Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 53/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_53/2008

Urteil vom 18. Februar 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Seiler,
Gerichtsschreiber Traub.

Parteien
P.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Frank Goecke,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 23. November 2007.

Sachverhalt:

A.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich stellte aufgrund eines - am 30. Dezember 2004
unter Hinweis auf eine motorische Behinderung und Gleichgewichtsstörungen
eingereichten - Gesuchs der 1969 geborenen P.________ um Ausrichtung von
Leistungen der Invalidenversicherung einen Invaliditätsgrad von 10 Prozent fest
und verneinte demgemäss den Anspruch auf eine Invalidenrente oder berufliche
Massnahmen (mit Einspracheentscheid vom 6. Februar 2007 bestätigte Verfügung
vom 17. März 2006).

B.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die gegen den
Einspracheentscheid erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 23. November 2007).

C.
P.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, es sei ihr, nach Aufhebung des vorinstanzlichen und des
Einspracheentscheides, eine ganze Invalidenrente zuzusprechen; eventuell sei
die Sache zur psychiatrischen Abklärung zurückzuweisen. Ausserdem ersucht sie
um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege.

D.
Auf entsprechende instruktionsrichterliche Anfrage hin geben der psychiatrische
Teilgutachter sowie der federführende Sachverständige des
Begutachtungsinstituts X.________ am 22. Oktober 2008 eine das
interdisziplinäre Gutachten vom 10. Januar 2006 ergänzende Einschätzung ab.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen und die IV-Stelle verzichten sowohl im
Rahmen des ersten Schriftenwechsels wie auch hinsichtlich des Ergebnisses der
bundesgerichtlichen Beweismassnahme auf eine Vernehmlassung. Die Versicherte
nimmt zur Ergänzung des Gutachtens Stellung.
Erwägungen:

1.
1.1 Zu prüfen ist aufgrund der Parteibegehren, ob der Entscheid der Vorinstanz,
es bestehe kein rentenbegründender Invaliditätsgrad, auf im Sinne der
Rechtsprechung vollständigen und beweistauglichen Grundlagen beruht (vgl. BGE
125 V 351 E. 3a S. 352).

1.2 Das kantonale Gericht hat die zur Beurteilung des Leistungsanspruchs
einschlägigen Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

1.3 Der Beurteilung von Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
(Art. 82 ff. BGG) liegt der Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Diesen kann das Bundesgericht von Amtes
wegen berichtigen oder ergänzen, wenn er offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG;
vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG; ohne Beschwerden gemäss Art. 97 Abs. 2 BGG und
Art. 105 Abs. 3 BGG). Zu den Rechtsverletzungen im Sinne von Art. 95 lit. a BGG
gehört auch die unvollständige Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen
(Urteil 9C_40/2007 vom 31. Juli 2007 E. 1; Ulrich Meyer, in: Niggli/Uebersax/
Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, 2008, Rz. 25,
36 und 59 zu Art. 105; Seiler/von Werdt/Güngerich, Kommentar zum
Bundesgerichtsgesetz, Bern 2007, Rz. 24 zu Art. 97) und die Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes als einer wesentlichen Verfahrensvorschrift (Meyer,
a.a.O., Rz. 60 zu Art. 105; Urteil 8C_364/2007 vom 19. November 2007 E. 3.3).

2.
2.1 Die Beschwerdeführerin rügt vor allem eine nicht rechtskonforme
Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG). Fraglich ist im
Wesentlichen, ob die Leistungsfähigkeit allein wegen einer Stand- und
Gangataxie (Störung der Bewegungskoordination und Gleichgewichtsregulation)
oder zusätzlich durch eine Panikstörung von Krankheitswert eingeschränkt ist.
Dem Funktionsausfall liegt nach Lage der Akten keine neurologische Ursache
zugrunde (vgl. etwa den Bericht der Klinik B.________ vom 8. Dezember 2004;
Gutachten des Begutachtungsinstituts X.________ vom 10. Januar 2006), sondern
ein psychisches Leiden (dissoziative Störung).

