Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 433/2008
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_433/2008

Urteil vom 29. August 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Parteien
L.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Eduard M. Barcikowski,
Hegibachstrasse 22, Postfach 1969, 8032 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 4. April 2008.

Sachverhalt:

A.
Für die wirtschaftlichen Folgen eines Schleudertraumas der Halswirbelsäule, das
sie am 4. August 1990 bei einem Auffahrunfall erlitten hatte, erhielt
L.________ gemäss Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 24. Mai 1995
rückwirkend ab 1. März 1994 bei einem Invaliditätsgrad von 100 % eine ganze
Invalidenrente zugesprochen. Später folgten die Zusatzrente für den Ehegatten
und eine Kinderrente. Diese Rentenzusprechungen blieben unangefochten und
wurden im Rahmen von Revisionen wiederholt bestätigt. Ab 1. Mai 1996 bezog
L.________ überdies eine Komplementärrente der Zürich
Versicherungs-Gesellschaft, bei welcher sie zum Zeitpunkt der Auffahrkollision
gegen Unfälle versichert gewesen war.

Nachdem die Motorfahrzeughaftpflichtversicherung L.________ hatte observieren
lassen, erstattete sie am 16. März 2000 Strafanzeige wegen Betrugs. Mit Urteil
vom 30. März 2006 wurde die Versicherte vom Bezirksgericht des Betruges
schuldig gesprochen und zu einer bedingten Gefängnisstrafe von 18 Monaten
verurteilt.

Aufgrund der Verurteilung hob die IV-Stelle die ursprünglich zugesprochene
ganze Invalidenrente mit Verfügung vom 6. April 2006 wiedererwägungsweise auf
und stellte die Ausrichtung der laufenden Rente mit sofortiger Wirkung ein. Mit
einer weiteren Verfügung vom 26. April 2006 forderte die IV-Stelle zu Unrecht
ausgerichtete Leistungen in der Höhe von Fr. 350'230.- zurück.

Die gegen die beiden Verfügungen erhobenen Einsprachen wies die IV-Stelle mit
Entscheid vom 18. August 2006 ab. Mit einer separaten Verfügung (vom 19.
September 2006) lehnte die IV-Stelle zudem das Gesuch von L.________ um
unentgeltliche Verbeiständung im Verwaltungsverfahren ab, weil sie das
eingeleitete Einspracheverfahren als aussichtslos qualifizierte.

B.
L.________ liess gegen den Einspracheentscheid und die Verfügung betreffend
Ablehnung der unentgeltlichen Verbeiständung Beschwerde führen. Das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich vereinigte die beiden Verfahren.
Es sistierte den Prozess, bis das Strafurteil mit Ausfällung des Urteils des
Bundesgerichts in der Strafsache vom 11. Oktober 2007 rechtskräftig geworden
war. Mit Entscheid vom 4. April 2008 wies das Sozialversicherungsgericht die
Beschwerden und auch das von der Versicherten gestellte Gesuch um
unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt L.________
beantragen, der vorinstanzliche Entscheid sei insoweit aufzuheben, als ihr die
unentgeltliche Rechtspflege verweigert wurde, und es sei ihr für das vereinigte
Beschwerdeverfahren vor dem Sozialversicherungsgericht die unentgeltliche
Prozessführung und Verbeiständung zu gewähren. Sodann sei ihr die
unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung auch für das
Einspracheverfahren zu gewähren. Ferner ersucht sie um die Bewilligung der
unentgeltlichen Rechtspflege für das Verfahren vor dem Bundesgericht.

Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu
Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Streitig und zu prüfen ist zunächst, ob die Vorinstanz den Anspruch der
Versicherten auf unentgeltliche Verbeiständung im Verwaltungsverfahren zu Recht
verneint hat.

2.1 Nach dem für das sozialversicherungsrechtliche Verwaltungsverfahren
massgebenden Art. 37 Abs. 4 ATSG wird der Gesuch stellenden Person ein
unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt, wo die Verhältnisse es erfordern. Der
Gesetzgeber hat die vom Eidgenössischen Versicherungsgericht entwickelte
Praxis, wonach im Verwaltungsverfahren an die Voraussetzung der sachlichen
Notwendigkeit einer Verbeiständung ein strengerer Massstab anzulegen ist als im
kantonalen Gerichtsprozess, übernommen und dadurch zum Ausdruck gebracht, dass
im Verwaltungsverfahren der Gesuch stellenden Person ein unentgeltlicher
Rechtsbeistand bewilligt wird, wo die Verhältnisse es erfordern (Art. 37 Abs. 4
ATSG), im kantonalen Prozess, wo die Verhältnisse es rechtfertigen (Art. 61
lit. f Satz 2 ATSG; Urteil I 812/05 des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
vom 24. Januar 2006). Die unentgeltliche Verbeiständung wird praxisgemäss
gewährt, wenn der Standpunkt der versicherten Person nicht aussichtslos, diese
bedürftig und die anwaltliche Verbeiständung notwendig oder doch geboten ist
(BGE 125 V 32 E. 2 S. 34).

