Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 492/2008
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2008


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_492/2008

Urteil vom 6. März 2009
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiberin Helfenstein Franke.

Parteien
IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel,
Beschwerdeführerin,

gegen

J.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Advokat Dr. Beat E. Walther,

Personalvorsorgestiftung der X.________ AG,

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom
2. April 2008.

Sachverhalt:

A.
Der 1960 geborene J.________ war bei der Firma Y.________ AG als
Fassadenisoleur tätig, als er am 22. September 1999 von einem Baugerüst
stürzte. Die SUVA sprach ihm mit Verfügung vom 9. Oktober 2001 eine
Invalidenrente der Unfallversicherung gestützt auf einen Invaliditätsgrad von
30 % zu. Am 5. September 2000 meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Nach Abklärung der gesundheitlichen und erwerblichen
Verhältnisse lehnte die IV-Stelle Basel-Stadt mit Verfügung vom 23. Juni 2003
den Anspruch auf eine Invalidenrente ab und hielt mit Einspracheentscheid vom
11. Dezember 2003 daran fest. Eine dagegen von J.________ erhobene Beschwerde
hiess das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt mit Entscheid vom 23. August
2004 gut und wies die Sache zur Durchführung einer interdisziplinären
Begutachtung an die IV-Stelle zurück. Nach Einholung eines Gutachtens des
Ärztlichen Begutachtungsinstituts GmbH (ABI) vom 28. Oktober 2005 lehnte die
IV-Stelle den Anspruch auf eine Invalidenrente am 9. Februar 2006
verfügungsweise erneut ab und hielt mit Einspracheentscheid vom 22. Mai 2007
daran fest.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht
Basel-Stadt mit Entscheid vom 2. April 2008 teilweise gut, verpflichtete die
IV-Stelle zur Ausrichtung einer Viertelsrente und wies die Sache zur Prüfung
und Festlegung des Rentenbeginns an die IV-Stelle zurück.

C.
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides.

J.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen und eventualiter um
unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung ersuchen. Die beigeladene
Basler Versicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen (BSV) beantragt Abweisung (recte Gutheissung) der
Beschwerde und Aufhebung des angefochtenen Entscheids.
Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann nach Art. 95
lit. a BGG die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden. Das Bundesgericht legt
seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat
(Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von
Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG).

2.
Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Rente der
Invalidenversicherung hat. Dabei steht einzig in erwerblicher Hinsicht in
Frage, ob im Rahmen des Einkommensvergleichs bei dem nach den Tabellenlöhnen
gemäss LSE 2000 bestimmten Invalideneinkommen ein Abzug vorzunehmen ist.

2.1 Die Vorinstanz erwog dazu, Dr. med. F.________ sei im Gutachten vom 15.
Juli 2002 grundsätzlich von einer vollen Arbeitsfähigkeit ausgegangen. Im
Einspracheentscheid vom 1. Dezember 2003, der sich unter anderem auf Dr. med.
F.________ abgestützt habe und dann vom Gericht aufgehoben worden sei, sei ein
Leidensabzug von 20 % in Erwägung gezogen worden. Dr. med. G.________, der das
psychiatrische Teilgutachten des ABI erstellt habe, rede nunmehr von einer
Verschlechterung des Zustandes gegenüber 2002, was zu der erwähnten
Leistungseinschränkung von 20 % führe. Wenn die IV-Stelle dem Beschwerdeführer
nun statt eines 20%igen Leidensabzuges eine Leistungseinschränkung von 20 %
zubillige, sei der festgestellten Verschlechterung nicht Rechnung getragen
worden. Das errechnete Invalideneinkommen sei darum leidensbedingt um 20 % zu
vermindern, was zu einem Betrag von Fr. 35'610.- und verglichen mit dem
Valideneinkommen von Fr. 61'152.- zu einem Invaliditätsgrad von 41.8 % führe.