2.2 Das kantonale Gericht stellte für seinen Entscheid, wonach seit März 2004
von einer vollständigen Arbeitsfähigkeit in einer leichten Verweisungstätigkeit
auszugehen sei, massgebend auf das Gutachten des Begutachtungsinstituts
X.________ vom 10. Januar 2006 ab. In dieser interdisziplinären Expertise wird
in psychiatrischer Hinsicht eine dissoziative Bewegungsstörung (ICD-10 Ziff.
F44.4) "bei Status nach möglicher Panikstörung (ICD-10 Ziff. F41.0)"
ausgewiesen. Die primäre Panikstörung manifestiere sich nun in einer
dissoziativen Bewegungs- und Empfindungsstörung. Es sei anzunehmen, dass eine
starke Beeinträchtigung bestehe; die Störung sei dauerhaft und konsistent
vorhanden. Es könne der Versicherten nicht der Wille und die Anstrengung
zugemutet werden, diese vollständig zu überwinden. Die bisherige Arbeit einer
Postbotin sei daher, wie andere körperlich belastende Tätigkeiten, nicht mehr
zumutbar. Hingegen bestehe hinsichtlich einer leichten, am besten sitzend
auszuführenden Tätigkeit vollständige Arbeitsfähigkeit. Aus einer intensiven
psychotherapeutischen Behandlung könne sich eine Besserung ergeben. Allerdings
deute der prolongierte Verlauf auf eine eher ungünstige Prognose hin; es müsse
befürchtet werden, dass bereits eine Chronifizierung eingetreten sei.

3.
Eine nur bedingt realisierbare medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit kann
unter Umständen unbeachtlich sein, solange die nötigen Voraussetzungen für
deren erwerbliche Verwertung nicht erfüllt sind (Urteile 9C_720/2007 vom 28.
April 2008 E. 4.2 und I 2/06 vom 23. Mai 2006 E. 2.2).

3.1 Im Gutachten des Begutachtungsinstituts X.________ vom 10. Januar 2006
wird, namentlich gestützt auf die psychiatrische Teilbegutachtung, einerseits
ausgeführt, zur Verbesserung der Arbeitsfähigkeit sei eine intensive
psychotherapeutische Behandlung mit möglicherweise psychosomatischer
Ausrichtung angezeigt und zumutbar; mit den bisherigen Behandlungsansätzen
lasse sich die ansonsten mögliche Verbesserung des Gesundheitszustandes nicht
erreichen (Ziff. 4.2.6 und 6.7). Anderseits nehmen die Gutachter in Ziff. 4.2.5
zur Arbeitsfähigkeit wie folgt Stellung: "Es sollte ihr aber eine körperlich
einfache Tätigkeit möglich sein oder wenn sie sitzen könnte. Diesbezüglich wäre
von einer ganztägigen Arbeitsfähigkeit auszugehen. Diese Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit besteht schon seit März 2004 in diesem Ausmass". Insoweit
blieb die - für die Annahme oder den Ausschluss einer unüberwindbaren,
invalidisierenden psychischen Störung entscheidende - Frage offen, ob die
gutachtlichen Angaben zur Arbeitsfähigkeit das ohne weitere Voraussetzungen
seit je und durchgehend gegebene oder aber das erst nach zumutbarer
Durchführung der als notwendig bezeichneten therapeutischen Vorkehren zu
erwartende Leistungsvermögen widerspiegeln. Zufolge unvollständiger
Sachverhaltsfeststellung (oben E. 1.3) unterbreitete das Bundesgericht daher
die Frage dem Gutachterinstitut zur Stellungnahme (Art. 55 Abs. 1 und 2 BGG in
Verbindung mit Art. 49 BZP).