2.2 Die Vorinstanz gelangte zum Schluss, die Einsprachen der Versicherten gegen
die Verfügungen vom 6. April 2006 betreffend Renteneinstellung und vom 26.
April 2006 betreffend Rückforderung seien als aussichtslos zu betrachten,
weshalb die unentgeltliche Verbeiständung entfalle. Im Urteil des
Bezirksgerichts vom 30. März 2006 sei dargelegt, weshalb die Simulation der
Beschwerden als erstellt zu gelten hat. Bei einer sachlichen Betrachtung habe
die Beschwerdeführerin zum Schluss gelangen müssen, dass ihr Standpunkt
aussichtslos ist.

Die Beschwerdeführerin wendet ein, dass das Bundesgericht im Strafverfahren die
unentgeltliche Verbeiständung gewährt habe; dies spreche gegen die
Aussichtslosigkeit der von ihr vertretenen Auffassung. Ebenso habe die Zürich
Versicherungsgesellschaft im Einspracheentscheid vom 26. Februar 2008 die
unentgeltliche Verbeiständung bewilligt.

2.3 Zur Beurteilung der Aussichtslosigkeit ist auf den Zeitpunkt abzustellen,
in welchem die Prozesshandlung erfolgt, hier also auf den Zeitpunkt, als die
Versicherte ihre Einsprache einreichte (19. Mai 2006). Damals lag erst das
Strafurteil des Bezirksgerichts vom 30. März 2006 vor. Zwar trifft es zu, dass
damit die wesentlichen Fakten bekannt waren; indessen lag zu diesem Zeitpunkt
kein rechtskräftiges Strafurteil vor. Das Bundesgericht wies dann wohl
letztinstanzlich mit Urteil vom 11. Oktober 2007 die Beschwerde der
Versicherten gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Zürich vom 10.
April 2007, im Wesentlichen lautend auf eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren
wegen Betrugs, ab, hiess das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege hingegen
gut. Nachdem das Bundesgericht im Strafprozess nicht auf Aussichtslosigkeit
geschlossen hat, ansonsten es von der Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege abgesehen hätte, ist die nämliche Betrachtungsweise auch für das
Verwaltungsverfahren der Invalidenversicherung geboten. Denn wenn die
strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts zum Schluss gelangt, der von der
Versicherten eingenommene Rechtsstandpunkt sei nicht aussichtslos, und das
kantonale Sozialversicherungsgericht rechtsprechungsgemäss (BGE 125 V 237 E. 6a
S. 242) auf die strafrechtliche Beurteilung dreier Instanzen abgestellt hat,
hätte es auch mit Bezug auf die unentgeltliche Verbeiständung dem
bundesgerichtlichen Urteil vom 11. Oktober 2007 folgen und die Beschwerde in
diesem Punkt gutheissen müssen.

3.
Zu prüfen bleibt der Anspruch der Versicherten auf unentgeltliche
Prozessführung und Verbeiständung im kantonalen Beschwerdeverfahren.

3.1 Nach Art. 61 lit. f ATSG muss das Recht, sich verbeiständen zu lassen,
gewährleistet sein. Wo die Verhältnisse es rechtfertigen, wird der Beschwerde
führenden Person ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt. Die
Voraussetzungen für die Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung und
Verbeiständung sind praxisgemäss erfüllt, wenn der Prozess nicht aussichtslos,
die Partei bedürftig und die anwaltliche Verbeiständung notwendig oder doch
geboten ist (BGE 103 V 46 E. II/1b S. 47).

3.2 Die vorstehenden Erwägungen (E. 2.3 hievor) zum Anspruch auf unentgeltliche
Verbeiständung im Verwaltungsverfahren gelten erst recht für den Prozess vor
dem Sozialversicherungsgericht. Gestützt auf das Urteil der strafrechtlichen
Abteilung des Bundesgerichts, die, wie erwähnt, die Aussichtslosigkeit des
Rechtsstandpunktes der Versicherten verneint hat, hätte die Vorinstanz, die
vollumfänglich auf die Beweiswürdigung und Beurteilung der strafrechtlichen
Instanzen abgestellt hat, für das kantonale Verfahren ebenfalls die
unentgeltliche Rechtspflege gewähren müssen.

4.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG), welche der Beschwerdeführerin
überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen hat (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Beschwerde werden der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 4. April 2008, soweit er den
Anspruch der Beschwerdeführerin auf unentgeltliche Rechtspflege im
Verwaltungsverfahren und im kantonalen Beschwerdeverfahren zum Gegenstand hat,
sowie die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 19. September 2006
aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin Anspruch auf
unentgeltliche Rechtspflege im Verwaltungsverfahren und im kantonalen
Beschwerdeverfahren hat. Die Sache wird an das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich zurückgewiesen, damit es die Entschädigung des unentgeltlichen
Rechtsvertreters für die beiden Verfahren festsetze.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle des Kantons Zürich
auferlegt.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich hat die Beschwerdeführerin für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2000.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 29. August 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Widmer