2.2 Dagegen wendet die beschwerdeführende IV-Stelle ein, es bestehe kein Anlass
für die Vornahme eines Abzuges. Dem Versicherten seien immer noch selbst
mittelschwere Tätigkeiten intermittierend zumutbar. Die Reduktion der
Leistungsfähigkeit um 20 % berücksichtige ausdrücklich die Einschränkung aus
psychiatrischer Sicht. Alter (Jahrgang 1960), Nationalität und
Aufenthaltskategorie (Niederlassungsbewilligung) sowie Dauer der
Betriebszugehörigkeit rechtfertigten keinen Abzug. Es liege lediglich eine
reduzierte Leistungsfähigkeit vor, d.h. dass der Versicherte ein Vollzeitpensum
mit entsprechend reduzierter Leistung wahrnehmen könne. Die Vorinstanz habe
sich mit diesen bereits in der Verfügung vom 9. Februar 2006 angestellten
Erwägungen nicht auseinandergesetzt und stattdessen in willkürlicher Weise
einen - weit übersetzten - Abzug von 20 % vorgenommen.

3.
3.1 Praxisgemäss ist durch einen entsprechenden Abzug vom Tabellenlohn der
Tatsache Rechnung zu tragen, dass persönliche und berufliche Merkmale, wie Art
und Ausmass der leidensbedingten Einschränkung, Lebensalter, Dienstjahre,
Nationalität oder Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad Auswirkungen auf
die Höhe des Lohnes der versicherten Person haben können (BGE 124 V 321 E. 3b/
aa S. 323). Die Frage, ob eine (behinderungsbedingt oder anderweitig
begründete) Kürzung statistisch ermittelter Lohnansätze nach Massgabe der
Grundsätze von BGE 126 V 75 vorzunehmen sei, ist rechtlicher Natur (BGE 132 V
393 E. 3.3 S. 399), folglich vom Bundesgericht frei zu prüfen. Sie ist zu
bejahen, wenn im Einzelfall Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die versicherte
Person wegen eines oder mehrerer dieser Merkmale ihre gesundheitlich bedingte
(Rest-)Arbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur mit
unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann (Urteile 8C_778/2007
vom 29. Mai 2008 E. 5.2.1 und 9C_382/2007 vom 13. November 2007, E. 4.1 und 4.2
mit Hinweisen).

Der Abzug ist unter Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem
Ermessen gesamthaft zu schätzen. Er kann maximal 25 % betragen (BGE 126 V 75 E.
5b/aa-cc S. 79 ff.; Urteile 8C_778/2007 vom 29. Mai 2008 E. 5.2.2 und 9C_603/
2007 vom 8. Januar 2008, E. 4.2.3, mit Hinweis). Das Ausmass eines solchen
Abzugs betrifft daher eine Frage des Ermessens, das als solches nicht zu
überprüfen ist (Art. 95 und 97 BGG), sondern von der bundesgerichtlichen
Kognition einzig im Hinblick auf rechtsfehlerhafte Ermessensüberschreitung,
-unterschreitung oder -missbrauch erfasst wird (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399;
Urteil 9C_382/2007 vom 13. November 2007, E. 4.1). Ermessensmissbrauch ist
gegeben, wenn die Behörde zwar im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens bleibt,
sich aber von unsachlichen, dem Zweck der massgebenden Vorschriften fremden
Erwägungen leiten lässt oder allgemeine Rechtsprinzipien, wie das Verbot von
Willkür und von rechtsungleicher Behandlung, das Gebot von Treu und Glauben
sowie den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verletzt (BGE 123 V 150 E. 2 S.
152 mit Hinweisen).

3.2 Gemäss Gesamtbeurteilung im Gutachten des ABI vom 28. Oktober 2005 besteht
aus rheumatologischer Sicht eine normale Arbeitsfähigkeit. Dabei wurde im
rheumatologischen Teilgutachten bemerkt, die Einhaltung einer fixierten
Körperposition (längeres Stehen oder Sitzen am Ort) sollte vermieden werden,
ebenso die Durchführung von stereotypen fliessbandähnlichen Arbeiten oder die
Notwendigkeit von repetitivem Bücken und Tragen von schweren Lasten; ideal
seien wechselbelastende Tätigkeiten, wo der Versicherte seine Arbeitsposition
selbstständig ändern könne, ohne relevanten Zeitdruck, auch seien in Bezug auf
die subjektive Kraftminderung des rechten Armes repetitive stark belastende
Tätigkeiten [mit] dem rechten Arm insbesondere über der Horizontale zu
vermeiden. Aus psychiatrischer Sicht bestehe eine Einschränkung der
Leistungsfähigkeit von 20 %, die auf die leichte depressive Episode und die
anhaltende somatoforme Schmerzstörung zurückzuführen sei. Aus internistischer
Sicht bestehe auf Grund des insulinpflichtigen Diabetes keine zumutbare
Arbeitsfähigkeit für körperlich schwerbelastende berufliche Tätigkeiten. Auch
sollten Tätigkeiten mit Sturzgefahr, wie z.B. die zuletzt ausgeübte Tätigkeit
als Fassadenisolationsmonteur sowie das Betätigen von Maschinen mit
Verletzungsgefahr vermieden werden. Insgesamt seien dem Versicherten körperlich
leichte bis intermittierend mittelschwere, wechselbelastende berufliche
Tätigkeiten unter den genannten Einschränkungen ganztägig zumutbar mit einer
Leistungseinbusse von maximal 20 %.