3.2 Mit Schreiben vom 22. Oktober 2008 führte das Begutachtungsinstitut
X.________ aus, anlässlich der Begutachtung sei eine adaptierte Tätigkeit der
diagnostizierten dissoziativen Störung zum Trotz als zumutbar eingestuft
worden. Bei der psychiatrischen Untersuchung seien keine Hinweise auf eine
depressive Störung gefunden worden. Der Umstand, dass die Explorandin in der
Lage gewesen sei, den Haushalt (mit Schwierigkeiten) zu führen, Kontakte zu
pflegen und die Wohnung (in Begleitung) zu verlassen, zeige, dass sie die
dissoziativen Symptome zumindest teilweise vermittels ihres Bewusstseins
steuern könne. Zum Zeitpunkt der psychiatrischen Untersuchung habe die
Versicherte wiederholt betont, nicht unter Ängsten zu leiden. Daher sei es ihr
zum damaligen Zeitpunkt durchaus zumutbar gewesen, einer beruflichen Tätigkeit
nachzugehen. Der Umstand, dass sie Mühe bekunde, ihre Wohnung alleine zu
verlassen, hänge auch mit einem erheblichen sekundären Krankheitsgewinn und
einer ausgesprochenen Regressionsneigung zusammen; dies begründe aber keine
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit. Abschliessend führten die Gutachter aus:
"Zusammenfassend halten wir also fest, dass auch ohne vorgängige therapeutische
Massnahmen der Explorandin eine Arbeitsfähigkeit in einer Tätigkeit, bei der
sie vorwiegend sitzen kann, zugemutet werden kann. Zur Behandlung der
dissoziativen Störung ist eine intensive, allenfalls stationäre psychiatrische
Therapie notwendig. Zum Zeitpunkt der Untersuchung waren aufgrund der
ausgeprägten subjektiven Krankheitsüberzeugung berufliche Massnahmen nicht
erfolgsversprechend durchzuführen. Nach erfolgreich durchgeführter Therapie
könnten, entsprechende Motivation vorausgesetzt, berufliche Massnahmen
durchgeführt werden."

4.
Diese ergänzenden Angaben lösen zum einen den offensichtlichen Widerspruch
nicht auf, wonach die "dauerhaft und konsistent", also chronisch und
ausgeprägt, vorhandene Störung einer "intensiven, allenfalls stationären"
psychiatrischen Therapie bedarf - welche in der indizierten Form aus nicht von
der Beschwerdeführerin zu vertretenden Gründen bisher nicht durchgeführt worden
ist - und ihr dennoch "ohne vorgängige therapeutische Massnahmen" eine seit
jeher und aktuell verwertbare Arbeitsfähigkeit attestiert wird. Zum andern
schliesst die eingeholte Stellungnahme auch mit Blick auf die weiteren Akten
eine invalidisierende Panikstörung nicht rechtsgenüglich aus, lassen es doch
die Gutachter sowohl in der Expertise vom 10. Januar 2006 wie auch im Schreiben
vom 22. Oktober 2008 - trotz ausdrücklicher Aufforderung durch das Gericht - an
einer einzelfallbezogenen substantiellen Auseinandersetzung mit den
diskrepanten Auffassungen diagnostischer Art (Dres. S.________ und A.________)
und hinsichtlich der Arbeitsunfähigkeit (Bericht der Psychiatrischen Poliklinik
Z.________ vom 28. Juli/2. August 2005) fehlen. Wenn auch divergente
Standpunkte behandelnder Ärzte als solche keinen Grund bilden, ein
Administrativgutachten in Frage zu stellen, macht die Rechtsprechung davon eine
Ausnahme, wenn sie objektiv feststellbare Gesichtspunkte vortragen, die einer
Auseinandersetzung bedürfen (vgl. etwa SVR 2008 IV Nr. 62 S. 203 E. 4.3 mit
Hinweisen, 9C_830/2007). Dieser Beweisanforderung genügt der angefochtene
Entscheid nicht (oben E. 1.3), weshalb ergänzende Abklärungen in Form einer
unabhängigen psychiatrischen Zweitexpertise unumgänglich sind.

5.
Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung zu erneuter Abklärung (mit noch
offenem Ausgang) gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten wie auch
der Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1
sowie Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG, unabhängig davon, ob sie überhaupt beantragt
oder ob das entsprechende Begehren im Haupt- oder im Eventualantrag gestellt
wird (BGE 132 V 215 E. 6.1 S. 235; Urteil 8C_671/2007 vom 13. Juni 2008 E.
4.1). Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten daher der
unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen. Der obsiegenden, anwaltlich
vertretenen Beschwerdeführerin steht eine Parteientschädigung zu. Das Gesuch
der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege ist damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 23. November 2007 und der
Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 6. Februar 2007 werden
aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle zurückgewiesen, damit sie, nach
erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch neu verfüge. Im
Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. Februar 2009
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Traub