Behandlung
in einem Listenspital des Wohnkantons der volle Tarifschutz gewährleistet.

3.6 Sind nach dem Gesagten medizinische Gründe für den Aufenthalt in der Klinik
X.________ im Falle der Beschwerdegegnerin zu bejahen, hat die
Beschwerdeführerin die Kosten nach dem für dieses Spital geltenden Tarif
(Standorttarif) zu übernehmen, wie die Vorinstanz im Ergebnis zutreffend
erkannt hat.

4.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Als unterliegende Partei hat
die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Überdies hat sie der Beschwerdegegnerin eine Parteientschädigung auszurichten
(Art. 68 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 27. April 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Keel Baumann