Wenn die Vorinstanz im Gegensatz zur IV-Stelle zur Auffassung gelangt ist, ein
leidensbedingter Abzug sei grundsätzlich vorzunehmen, lässt sich das bei dieser
Aktenlage nicht beanstanden. Zwar fallen weder das Alter des 1960 geborenen
Versicherten noch sein Ausländerstatus (Niederlassungsbewilligung) in diesem
Zusammenhang ins Gewicht (vgl. ebenso Urteil 8C_778/2007 E. 5.2.3). Jedoch sind
die Voraussetzungen für die Vornahme eines Abzuges - entgegen der Auffassung
der IV-Stelle - insofern grundsätzlich erfüllt, als beim Versicherten auch im
Rahmen der Restleistungsfähigkeit aus rheumatologischer Sicht wie auch auf
Grund des Diabetes zusätzliche besonderen Anforderungen an die Tätigkeit
bestehen und sich der Versicherte infolge seiner Beschwerden im Vergleich zu
voll leistungsfähigen Arbeitnehmern bei gleichem Arbeitspensum möglicherweise
mit einem geringeren Lohn begnügen müssen wird (vgl. Urteil des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts I 64/03 vom 18. November 2003, E. 5.2.2; vgl. auch Urteil
des Bundesgerichts 9C_603/2007 vom 8. Januar 2008, E. 4.2.3).

3.3 Hingegen hat die Vorinstanz bei der Festsetzung der Höhe des Abzuges das
ihr zustehende Ermessen (vgl. E. 3.1 hievor) insofern rechtsfehlerhaft
ausgeübt, als sie den Abzug von 20 % allein damit begründet hat, dass ansonsten
der von Dr. med. G.________ festgestellten Verschlechterung nicht Rechnung
getragen werde. Abgesehen davon, dass der psychiatrische Gutachter ohnehin nur
eine geringfügige Verschlechterung festgestellt hat, geht es nicht an, einen
Abzug ohne nähere Begründung mit Bezug auf die massgebenden Kriterien (BGE 126
V 75 E. 5b/aa-cc S. 80) vorzunehmen. Art und Ausmass der leidensbedingten
Einschränkungen vermögen bei diesem 1960 geborenen Versicherten, der mit einer
Leistungseinschränkung von maximal 20 % noch vollzeitlich tätig sein kann,
zudem über einen - wenn auch ausländischen - Berufsabschluss mit
Zusatzausbildung verfügt und schliesslich auch noch mittelschwere Tätigkeiten
zu verrichten vermag, einen Abzug von 20 % klarerweise nicht zu begründen. Ein
Abzug von höchstens 10 % (vgl. Urteile 8C_5/2008 vom 29. Januar 2008 E.3.3.3
und I 402/06 vom 11. Juni 2007 E. 4.5) ergibt ein Invalideneinkommen von Fr.
40'060.- und damit im Vergleich zum Valideneinkommen von Fr. 61'152.- einen
Invaliditätsgrad von 34.5 %. Somit besteht kein Anspruch auf eine
Invalidenrente.

4.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 und Abs. 4 lit. a BGG). Die
Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdegegner auferlegt (Art Abs. 1
BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne der vorläufigen
Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen Verbeiständung) kann
entsprochen werden, da die Bedürftigkeit ausgewiesen, die Aussichtslosigkeit in
dieser Verfahrenslage nicht zu prüfen ist und die anwaltliche Vertretung
geboten war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202 und 371 E. 5b
S. 372). Es wird indessen auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die
begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie
später dazu in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom 2. April 2008 aufgehoben.

2.
Dem Beschwerdegegner wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt und
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Advokat Beat Walther,
Binningen, für das Verfahren vor dem Bundesgericht aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 6. März 2009

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Helfenstein Franke